Kopernikus-Gruppe

Mitteilung über die
Sitzung der „Kopernikus-Gruppe“ am 7./8.11.2008

Am 7. und 8. November 2008 traf sich auf Einladung des Deutschen Polen-Instituts und des Osteuropa-Studiums der Universität Warschau die aus deutschen und polnischen Experten bestehende „Kopernikus-Gruppe“ in Berlin zu ihrer achtzehnten Sitzung. Thema der Beratungen war: Arbeitnehmerfreizügigkeit - 2009 oder 2011 – schon entschieden?
Zum Auftakt der Sitzung gaben Guido Bockelmann, bei der Berliner Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Frauen zuständig für Fragen der Europa- und Regionalpolitik, und Botschaftsrat Dr. Zbigniew Kostecki, Leiter der Wirtschaftsabteilung der Botschaft der Republik Polen, wichtige Informationen und Einschätzungen

Das vorliegende Arbeitspapier XVI fasst die gemeinsamen Überlegungen der Mitglieder der Kopernikus-Gruppe zusammen.


Prof. Dr. Dieter Bingen, Darmstadt                            Dezember 2008
Dr. Kazimierz Wóycicki, Stettin


Arbeitspapier XVI
Arbeitnehmerfreizügigkeit – 2009 oder 2011 – schon entschieden?


Bis Ende April 2009 muss die Bundesregierung entscheiden, ob sie bei der Europäischen Kommission eine Verlängerung der Übergangsfrist bezüglich der Arbeitnehmerfreizügigkeit beantragt. Tut sie es und wird dem von der Europäischen Kommission entsprochen, bleiben die bisherigen nationalen Restriktionen für die Arbeitnehmer aus den neuen EU-Mitgliedsstaaten noch für zwei weitere Jahre in Kraft.

Die Übergangsfrist ist ein Ergebnis der Beitrittsverhandlungen und sollte – was das deutsch-polnische Verhältnis betrifft – den deutschen Arbeitsmarkt vor einem erheblichen Zustrom billigerer und hoch motivierter Arbeitskräfte und einer Zunahme der Arbeitslosigkeit schützen.
Im Gegenzug setzte Polen bei den Verhandlungen im Vergleich zu den anderen Beitrittsländern relativ längere Übergangsfristen im Immobilienbereich durch, die den polnischen Immobilienmarkt und die Landwirtschaft vor Preissteigerungen sowie vor dem von der polnischen Rechten vermuteten  „Ausverkauf polnischer Erde“ schützen sollten.

Beide Übergangsfristen haben sich zu einem großen Teil als wirkungslos erwiesen. Nach 2004 haben die Bürger der neuen Mitgliedsstaaten – und ganz besonders Polen - in hohem Maße die Möglichkeit genutzt, im Ausland zu arbeiten. Dies hat jedoch weder zu einer dramatischen Erhöhung des Anteils von Arbeitnehmern aus den 10 Ländern (EU-10), die 2004 EU-Mitglieder wurden, an der Zahl aller ausländischer Arbeitnehmer noch zu einer Zunahme der Arbeitslosigkeit geführt. Das Gros der polnischen Arbeitnehmer wanderte ohnehin in EU-Staaten aus, die keine nationalen Restriktionen verhängt hatten, oder in liberale Nicht-EU Mitgliedsstaaten wie Norwegen. Selbst da blieb der Anteil der EU-10-Arbeitnehmer an der Gesamtzahl der ausländischen Arbeitnehmer bescheiden.

Einen weit größeren Einfluss auf die Wanderungsbewegungen zwischen alten und neuen Mitgliedsstaaten hatte die Bewegung der Wechselkurse, wobei die zwischenzeitliche (bis zur Finanzkrise im Herbst 2008) Erstarkung des Złoty im Verhältnis zum Euro und britischen Pfund dazu geführt hat, dass ein großer Teil der Auswanderer inzwischen wieder nach Polen zurückkehrte.

Auch auf dem Immobilienmarkt blieben die Übergangsfristen, die für den Erwerb von landwirtschaftlichen Flächen und Wäldern gelten, weitgehend wirkungslos – die befürchteten Preissteigerungen traten zwar ein, allerdings hatten sie ihre Ursache nicht in einem vermehrten Zuzug und Immobilienerwerb durch Ausländer, sondern in innerpolnischen Entwicklungen: Die geburtenstarken Jahrgänge der frühen 1980er Jahre begannen mit der Gründung von Familien und machten sich selbständig, was sie angesichts der liberalen Kreditvergabe der Banken, der schnellen Reallohnsteigerungen nach 2004 und der Aufwertung des Złoty (wodurch Kredite in Schweizer Franken immer günstiger wurden) auch leicht konnten.

