5. Abteilung: Panorama. Ein Rundblick von Karl Dedecius
Panorama der polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts
Rezensionen
Der letzte Band des 7-bändigen "Panoramas ..." ist ein höchst interessanter, sorgfältig konzipierter und anregend zu lesender Überblick über die polische Literatur des vergangenen Jahrhunderts - angefangen vom Modernismus (das "Junge Polen") bis hin zur jüngsten Generation, die nach der "Wende" debütierte. Das umfangreiche Buch ist als "Fremdenführer" durch die anderen Textbände (Poesie, Prosa, Feuilletons u. a.) gedacht, indem es auf einzelne Werke, ihre Autoren und Kritiker verweist (Querverweise als Marginalien mit Seitenzahlen). Karl Dedecius weckt Neugier, liefert zahllose Hintergrundinformationen, stellt Verbindungen und Zusammenhänge her. Dieses Mammutwerk eines, nein DES Kenners, Übersetzers und Vermittlers polnischer Literatur in Deutschland entbehrt trotz vieler persönlicher (Ein-)Sichten nicht der Repräsentativität. Die Materialfülle und die Vielstimmigkeit beweisen es. Mit Bibliographie und Personenregister. Breit empfohlen, denn: "Was die polnische Literatur im 20. Jahrhundert geleistet, erreicht hat, kann sich in der Welt sehen lassen" (Seite 839).
(Jana Schwarz ekz- Informationsdienst 6/01)
Karl Dedecius malt ein Panorama der polnischen Literatur
[…] Sein Kompendium könnte man mit einem Werk vergleichen, auf das er selber oft und gern Bezug nimmt, die „Geschichte der Polnischen Literatur" von Czesław Miłosz aus dem Jahr 1969. Während Miłosz sich dort in erster Linie an ein amerikanisches Publikum wandte, ist Dedecius' „Panorama" auf den deutschen Leser zugeschnitten. Für sein literaturgeschichtliches Vorgehen macht er Anleihen bei Witold Gombrowicz: „Die Methode, sich allein mit dem Werk zu befassen, losgelöst von der Person des Autors, ist katastrophal ... Ich will aus dem Werk den Autor begreifen, ich muss, abgesehen vom Märchen, das mir Poe erzählt, den finden, der es erzählt, als - begreif doch - einzige Wirklichkeit, als das einzige Konkretum", hatte dieser in seinem Tagebuch geschrieben, und Dedecius folgt ihm aufs Wort.
Mit Vorliebe passt er nämlich solche Momente ab, in denen es gelingt, die Biographie eines Schriftstellers mit seiner eigenen zu verknüpfen. Dadurch wird eine für Literaturgeschichten sonst ungewöhnliche, unmittelbare und lebendige Erzählung erzeugt, die jedoch nicht ganz frei von den Eitelkeiten ihres Verfassers bleibt und dessen profunde Kennerschaft autorisiert […]
Neben den zahlreichen Dichterleben finden im „Panorama" auch eine Reihe von Dichtertoden Platz. Gelegentlich werden sie, wie bei Lee, mit vielen Details aus der Sicht des Freundes geschildert. Ein andermal fasst Dedecius sie in seinen poetischen und zugleich lakonischen Stil […]
Dass er dies „Strandgut der Geschichte", wie er die marginaleren Autorenpersönlichkeiten nennt, in seinem Rundblick streift, macht die Lektüre um so reizvoller […]
Den meisten Raum im „Panorama" beanspruchen dennoch jene Schriftsteller, die Dedecius persönlich kannte und noch kennt: Lee, Herbert, Miłosz, Wisława Szymborska und natürlich sein Freund Tadeusz Różewicz. Sie und ihre Werke werden vom Kenner lebendig und in schillernden Farben gezeichnet[…]
Das „Panorama" von Karl Dedecius ist ein Produkt jahrzehntelanger Lese- und Übersetzererfahrung, ein gutes Stück hervorragend geschriebener Autobiographie und schließlich eine einzigartige Begegnung mit Polen.
(Stefanie Peter FAZ; 11.05.01)
[…]In literarischer Hinsicht kann man indes von einer eindrücklichen Jahrhundertleistung sprechen: An der Frankfurter Buchmesse des vergangenen Jahres präsentierte sich das Gastland Polen mit einem reichen und hochwertigen Bücherangebot. Bilanz hat auch Karl Dedecius gezogen, der unbestritten wichtigste kulturelle Botschafter Polens im deutschsprachigen Raum […] Im Zürcher, Ammann-Verlag hat Dedecius ein breit angelegtes Panorama der polnischen Literatur herausgegeben, das in einer Auswahl von 100 Erzählungen, 1000 Gedichten und 1000 aphoristischen Kurztexten- gewissermaßen die creme der polnischen Literatur im 20. Jahrhundert darstellt […]
Während der Band «Porträts» sich bei der Charakterisierung der einzelnen Schriftsteller in genrebedingter Nüchternheit übt, erlaubt sich Dedecius im letzten Band des Projekts mit dem "Ambitiösen Titel «Panorama» einen sehr persönlichen Blick auf die polische Literatur. In Dedecius Fall ist dieses wertende Engagement nicht nur verständlich, sondern sogar höchst fruchtbar. Dedecius, der selber 1921 in Lódż geboren wurde und bis Kriegsausbruch in Polen lebte, kennt viele der maßgeblichen Autoren durch seine intensive Übersetzungstätigkeit persönlich. Die prägnantesten Seiten seiner Gesamtdarstellung sind denn auch die Kapitel, die er Julian Przyboś, Tadeusz Różewicz. oder Zbigniew Herbert widmet. Hier verbindet sich freundschaftliche Erinnerung mit genauer literaturwissenschaftlicher Analyse.
