Kopernikus-Gruppe

Mitteilung der Kopernikus-Gruppe

Am 13./14 Mai 2011 traf sich auf Einladung des Deutschen Polen-Instituts und des Osteuropa-Studiums der Universität Warschau die aus deutschen und polnischen Expertinnen und Experten bestehende Kopernikus-Gruppe zu ihrer dreiundzwanzigsten Sitzung in Warschau. Thema der Sitzung war: 20 Jahre „danach“: Bilanz und neue Herausforderungen für die deutsch-polnischen Beziehungen. Als Gast der Kopernikus-Gruppe gab Rüdiger Freiherr von Fritsch, deutscher Botschafter in Warschau, ein Eingangsstatement zu dem Thema der Sitzung ab und stellte sich einer Diskussion zur Verfügung.

Das vorliegende Arbeitspapier fasst die gemeinsamen Überlegungen der Mitglieder der Kopernikus-Gruppe zusammen.

Prof. Dr. Dieter Bingen, Darmstadt                              Oktober 2011
Dr. Kazimierz Wóycicki, Warschau


Arbeitspapier XX
Beziehung mit Zukunft
20 Jahre nach dem deutsch-polnischen Vertrag

Dem 20. Jahrestag der Unterzeichnung des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrags maßen beide Seiten ein hohes Gewicht bei. Eine gemeinsame deutsch-polnische Kabinettssitzung in Warschau konnte als Höhepunkt der Würdigung des Jahrestags gelten. Die Gemeinsame Erklärung der Regierungen vom 21. Juni und das mehr als 90 Punkte umfassende „Programm der Zusammenarbeit“, beide am selben Tag in Warschau verabschiedet, zeugen von der Intensität und Zukunftsorientierung der bilateralen Beziehungen. Die Feierlichkeiten galten also nicht nur einer Bilanzierung der letzten zwanzig Jahre, sondern waren eine eindrückliche Geste, die die zukunftsgerichteten Intentionen beider Seiten möglichst eindrucksvoll unter Beweis stellen sollten. Aus einer gewissen Distanz und mit Blick auf die politische Agenda, auf der die Übernahme der polnischen EU-Ratspräsidentschaft am 1. Juli ganz oben stand, kann man die guten Voraussetzungen für ein gemeinsames Handeln besser einschätzen.
Deutschland befindet sich seit dem Beginn der Finanzkrise in einer neuen politischen Situation. Die Verantwortung Berlins für die Europäische Union ist erheblich gewachsen. Es bedarf der Harmonisierung der eigenen Politik mit Paris im Rahmen der Eurozone. Was Warschau allerdings beunruhigt, die Entstehung einer autonomen Eurozone, beunruhigt auch Berlin, zugleich fordert es energisches Handeln der 17 Euro-Länder. Das lässt Warschaus Interesse einerseits an der Handlungsfähigkeit der EU der 27 und andererseits an einem „Kerneuropa”, zu dem es selbst gehören will, um so verständlicher erscheinen.
In der letzten Zeit erschienen Berlin und Warschau auf der internationalen Bühne wiederholt als Verbündete. Beide Regierungen konstatierten die Ursachen der Schuldenkrise in gleicher Weise. Polen und Deutschland befinden sich in der kleinen Gruppe von EU-Staaten, die ähnliche Rezepte zu deren Überwindung vorschlagen. Polen war noch vor kurzem – was in der breiteren Öffentlichkeit in Deutschland kaum bekannt ist – Vorreiter als das einzige Land in der EU, das zur Sicherung der Haushaltsdisziplin eine Schuldenbremse in der Verfassung verankert hat. Polen wusste und weiß sich in der gegenwärtigen Wirtschaftskrise bisher besser als viele andere EU-Staaten Rat. Mit seiner stabilitätsorientierten Finanzkultur ist Polen ein Land des neuen Nordens in der EU.

Die Wahrnehmung Polens änderte sich aus diesem Grunde in Deutschland ganz entscheidend. Das Stereotyp der „polnischen Wirtschaft” erhielt einen völlig neuen Klang. Schritt für Schritt und nicht ohne Mühen lernte Deutschland Polen als einen ebenbürtigen Partner wahrzunehmen. In den letzten Jahren hat sich dieser Prozess bemerkenswert beschleunigt. Für die Stabilisierung der eigenen Position in Europa sind umfassende Beziehungen zu Polen zu einem Eckpunkt geworden.

Für Polen sind normale Beziehungen zu Deutschland ebenfalls ein Schlüsselfaktor der eigenen Position in der europäischen Politik. Der vor 20 Jahren unterzeichnete Vertrag mit Deutschland bedeutete für Polen eine Veränderung der geopolitischen Lage. Die traditionelle Selbstdefinition „zwischen Deutschland und Russland” hat ihre Aktualität verloren. Seit dem EU-Beitritt 2004 ist sie noch antiquierter.

Der Schwung der Veranstaltungen zum Jahrestag der Unterzeichnung des Nachbarschaftsvertrags ist Ausdruck eben dieser polnischen wie der deutschen Politik. Polen akzentuiert auf diese Weise, dass es Deutschland als seinen Hauptpartner in der Europäischen Union sieht, mit dem es in vielerlei Hinsicht seine europapolitischen Ambitionen zu verwirklichen sucht. Dahinter steht also eine langfristig angelegte Politik. Polen gewinnt die Chance, seine eigene Position bedeutend zu stärken, wenn es der östliche Hauptpartner Deutschlands ist. Deutschland öffnet ebenfalls ein neues Kapitel in seiner Geschichte, indem es Polen und Ostmitteleuropa als Teil des europäischen Stabilitätskerns betrachtet und erkennt, dass es seine Ziele leichter mit einem europapolitisch dynamischen Polen realisieren kann als ohne Polen oder gar gegen die Interessen Polens.

