11.03.2022 - Geschichte, Erinnerungskultur, Gesellschaft , Kultur

„Ich bin ein Niemand“. Der Oberschlesier Pokora auf der Suche nach Würde

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Wie üblich spielt auch die Handlung von „Pokora“ (Krakau 2020, Deutsch „Demut“ 2022), des neusten Buches von Szczepan Twardoch, in Oberschlesien und hat einen Oberschlesier zur Protagonisten. Nomen est omen – Pokora bedeutet im Polnischen Demut. Und Twardoch zeigt seinen Alois Pokora zwischen dem Gefühl, ein Niemand zu sein und dem Bestreben nach Aufstieg im wilhelminischen Deutschland. Die ganze Provinz Oberschlesien erfasste nach der Reichsgründung 1871 eine beispiellose wirtschaftliche Entwicklung, die mit einem planmäßigen Ausbau industrieller Anlangen, städtebaulicher Siedlungsprojekte und sozialer Einrichtungen die gesamte Industrieagglomeration von Gleiwitz im Westen bis nach Myslowitz im Osten erfasste. Die Menschen, die diese Entwicklung in der entlegenen Provinz steuerten, kamen meistens aus dem Reichsinneren – Ingenieure, Bankiers, Beamte, Lehrer. Aber auch die angestammte wasserpolnischsprachige Bevölkerung bekam ihre Chance zum sozialen Aufstieg, vorausgesetzt sie spielte das Spiel der Modernisierung mit: Beherrschung der deutschen Sprache, Loyalität gegenüber den Herrschenden, Beibehaltung sozialer und sittlicher Normen, aber auch Ehrgeiz, Zielstrebigkeit, Zuverlässigkeit. Viele „Hiesigen“ waren bereit, ihre Dörfer gegen moderne Städte und 8-Stunden-Jobs in Kohlegruben, Stahlwerken, Zinkhütten und Elektrizitätswerken, schließlich auch Büros einzutauschen. In zweiter und dritter Generation kamen Oberschlesier im Mittelstand nicht selten vor. Aber der Weg dahin war oft steinig.

Alois Pokora war ein Glückskind. Ein Pfarrer aus dem Nachbardorf, der selbst aus dem niederen oberschlesischen Volk kam, erklärte sich bereit, ihn aus seiner 10-köpfigen Familie herauszunehmen und aufs Gymnasium zu schicken. Dazu war ein nahezu perfektes Deutsch nötig und ein ungebrochener Wille. Deutsch perfekt zu beherrschen, gelang Pokora schließlich gut (wenn auch nicht ohne Mühe), mit dem Willen war das so eine Sache. In einer Bergmannsfamilie groß geworden, fehlte Alois der „Karriereinstinkt“ der modernen Zeiten. Seit dem ersten Tag im katholischen Konvikt in Gleiwitz, in dem er der Gewalt älterer und stärkerer Mitschüler ausgeliefert war, zweifelt Alois an sich und seinem „Weg“. Noch spürbarer ist der Hohn der anderen, wenn sie erfahren, dass Alois Unterrichtsgebühren erlassen wurden und er weder mit dem Vermögen noch mit der sozialen Position des Vaters auftrumpfen kann. Auch die schützende Hand eines privilegierten Mitschülers Smilo von Kattwitz hat etwas Gönnerhaftes, was Alois schnell an sich zweifeln lässt. Alois: „Ich bin wie eine Brennnessel, die weggeworfen wurde, damit sie Platz für nützlichere Pflanzen macht“.

