Band Nr. 6
Michał Głowiński: Mythen in Verkleidung
Dionysos. Narziß. Prometheus. Marchołt. Labyrinth
Inhalt
Welche Bedeutung haben zentrale Mythen des europäischen Abendlands für die neuzeitliche Kultur Mitteleuropas? Wie entwickelten sie sich unter den Bedingungen politischer Freiheit und zivilgesellschaftlicher Entfaltung (im Westen des Kontinents) und in einer Atmosphäre politischer wie sozialer Bedrückung (in seinem Osten)? Der in vielen Sprachen beheimatete Michał Głowiński spürt in seinem ideensprühenden Buch ausgewählten Mythen in den Literaturen des Westens wie auch Polens nach und arbeitet ihre Funktionen in sich wandelnden kulturellen Umfeldern heraus. Dabei wird die Fülle unterschiedlicher Verkleidungen deutlich, in denen die Mythen seit der Antike immer wieder zum Vorschein kamen, in denen sie den Menschen immer wieder Neues zu sagen hatten: Prometheus zeigt sich als Rebell romantischer Poeme, Dionysos als Held der Modernisten, Narziß als Symbol der Psychoanalyse.
»Dionysos, Narziß, Prometheus... Kann man über diese bekannten Gestalten aus der griechischen Mythologie heute noch etwas neues sagen? Ja, denn immer wieder kehren sie hartnäckig zurück. Sie kehren zurück, so Michał Głowiński, ›um neuerlich Besitz von unserem Verstand zu ergreifen‹, um erneut universelle Situationen des Menschen auszudrücken.«
(Edward Balcerzan in: Gazeta Wyborcza)
Michał Głowiński (geb. 1934) arbeitet am Institut für Literarische Forschungen der Polnischen Akademie der Wissenschaften. Er ist einer der führenden Literaturwissenschaftler Polens. Auf deutsch ist erschienen: Eine Madeleine aus Schwarzbrot (2003).
Inhaltsverzeichnis
Die Maske des Dionysos
1. Mythos und kulturelle Gleichungen
2. Im Umkreis Nietzsches
3. Allegro barbaro
4. Historiosophische Metapher
5. Der Dichter und die Agora
6. Dionysos statt Tyrtaios
7. Epilepsie
Narziß und seine Spiegelbilder
1. Eine »über Jahrhunderte gehende Erzählung«
2. Der symbolische Narziß
3. Der bescheidene polnische Narziß
4. Ein merkwürdiges Abenteuer
Der lächerliche Prometheus
1. Ein vieldeutiger Held
2. Auf den Boulevards von Paris
3. Der unprometheische Prometheus
Porträt des Marchołt
1. Überlegen in der Unterlegenheit
2. Der große Disput
3. Der rituelle Narr
4. Marchołt auf dem Thron
Das Labyrinth, ein Raum der Freiheit
1. Ein Labyrinth, aus Worten gebaut
2. Verschiedene Geschlossenheiten, verschiedene Offenheiten
3. Auf den Mythos aufgespannte Romane
4. Die Stadt
5. Das Gefängnis
6. Das Labyrinth von Babel
7. Innere Labyrinthe
8. Labyrinthisches Erzählen
9. Die klaustrophobische Weltsicht
Anhang:
Richard III. und Prometheus
(Zu Stanisław Ignacy Witkiewiczs Drama Nowe Wyzwolenie)
Editorische Notiz
Zum Autor und seinem Werk
Personenverzeichnis
Rezensionen
"In seinen Essays fragt Michał Głowiński, wie in der europäischen Literatur der Neuzeit die Erzählungen von Dionysos, Narziss, Prometheus und Minotaurus interpretiert wurden, um die Gegenwart zu deuten. Denn die antiken Mythen bergen für Głowiński keine überzeitlichen Wahrheiten, sie unterliegen Konjunkturen."
[Andreas Mix] in: Berliner Zeitung vom 21. November 2005
"Eine Stoffgeschichte hat Głowiński nicht verfaßt. Elegant und souverän führt er durch die Literaturgeschichte. Keinen Moment bei der Lektüre ist Głowińskis Schreibsituation außer Acht zu lassen, die Parteizensur. Aber er demonstriert, wie leichthändig von mächtig anmutenden Dingen gesprochen werden kann, auf daß auch die Allgemeinheit von Erkenntnissen kluger Textlektüre zu lernen vermag."
Alexander Kluy, in: Die Welt, 11. Februar 2006
"(...) der erste wissenschaftliche Glowinski, der jetzt auf Deutsch erschienen ist, ist für ein weiteres Publikum interessant. Der gesellschaftliche Hintergrund schwingt in jedem der einzelnen Essays aus verschiedenen Jahrzehnten mit. Alle handeln von Verwandlungen von Mythen.
Der vielleicht interessanteste Aufsatz ist dabei jener zur unbekanntesten der untersuchten „Urerzählungen“: die über Marcholt, jenen hässlichen Narren, der König Salomo im Alten Testament einen schlagfertigen Wortzweikampf liefert. In diesem 1974 geschriebenen Aufsatz zeichnet Glowinski als wichtigste Verwandlung des Marcholt jenen Moment nach, in dem der Narr zum Herren wird. Der aufrührerische Mann aus dem Volk wechselt, einmal an der Macht, sofort die Seite. Er wird zum zynischen Herrscher, gerade weil er die Mechanismen der Unterdrückung am eigenen Leib erfahren hat. Im Westen aufgegriffen, hätte dieser Mythos systemkonform gewirkt. Auf ehemalige Volksrevolutionäre angewandt, entwickelt er einige Sprengkraft."
Hans-Peter Kunisch, in: Süddeutsche Zeitung vom 4. April 2006