Kopernikus-Gruppe

Mitteilung über die
Sitzung der „Kopernikus-Gruppe“ am 30.6./1.7.2006


Am 30. Juni und 1. Juli 2006 traf sich auf Einladung des Deutschen Polen-Instituts und des Deutschland- und Nordeuropainstituts Stettin die aus deutschen und polnischen Experten bestehende „Kopernikus-Gruppe“ in den Redaktionsräumen der Wochenzeitung „Polityka“ zu ihrer dreizehnten Sitzung. Thema der Beratungen waren „Deutsche und polnische Beiträge zu einer gemeinsamen EU-Ostpolitik“.
Das vorliegende Arbeitspapier XII der „Kopernikus-Gruppe“ fasst die Bestandsaufnahme und daran anschließende gemeinsame Überlegungen zusammen.

Prof. Dr. Dieter Bingen, Darmstadt                                November 2006
Dr. Kazimierz Wóycicki, Stettin
                                                                                                                

Arbeitspapier XII
Die EU und ihre östlichen Nachbarn. Deutsche und polnische Beiträge zur Strategie gegenüber Belarus

Im Unterschied zu den revolutionären Entwicklungen in der Ukraine 2004/2005 haben die maßvollen Versuche der belarussischen Opposition,  nach der jüngsten Präsidentschaftswahl im März 2006 gegen Wahlfälschungen und das Regime des Diktators Alexander Lukaschenka zu demonstrieren, Europa nicht tief greifend aufgerüttelt.
Zwar ist die Fülle von Absichtserklärungen groß, sich um die Demokratisierung von Belarus zu bemühen, jedoch fallen die Strategien zur Realisierung dieser Absichten eher zaghaft aus.

Das Interesse der EU-Staaten und der EU an Belarus ist dabei ambivalent. Grundsätzlich ist die EU – im Sinne eines allgemeinen Stabilitätsinteresses in Europa – darum bemüht, jedwede Form von Diktatur an ihren Außengrenzen zu verhindern, so dass allein schon die Existenz der „letzten Diktatur Europas“ als Handlungsaufforderung an die EU gilt.

Die allgemeinen Sympathien für die belarussische Demokratiebewegung kühlten jedoch relativ schnell ab, als sichtbar wurde, dass die Hoffnungen auf ein Ausstrahlen der ukrainischen Orangenen Revolution auf den Nachbarn Belarus sich nicht bestätigen würden und die Demonstrationen gegen Wahlfälschungen nichts gegen das hart durchgreifende Regime ausrichten konnten.

Es zeigte sich, dass die Voraussetzungen für einen Wandel in der Ukraine und in Belarus grundsätzlich unterschiedlich sind. Die belarussische Bevölkerung steht noch in weiten Teilen hinter ihrem autokratischen Herrscher, und die Opposition verfügt, anders als in der Ukraine, über keine Erfahrungen innerhalb des Herrschaftsapparates, sondern agierte im Gegenteil aus einer schwach ausgebildeten Zivilgesellschaft heraus. Der Anführer der bisherigen Oppositionsbewegung und Präsidentschaftskandidat Alexander Milinkiewitsch bezeichnete die Wahlproteste dementsprechend auch als Keimzelle für eine aufzubauende oppositionelle Volksbewegung.

Mit der Einmischung in die ukrainische Orangene Revolution haben die EU-Staaten sich erstmals massiv in den  geopolitischen Einflussbereich Russlands hineingewagt. Gegenüber Belarus ist das Verhalten jedoch wesentlich zurückhaltender. Zum einen liegt dies in der Tatsache begründet, dass Belarus wesentlich stärker noch als vormals die Ukraine als westlicher Vorposten des russischen Einflusses gilt. Zum anderen ist die EU – und gleichermaßen die Belarus-Troika EU, Europarat, OSZE – bislang mit allen Annäherungsversuchen an den weißrussischen Präsidenten Lukaschenka gescheitert. Weder  durch das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen von 1995, das nie in Kraft gesetzt wurde, noch durch die Einbindung in die Europäische Nachbarschaftspolitik, in der gleichfalls keine Vereinbarungen getroffen werden konnten, noch durch Wahlbeobachtungen oder durch öffentliche Maßregelungen konnte Lukaschenka bislang auch nur ansatzweise geschwächt oder das Regime eingebunden werden. Im Gegenteil – sein Regime erweist sich als ausgesprochen resistent gegenüber Kritik von außen.