Dedecius wagt am Ende seiner kenntnisreichen und differenzierten Literaturgeschichte - denn als solche darf sie gelten - eine Synthese, in der er das Besondere des polnischen Schreibens im 20. Jahrhundert zu erfassen sucht. Da ist zunächst die nationale Problematik, die in vielen Texten entweder als neoromantisches Phantasma aufscheint oder als toter Götze beschimpft wird. In beiden Fällen zeigt sich indes die enge Verbindung von kulturellem Selbstverständnis und literarischer Sinnstiftung in Polen. Des Weiteren nimmt die polnische Literatur eine Schlüsselposition zwischen Ost und West ein. Auf Grund dieser besonderen Stellung könnte eine intensivere Rezeption der polischen Literatur bei den östlichen und westlichen Nachbarn sowohl Russland an Europa annähern als auch umgekehrt.
Und schließlich hebt Dedecius eine letzte Besonderheit hervor: Gerade die politischen Kalamitäten des 20. Jahrhunderts haben dem polnischen Schreiben eine Qualität abgefordert, die Dedecius «Wahrheitsintensität» nennt. In der Tat: Nach dem Bankrott aller humanistischen Ideale im Zweiten Weltkrieg waren es in erster Linie polnische Autoren, die auf die tief greifende Korrumpierung der Sprache aufmerksam machten und in verfremdender dichterischer Arbeit leere Sprachhülsen von wahrheitsfähigen Begriffen trennten. Darin liegt der entscheidende Beitrag der Polen zum gemeinsamen Kulturraum Europa, dessen Erschaffung dem neuen Jahrhundert als Aufgabe gestellt ist.
(Ulrich M. Schmid NEUE ZÜRCHER ZEITUNG; 19.05.2001 , Nr. 115)
[…] "Panorama" bietet einen Überblick über die polnische Literatur dieser Zeit in Form einer Fülle kürzerer erzählender Aufsätze, die den Wandel der künstlerischen Tendenzen darstellen. Eine Literaturgeschichte, wenn man so will, in Form von Essays.
Man kann den Band wahlweise als Einführung in das ganze Unternehmen lesen oder als vertiefenden Rückblick, nachdem man sich die anderen Bücher zu Gemüte geführt hat. „Junges Polen", „Die Neue Kunst", „Konstruktivismus", „Katastrophismus" : So abschreckend abstrakt die Überschriften der zehn Kapitel, so konkret und lebendig das, was Dedecius in diesen Kapiteln zu erzählen weiß - von Autoren und literarischen Gruppen, von Manifesten und besonderen Ereignissen. Der sparsam, aber sehr überlegt bebilderte Band verweist an den entsprechenden Stellen auf jene Seiten in den anderen vier Bänden, auf denen man Näheres zu den behandelten Autoren, Büchern, Ereignissen findet. Aber dieses fünfte Buch kann selbstverständlich wie die anderen Bände auch für sich allein gelesen werden: ein Ein-Band-Panorama sozusagen.
Zugleich ist es ein Lesebuch, appetitlich durchsetzt mit zahlreichen Zitaten der vorgestellten und analysierten Autoren. So bei der Darstellung des Aphoristikers Stanisław Jerzy Lee (1909-1966), der den Nachruhm sarkastisch bilanzierte: „Kommt der Ruhm ins Haus, ist das Spiel meist aus." Oder beim Kritiker des „Jungen Polen", Stanislaw Brzozowski, der Anfang des 20. Jahrhunderts schrieb: „Wenn man an Politik glaubt, ist Literatur Luxus; aber die feinsinnig, genau, mit Liebe rezipierte Literatur ist einer der zuverlässigsten Wege zur Befreiung von den brutal dummen und verderblichen politischen Vorurteilen." Eine Ansicht, die Motto sowohl dieses Panoramas der polnischen Literatur wie auch der ebenfalls von Dedecius herausgegebenen Polnischen Bibliothek gewesen sein könnte. Und die möglicherweise seinerzeit sogar sein Leitmotiv bei der Gründung des Deutschen Polen- Instituts gewesen war.
(eid: DARMSTÄDTER ECHO, 11.05.2001)