Regierungen und Öffentlichkeit gehen bei der Behandlung des Themas nach unserem Eindruck von falschen Vorraussetzungen aus. Zeitweise und eher kurzfristige Arbeitsmigration, wie wir sie nach 2004 in Ostmitteleuropa beobachten konnten, hat mit den traditionellen Auswanderungstrends des 19. und 20. Jahrhunderts kaum noch etwas zu tun. Geringe Transportkosten, die massive Nutzung von Billigfluglinien und die große Bedeutung von Wechselkursveränderungen haben eine Situation geschaffen, die sich zutreffender als transnationale Mobilität von Arbeitskräften beschreiben lässt als mit Auswanderung. Hinzu kommt das relativ hohe Ausbildungsniveau der Migranten und ihr im Vergleich zu früheren Wanderungsbewegungen relativ niedriges Alter. Dies hat dazu geführt, dass Migration nur für wenige Jahre stattfindet und die Auswanderer nach relativ kurzer Zeit mit neuen Qualifikationen und Kompetenzen in ihr Heimatland zurückkommen – also aus dessen Sicht keinen „bleibenden Verlust“ und aus der Sicht des aufnehmenden Landes keine Belastung darstellen. Auch die sozialen Kosten für die Auswanderer und das aufnehmende Land sind bescheidener als bei früheren Migrationen: Meist verfügen die Auswanderer über die notwendigen Sprachkenntnisse und kulturelle Kompetenzen, die ihre Eingliederung erleichtern, Familien werden nicht für immer getrennt und zerschlagen, sondern verwandeln sich in „Wochenendfamilien“. Auch die Verbindung zum Heimatland geht nicht verloren, wie die jetzige Rückkehrwelle zeigt. Es geht also weder aus der Sicht des Aufnahme- noch des Entsendelandes um dauerhafte Aus- bzw. Einwanderung, sondern um Mobilität, deren Erhöhung unter den Bedingungen der bereits existierenden Kapitalfreiheit im Europäischen Binnenmarkt geradezu unabdingbar ist, um regionale Asymmetrien zu vermeiden.

Bisher tritt Deutschland im europäischen Kontext im Verein mit Österreich als Bremser bei der Umsetzung der Binnenmarktfreiheiten auf. In Folge dessen sind negative Auswirkungen auf die Erschließung von Auslandsmärkten zu befürchten. Zudem erschweren die Übergangsregelungen nicht nur die Entstehung eines grenzüberschreitenden Arbeitsmarktes, sondern auch die grenzüberschreitende Tätigkeit von Unternehmen, so zumindest eine Befürchtung, die gerade in der grenznahen Region auf deutscher Seite geäußert wird. Viel grundsätzlicher kann aber die Frage an die deutsche Seite gerichtet werden: Wo bleibt hier die Willkommenskultur?Nach der nüchternen Bestandsaufnahme gibt es also keinen Grund, die bis 2009 geltende Übergangsfrist für Arbeitnehmer aus den neuen Mitgliedsländern zu verlängern. Sie widerspricht dem Geist der europäischen Verträge und schränkt die Freiheit der Bürger der neuen Mitgliedsstaaten ein. Allerdings hat sich die Interessenlage Deutschlands und Polens inzwischen so geändert, dass ein Verzicht auf eine Verlängerung wenig wahrscheinlich ist: 2009 sind in beiden Ländern Wahlen zum Europaparlament und in Deutschland Bundestagswahlen und mehrere Landtagswahlen. Angesichts der derzeitigen Finanzkrise und ihren gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen ist damit zu rechnen, dass die Stimmung in beiden Ländern protektionistischer werden wird. Beantragt die Bundesregierung eine Verlängerung der Übergangsfrist, ist – anders als bei den Beitrittsverhandlungen – mit polnischem Protest nicht zu rechnen: Zum einen würde dann die symbolisch und psychologisch wichtige (wenngleich praktisch unbedeutende) Übergangsfrist beim Immobilienkauf für Ausländer ebenfalls zur Disposition stehen, zum anderen herrscht aufgrund der großen Auswanderungswelle nach 2004 bei allen polnischen Parteien inzwischen ein Konsensus, Auswanderung zu begrenzen bzw. zumindest nicht weiter zu fördern. So hat die Regierung in Warschau sogar ein Programm zur Förderung der Rückwanderung aufgelegt.

Daher appellieren wir an die Bundesregierung, kurzfristige Interessenlagen hintan zu stellen, das Vernünftige zu tun und im europäischen Geist zu handeln, d.h. die Übergangsfrist 2009 nicht zu verlängern und die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit ab dem 1.5.2009 herzustellen. An die polnische Regierung richten wir den Appell, angesichts nun wieder sinkender Immobilienpreise die noch bestehenden Restriktionen beim Erwerb von Grund und Boden durch Ausländer 2009 vollständig zu beseitigen.

Prof. Dr. Klaus Bachmann, Warschau
Prof. Dr. Dieter Bingen, Darmstadt
Prof. Dr. Włodzimierz Borodziej, Warschau
Piotr Buras, Berlin
Roland Freudenstein, Brüssel
Dr. Andrea Gawrich, Kiel
Dr. Marzenna Guz-Vetter, Berlin
Prof. Dr. Hans Henning Hahn, Oldenburg
Basil Kerski, Berlin
Adam Krzemiński, Warschau
Dr. Kai-Olaf Lang, Berlin
Dr. habil. Krzysztof Ruchniewicz, Breslau
Prof. Dr. Robert Traba, Berlin
Jürgen Vietig, Kleinmachnow
Dr. Tobias Weger, Oldenburg
Hubert Wohlan, Bonn
Dr. Kazimierz Wóycicki, Warschau
Prof. Dr. Klaus Ziemer, Trier
Prof. Dr. Marek Zybura, Breslau


Das Projekt „Kopernikus-Gruppe“ wird von der Robert Bosch Stiftung gefördert.