Obwohl die spezifischen Sanktionsmaßnahmen der EU gegenüber Belarus nach der Wahl in Form von Einreiseverboten für belarussische Führungsspitzen und durch das Einfrieren der Auslandskonten einzelner Politiker für die EU eine neue Qualität im Umgang mit Belarus darstellen, ist sie sich doch im Prinzip einig, dass der Weg von Sanktionen keine sinnvolle Strategie sein kann.
Insofern richten sich die Strategien und Hoffnungen der EU darauf, dass sich der enge Schulterschluss zwischen Russland und Belarus lockern wird, weil Putin Lukaschenkas planslawistische Träume als wenig attraktiv empfindet und das Land in wirtschaftlicher Hinsicht lediglich für den Rohstofftransport attraktiv ist.

Die EU-Belaruspolitik ist vor diesem Hintergrund de facto gleichzeitig auch Russlandpolitik. Damit können jedoch auch alle unmittelbaren Bemühungen um die Demokratisierung in Belarus, also die Unterstützung von Opposition und Zivilgesellschaft, gleichzeitig als Antirusslandpolitik verstanden werden. Daran jedoch scheiden sich die Auffassungen der EU-Mitgliedsstaaten und insbesondere Polens und Deutschlands.

Wenn es jedoch bei den Ankündigungen bleibt, dass Gazprom ab 1. Januar 2007 die Gaspreise für Belarus den europäischen Marktpreisen halbwegs anpassen will und auf das bis zu Dreifache ansteigen lässt, wäre das belarussische Regime automatisch geschwächt, da seine planwirtschaftlichen Strukturen maßgeblich durch die preiswerte Energiezufuhr geprägt sind.
Das wäre ein wichtiger Einschnitt, denn nach derzeitigem Bild ist eine Reform aus dem Regime heraus undenkbar. Es gibt keinerlei sichtbare Anzeichen für Risse im belarussischen Führungsapparat und keine sichtbaren eigenständigen Nebenfiguren neben Lukaschenka, die sich als personelle Alternativen etablieren könnten. Es fehlen zudem die ukrainischen Revolutionsvehikel, wie eine parlamentarische Opposition, eine reformbereite Justiz und eine breitere gesellschaftliche Frustration und Protestbereitschaft. Es erscheint kaum realistisch, dass europäischer Druck Wirkung zeigt, denn das Machtgefüge scheint relativ stabil und Lukaschenka scheint nach den Wahlprotesten eher noch abwehrbereiter zu sein.

Das bedeutet, dass das Land derzeitig eigentlich noch nicht reif für einen Wechsel ist. Umso bedeutsamer ist es, mittelfristig eine ausreichende gesellschaftliche Basis zu unterstützen, die stark genug wäre, einen demokratieorientierten Weg zumindest wahrscheinlich erscheinen zu lassen.
Es bleibt also einstweilen nur die Zivilgesellschaft als Ankerpunkt möglicher Demokratisierungsbestrebungen und Trägerin eines potentiellen Umbruchs, und die ist strukturell schwach, da es ihr an Zugang zu Macht- und Einflussressourcen fehlt.


Deutschland, Polen und Belarus

Innerhalb der EU zählen Polen, Litauen und Deutschland zu den primären aktiven Akteuren in Fragen der belarussischen Demokratisierung. Nach der Niederschlagung der Wahlproteste hat sich gezeigt, dass insbesondere in der polnischen Bevölkerung die Solidarität mit den verfolgten Oppositionellen groß ist und dass auch breitere Bevölkerungskreise Anteil an der Lage im östlichen Nachbarland nehmen. Polen ist eines der bevorzugten Exilländer für belarussische Oppositionelle. Im Unterschied zu Polen ist in Deutschland das Interesse an der politischen Lage in Belarus in der breiteren Öffentlichkeit marginal. Dennoch existieren in Deutschland kontinuierlich Belarus-Programme, und es gibt ein breit gefächertes Netz humanitärer Initiativen. So ist  Deutschland ein wesentlicher Träger der internationalen Hilfe für die Tschernobyl-Geschädigten.

