Kopernikus-Gruppe
Mitteilung über die
Sitzung der „Kopernikus-Gruppe“ am 9./10.12.2005
Am 9. und 10. Dezember 2005 traf sich auf Einladung des Deutschen Polen-Instituts und des Deutschland- und Nordeuropainstituts Stettin die aus deutschen und polnischen Experten bestehende „Kopernikus-Gruppe“ in den Redaktionsräumen der Wochenzeitung „Polityka“ zu ihrer zwölften Sitzung. Thema der Beratungen waren „Die deutsch-polnischen Beziehungen. Stand und Perspektiven nach den Wahlen und Regierungsbildungen in den beiden Ländern“.
Das vorliegende Arbeitspapier XI der „Kopernikus-Gruppe“ fasst die Bestandsaufnahme und daran anschließende gemeinsame Überlegungen zusammen.
Prof. Dr. Dieter Bingen, Darmstadt März 2006
Dr. Kazimierz Wóycicki, Stettin
Arbeitspapier XI der Kopernikus-Gruppe
In den deutsch-polnischen Beziehungen ist Pragmatismus gefordert
Die Parallelität politischer Ereignisse in Polen und Deutschland: die fast gleichzeitig abgehaltenen Parlamentswahlen und die Regierungsübernahme durch Politiker, die aus anderen politischen Lagern als das Personal der jeweiligen Vorgängerregierung stammen – wobei dies in Deutschland nur zum Teil zutrifft –, fordert die Frage nach den Perspektiven der deutsch-polnischen Beziehungen heraus. Hinter uns liegt eine längere Phase der Vertrauenskrise in den bilateralen Beziehungen, provoziert durch Interessendivergenzen in der Irakkrise und in den transatlantischen Beziehungen, wie auch in der Geschichtspolitik und zuletzt noch in der Energiepolitik.
Bestandsaufnahme nach den Wahlen in Polen
Um die Risiken und Chancen für die Kontinuität des zukünftigen polnisch-deutschen Verhältnisses nach der Regierungsübernahme durch die Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS = Prawo i Sprawiedliwość) und dem Amtsantritt von Präsident Lech Kaczyński abwägen zu können, ist es angebracht, einen kurzen Blick auf die programmatischen Eckpfeiler des Politikbildes der PiS zu werfen.
Dazu gehören ein dezidierter Antikommunismus mit dem Ruf nach Dekommunisierung und Lustration; die Sanierung des polnischen Staates, beginnend mit einer konsequenten Bekämpfung der Korruption sowie der sie fördernden politisch-ökonomischen Seilschaften; der Ruf nach gesellschaftlichem Zusammenhalt und einem wirtschafts-, sozial- und beschäftigungspolitisch aktiven Staat (ein „soziales Polen“); ein „starker Staat“; eine „moralische Revolution“ mit der Akzentuierung sozialer Gerechtigkeit, christlicher Werte und der nationalen Identität; die Verteidigung des nationalen Interesses in einem Europa der Nationalstaaten, in dem Solidarität verlangt wird, aber das nationale Interesse in einer traditionellen Weise verstanden wird. Dahinter stehen beispielsweise ein großer Argwohn gegenüber Deutschland und die Infragestellung einer „Interessengemeinschaft in Europa“, u.a. als Ergebnis des jüngsten Streits um eine gemeinsame europäische Energiepolitik.
Innenpolitische Prioritäten
Die PiS verkörpert einen sozial-patriotischen Traditionalismus mit stark etatistischen und autoritären Zügen. Das von der Partei avisierte Projekt ist der Aufbau einer IV. Republik – also eines gegenüber der III. Republik (1990-2005) moralisch erneuerten und intern konsolidierten Polen. Die PiS möchte auch eine Modernisierung Polens – allerdings eine an christliche Werte, eine polnische Staatsidee und das Gebot sozialer Balance gebundene Erneuerung.
Der innenpolitische Diskurs und die Wahlauseinandersetzungen in Polen 2005 können als eine Konfrontation zweier Kulturen betrachtet werden, die zuungunsten der Konservativ-Liberalen (PO) und zugunsten der „Neokonservativen“ ausgegangen ist und in die die politisch paralysierte Linke in Polen, ob nun „postkommunistisch“ oder „authentisch“, nicht einzugreifen in der Lage war. Der Teil des „Solidarność“-Lagers, der sich seit 1989 als Verlierer in der politischen Machtverteilung sah, war 2005 in der Offensive erfolgreich. Es handelt sich um einen inneren Kulturkampf in Polen. In ihm geht es um die Deutungshoheit über die nationale Geschichte und Identität und eine sich an diesem Bestreben orientierende und aus den entsprechenden Zielen ergebende Geschichtspolitik, die sich auf die Beziehungen zu den Nachbarn (Deutschland, Russland u.a.) auswirken kann.