Natürlich wäre es ein Leichtes, neben dem strategischen Gleichklang auf ernsthafte Interessenunterschiede hinzuweisen – Stichworte sind da: energiepolitische Prioritätensetzungen, Klimapolitik, EU-Finanzrahmen ab 2014 oder die vielbeschworene Asymmetrie der Gewichte beider Länder. Warum sollte die deutsche Bundeskanzlerin mit dem polnischen Regierungschef über die wichtigen europäischen Fragen sprechen? Der deutsch-polnische Vertrag von 1991, vor allem aber die aktuelle Agenda der europäischen Politik geben die Antwort.

Die neue Herausforderung: Europas Osten und die Nachbarn im Süden

Am 1. Juli hat Polen die EU-Ratspräsidentschaft übernommen mit dem Slogan. „Mehr Europa”. Polen ist in Kerneuropa angekommen aus eigenem politischem Willen und weil Deutschland es so wollte. Zugleich wird die Agenda der polnischen Ratspräsidentschaft nicht nur durch die EU-Schuldenkrise korrigiert, sondern auch durch die unabsehbaren Umwälzungen im Mittelmeerraum, die arabischen Revolutionen, Menschenrechts- und Freiheitsbewegungen, die sich zum Teil auf die selben universellen Werte berufen wie vor einem Vierteljahrhundert die Menschen in Mittel- und Osteuropa.

Das fordert aktuell insbesondere die Interessen und Aktivitäten des wichtigsten gemeinsamen Partners Deutschlands und Polens heraus: Frankreich hat sich in Nordafrika exponiert, insbesondere in Tunesien und in Libyen. Die drei Länder Deutschland, Polen und Frankreich haben in zeitlicher Nähe zu dem Jubiläum des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrags Ende August auf eine ebenfalls 20 Jahre bestehende trilaterale Verbindung im sogenannten Weimarer Dreieck zurückblicken können.

Was läge näher, als die von Polen seit Jahren und insbesondere auch während seiner EU-Ratspräsidentschaft priorisierte östliche Nachbarschaftspolitik mit der französischen Priorität für die südliche Nachbarschaft im Rahmen des Weimarer Dreiecks zu einer abgestimmten Initiative zugunsten einer im EU-Rahmen harmonisierten Politik gegenüber den östlichen und den südlichen Nachbarn zu nutzen? Dazu hieß es in der Gemeinsamen Erklärung der Regierungen vom 21. Juni: Die enge deutsch-polnische Zusammenarbeit im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik und der Östlichen Partnerschaft dient der Demokratisierung und Entwicklung der Länder in der Nachbarschaft der Europäischen Union im Osten wie im Süden. Beide Nachbarschaften sind von schicksalhafter Bedeutung für die Zukunft der Union. Beide Großregionen dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden.

Im Rahmen des Weimarer Dreiecks die Formel 3+1 nicht nur mit Russland und mit der Ukraine anzuwenden, wie es zuletzt geschah, sondern ein Zeichen zu setzen und auch ein Treffen der Außenminister Deutschlands, Frankreichs und Polens mit Vertretern Tunesiens, Libyens und Ägyptens anzuberaumen, könnte den Beweis für neues dynamisches Denken in den deutsch-polnischen Beziehungen wie im Weimarer Format liefern und das Weimarer Dreieck neu legitimieren, indem es die Funktion eines Impulsgebers und der Steuerung bei der Weiterentwicklung zentraler europäischer Politikfelder und Themen übernimmt.

Von den polnischen und mitteleuropäischen Erfahrungen mit einer friedlichen Revolution und Transformation unter dem Zeichen der „Solidarität“ lernen zu wollen, bekennen demokratische Kräfte des arabischen Aufbruchs. Frankreich hat traditionelle Verbindungen, politische und wirtschaftliche Interessen in der Region, dies alles gilt auch für Deutschland. Mit ihren kompatiblen Motivationen, Interessen und Zielen könnten die Drei zur innereuropäischen Entscheidungsvorbereitung in Richtung östlicher und südlicher Nachbarschaft beitragen. Sie könnten in dem zerstrittenen und an sich selbst zweifelnden Europa Impulse geben und angesichts der weitgehenden Absorbierung von Aufmerksamkeit durch die Schuldenkrise und der damit verbundenen dramatisch zunehmenden Schwierigkeiten der EU, gemeinsame langfristig orientierte Positionen zu beziehen, die strategische Steuerungsfähigkeit der Union verbessern, ohne dabei dominant zu lenken. Es geht um Orientierungshilfe, die dadurch legitimiert wird, dass sie andere Partner einbezieht.

An die europäischen Nachbarn mit zu denken - das ist die Lehre aus der deutsch-polnischen Partnerschaft der letzten 20 Jahre, das ist die Lehre aus 50 Jahren deutsch-französischer Partnerschaft und es könnte die Lehre aus 20 Jahren der Zusammenarbeit von Deutschland, Polen und Frankreich sein.  


Das Projekt „Kopernikus-Gruppe“ wird von der Robert Bosch Stiftung gefördert.