Jedoch kann nicht übersehen werden, dass die strategischen Vorstellungen in Deutschland und in Polen in Bezug auf Belarus unterschiedlich sind: Aus deutscher Perspektive wird eine profunde Belarus-Strategie nur gemeinsam mit Russland möglich sein. Aus polnischer Perspektive kann eine engagierte Belarus-Politik nicht von den Interessen Russlands abhängig gemacht werden, ist es doch gerade auch eines der Ziele Polens, den russischen Einfluss an der eigenen Ostgrenze möglichst zu schmälern.
Für Deutschland ist Belarus ein unsicheres Transitland für Energieträger. Die Schaffung alternativer Routen, die an Belarus vorbeiführen, ist daher durchaus in deutschem Interesse. Demgegenüber ist Polen daran gelegen, den Status Belarus’ als Durchgangsland für den Export von Energieträgern aus Russland aufrechtzuerhalten, das auch in Zukunft möglichst im Eigentum der Transitpipelines bleiben sollte.

Für Polen ist Belarus der letzte autoritäre Nachbar an der Ostflanke und eine permanente Herausforderung für das langfristige Ziel der Demokratisierung des östlichen Umfelds. Die zusehends zum Objekt von Repressionen werdende polnische Minderheit ist ein weiterer Faktor, der dauerhaft polnisches Interesse und Engagement gegenüber Belarus hervorbringt. Dazu kommen sicherheitspolitische Restrisiken und die Furcht vor einem Regime, das durchaus zu Provokationen neigen könnte, sofern es sich in die Ecke gedrängt fühlt. In Deutschland spielen derlei Überlegungen naturgemäß eine untergeordnete oder gar keine Rolle. Belarus ist für Deutschland ein normatives Problem, aber nicht zentraler Bestandteil der außen- und europapolitischen Agenda.

Der Einfluss und die Initiativen einzelner EU-Staaten sind umso mehr gefragt, als die starren und regierungszentrierten Mechanismen der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP), die ja mit Belarus de facto „eingefroren“ ist, für Demokratisierungsbemühungen gänzlich ungeeignet sind. Es bedarf weiterentwickelter Konzepte, um auch für solche Staaten wie Belarus, in denen auf Regimeebene keine Besserung in Sicht ist, die Bandbreite der Kooperationsmöglichkeiten zum Wohle der dortigen Bevölkerung auszunutzen. Wenn schon nicht eine formelle Einbindung in die Europäische Nachbarschaft möglich ist, dann müssten alternative Kooperationsmodelle entwickelt werden, die trotz des belarussischen Autoritarismus durchführbar sind.

Gemeinsame Handlungsperspektiven für Deutschland und Polen

Es zeigen sich verschiedene Handlungsschwerpunkte, in denen sich die deutsche und die polnische Belarus-Politik ungeachtet unterschiedlicher strategischer Beurteilungen in gemeinsamen Aktivitäten bewähren können. Die besondere Verantwortung liegt hierbei derzeit bei Deutschland und seiner Ratspräsidentschaft in der ersten Jahreshälfte 2007.

  1. Eine zentrale offene Frage im Verhältnis der Europäischen Union zu Belarus besteht darin, ob und inwieweit mit Minsk kooperiert werden kann – sofern das Regime hierzu bereit ist. Einerseits bedeutet Zusammenarbeit immer auch Einbindung, Kontakt und die Möglichkeit, die selbstgewählte Abschottung des Regimes an einigen Punkten zu überwinden. Andererseits birgt Kooperation auch das Risiko, das System ein Stück weit zu legitimieren und damit zu stabilisieren. Deutschland und Polen sollten daher sowohl bilateral als auch im europäischen Rahmen mögliche Bereiche und Formen der Zusammenarbeit mit Belarus auf die diesbezüglichen Folgewirkungen überprüfen.