„Ich bin ein Niemand“, sagt er über sich, auch wenn er sein Abitur ordentlich macht und danach in Breslau Philosophie studiert. Seinen sozialen und wissenschaftlichen Erfolg hält er für einen Aberwitz, der von ihm jederzeit zurückgefordert werden kann, sein Werdegang gibt ihm kein Selbstwertgefühl, ganz im Gegenteil, seine Herkunft zieht ihn immer wieder herunter, sich selbst als Uniabsolventen und angehenden Offizier zu sehen, erscheint ihm anmaßend. Nur in einer Situation sieht er sich als Subjekt, als Herr seiner selbst. Nach dem es ihm gelang, verletzt, aber am Ende doch heil aus den Gräben des Ersten Weltkriegs zurückzukommen, gerät er eher zufällig im revolutionären Berlin 1918 in Gesellschaft der Spartakus-Aufständischen. „Nieder mit dem Kaiser!“ heißt die Parole, später „nieder mit dem Knechtschaft-System des Kapitalismus“. Alois, mit einem Mauser-Gewehr in der Hand, dient der Revolution und erkennt, dass sie nach der Gleichheit aller Geknechteten strebt. Aber nicht lange. Liegt da sein Problem? In der ökonomischen Befreiung der Arbeiterschaft? Sicherlich nicht. Sein Problem ist vielschichtiger und psychologischer Natur. Twardoch beleuchtet die (damalige?) Männerwelt mit akribischem psychologischem Kenntnisreichtum. Nicht die äußeren Umstände spielen hier eine entscheidende Rolle, nicht die Frage, ob Pokora ein Deutscher oder ein Pole ist, ein Kommunist oder ein Nationalist, der Sohn seines Vaters Anton oder des Pfarrers Scholtis. Denn all diese Kategorien prallen auf ihn durch die aktuellen Geschehnisse, aber prallen auch letztlich an ihm ab. Pokora kann Pole und gleichzeitig Deutscher sein, vergibt seine Loyalität an die Spartakus-Kämpfer und an die Systemtreuen, er hasst seinen Vater, von dem er keine Liebe erfahren hat, aber „können Zugtiere Liebe zeigen“, fragt er den Vater entschuldigend. Nur für die Feigheit des Pfarrers – seines leiblichen Vaters - findet er keine Entschuldigung.

Alois ist ein Mensch, der keine Liebe kennt. Als Kind hat er keine Elternliebe erfahren, als Jugendlicher lernte er Agnes kennen, die er sein Leben lang anbeten sollte, die er idealisierte und für die – wie es ihm schien – er lebte. Der Roman – in Form eines mit Ich-Erzähler ausgestatteten Protagonisten – ist eine Art Brief, Bericht, Lebensbeichte, die Alois der unerreichten Agnes erweist. Auch in der „Liebe“ ist er unterwürfig, selbstzweifelnd und von Anfang an auf verlorenem Posten, geduldig erlebt er immer wieder Erniedrigungen seitens der Auserwählten, die keine Mühe scheut, Alois in die Schranken zu weisen. Seine Würde spürt er dann, als er die Liebe des Homosexuellen Smilo ablehnt, wenn er Nein sagen kann und für kurze Zeit seinen Weg gehen kann. Aber Alois ist feige und bleibt inkonsequent, schöpft nicht aus seinen Erfolgen, lernt nicht aus seinen Fehlern. Ist das, worum es Twardoch bei der Beurteilung des heutigen „Mannes in der Krise“ geht?

Der Roman zeigt die Suche des heutigen Mannes nach Würde und Erfüllung. Eine Zeitlang denkt Alois, sie in der bürgerlichen Familienexistenz gefunden zu haben, nachdem er geheiratet hatte und Vater geworden ist. Aber auch sein privates Glück erweist sich als Trugschluss, denn „es hatte den Anschein, dass alles schon für immer festgelegt war“. Und so lässt er willentlich zu, seine Frau und Kind trotz Warnung aufs Spiel zu setzen. Wie kann es anders sein – auch das verliert er. Alois stirbt allein, verstoßen von der Familie, von der Frau verlassen, zwischen deutschen Freikorps-Soldaten und polnischen Aufständischen zerrieben. Wo bleibt die Hoffnung auf ein erfülltes Leben, auf Würde und Glück? Twardoch gibt sie uns Männern jedenfalls nicht.

Szczepan Twardoch: Demut. Aus dem Polnischen von Olaf Kühl, Rowohlt Berlin, Erschienen im Februar 2022