  2. Deutschland sollte seine bisher begonnenen Planungen zur deutschen Ratspräsidentschaft in Bezug auf eine „Nachbarschaftspolitik Plus“ bzw. eine „Modernisierungspartnerschaft“ im Sinne einer speziellen Politik für die östlichen Nachbarstaaten (wie es sie für den mediterranen Raum auch gibt) weiterführen. Dabei gilt es, den kürzlich vom ehemaligen Leiter der Minsker OSZE-Mission, Hans-Georg Wieck, vorgebrachten Vorschlag der Schaffung eines EU-Beauftragen für Belarus sowie die Schaffung einer europäischen Beratergruppe zu prüfen und zu debattieren (ausgeführt in der Zeitschrift Osteuropa, Ausgabe 9/2006).

  3. Es ist evident geworden, dass die bisherigen Instrumente der ENP nur für demokratisierungswillige Staaten greifen, für Staaten wie Belarus hingegen nicht. Ein Weg, dies zu kompensieren, könnte in der Umsetzung von Plänen der EU-Kommission für einen „Schatten-Aktionsplan“ liegen. Dieser sieht Hilfestellungen für Belarus unterhalb der offiziellen ENP-Ebene vor und will vor allem unabhängige Medienberichterstattung fördern. Die nächste unmittelbare Herausforderung für die Opposition wie für die internationalen Unterstützer werden die Kommunalwahlen im Januar 2007 darstellen. Die Zeit drängt also.

  4. Den Vorschlag aus dem Europaparlament – ursprünglich eine polnische Idee – zur Schaffung einer Europäischen Stiftung für Demokratie, die flexibler und schneller Demokratisierungsbestrebungen unterstützen kann als die bisherige EIDHR (European Initiative for Democracy and Human Rights), gilt es genauer zu prüfen und von deutscher und polnischer Seite gemeinsam zu diskutieren. Sollte in Polen die geplante „Stiftung zur Unterstützung von Demokratie und Zivilgesellschaft in Mittel- und Osteuropa“ (Fundacja Wspierania Współpracy na Rzecz Demokracji i Społeczeństwa Obywatelskiego w Europie Środkowej i Wschodniej) etabliert werden, wäre ein partielles Zusammenwirken dieser Institution mit deutschen Einrichtungen und Nichtregierungsorganisationen mit Blick auf Belarus zu erwägen.

  5. Die regionale Dimension stärken: Ein Beispiel für eine sinnvolle und letztlich auch im Interesse der Nachbarn und Partner von Belarus liegende Kooperation ist die Zusammenarbeit auf regionaler Ebene. Es zeigt sich, dass Belarus derlei Kooperationen zulässt (Beispiel Interreg). Deswegen gilt es die regionale Dimension zu stärken, was insbesondere Polen und Litauen betrifft. Hier könnte auch Deutschland seine Euregio-Erfahrungen einbringen.

  6. Deutschland und Polen sollten verstärkte Maßnahmen zur passiven Flankierung der demokratischen und zivilgesellschaftlichen Strukturen in Belarus ergreifen. Hierbei wäre unter anderem denkbar, spezielle Programme für Oppositionelle, die mit Berufsverbot belegt sind (sowie deren Familien), oder für relegierte Hochschüler aufzulegen und zu koordinieren.

  7. Beide Länder sollten auch auf offizieller Ebene weiter den Dialog mit der Opposition suchen und sich auch dem Kontakt mit Führungskräften des demokratischen Lagers nicht verschließen. Das Treffen der deutschen Bundeskanzlerin mit dem Oppositionsführer Milinkiewitsch sowie auch seine Einladungen auf EU-Ebene waren ein ermutigendes Signal für die demokratischen Kräfte in Belarus, aber auch ein positives Zeichen für die europäische Öffentlichkeit.

  8. Deutschland und Polen sollten im Rahmen der EU Vorüberlegungen initiieren, wie auf eine eventuelle Verschärfung der innenpolitischen Lage in Belarus angemessen reagiert werden könnte. Solche Überlegungen müssten Sanktionen gegen das Regime, Auffang- und Stützungsmaßnahmen für die Opposition, aber auch einen kritischen Dialog mit Russland einbeziehen.



Das Projekt „Kopernikus-Gruppe“ wird von der Robert Bosch Stiftung gefördert.