Außenpolitische Konsequenzen
Die von Premierminister Marcinkiewicz angekündigte „aktive Außen- und Verteidigungspolitik“ kontrastiert – zumindest dem ersten Eindruck nach – merklich mit dem rauen Ton, den die PiS vor der Wahl gegenüber Brüssel, Berlin und Moskau angeschlagen hat. Ein Signal für außenpolitische Kontinuität setzte die Ernennung des bisherigen Botschafters in Moskau, Stefan Meller, zum Außenminister.
Freilich verfügt die PiS bisher über kein ausdifferenziertes europapolitisches Programm. Dies schafft angesichts der zahlreichen europapolitischen Herausforderungen und Probleme eine unkomfortable Lage für die neue Regierungsmannschaft in Warschau. Sowohl die Suche nach zuverlässigen Verbündeten in der EU für die Durchsetzung von Positionen, die für Polen prioritär sind, als auch das eher negative Image der neuen Regierungskonstellation in Warschau kann zugleich eine Chance für die Wiederbelebung des Weimarer Dreiecks bieten – ungeachtet dessen, dass die Trilaterale von Präsident Kaczyński auf den Prüftstand gehoben wurde. In diesem Punkt sprechen Regierung und Präsident noch nicht mit einer Stimme, hatten doch Premier Marcinkiewicz und Vizeaußenministerin Tuge-Erecińska auf dem Deutsch-Polnischen Forum im Dezember 2005 von neuen Aufgaben für das Weimarer Dreieck gesprochen.
Warschau steht vor der Wahl seiner Allianzen in der europäischen Politik. Wird es einer „wechselnden Geometrie” den Vorzug geben oder auch die eine oder andere dauerhafte Verbindung suchen?
Innen- und außenpolitische Kontinuität in Deutschland
Die polnische Reaktion auf die Veränderungen in Deutschland und auf die Person von Bundeskanzlerin Merkel war eher positiv – im Gegensatz zu der Reaktion in Deutschland auf die Veränderung der politischen Landschaft in Polen. Die neue Bundesregierung gibt in Polen bemerkbar der Hoffnung Nahrung, dass sich die polnisch-deutschen Beziehungen wieder verbessern könnten.
Tatsächlich fand in Deutschland nach den Wahlen kein grundlegender Wechsel der Koordinaten statt. Es gibt keine neue Ideologie, die an die Macht gekommen wäre, aber auch keine neue Vision für die Lösung der strukturpolitischen Krisenerscheinungen der Wirtschaft, der sozialen Sicherungssysteme und des Bildungssystems.
In der Außenpolitik ist Kontinuität angesagt, Akzentveränderungen eingeschlossen, die nicht zuletzt bei den Antrittsbesuchen von Bundeskanzlerin Merkel und Außenminister Steinmeier in Paris, Brüssel, Washington, Moskau, Jerusalem, Ramallah, Seoul, Tokio und Peking deutlich wurden – abgesehen von dem gelungenen außenpolitischen Debüt auf dem EU-Gipfel im Dezember 2005 mit den ausdrücklich an Polen gerichteten Gesten und Taten.
Die Herausforderung für Deutsche und Polen
Es ist realistisch zu konstatieren, dass in Polen und in Deutschland im Augenblick unterschiedliche Modernisierungskonzeptionen vorherrschend sind – in Deutschland eine harmonistische und Brüche vermeidende, vorsichtig korrigierende Strategie, in Polen eine scharf polarisierende der konservativen Wende. Der Umgang mit der Ungleichzeitigkeit der Diskurse in Deutschland und in Polen wird entscheidend für den Erfolg bei der Identifizierung von Gemeinsamkeiten in der bilateralen Politik wie in der Europapolitik.
Geht es wirklich um eine Infragestellung der „deutsch-polnischen Interessengemeinschaft“ der letzten 15 Jahre oder nicht vielmehr – die Frage positiv gewendet – darum, eine Formel der Zusammenarbeit für die nächsten Jahre zu finden?
Zu der Entdramatisierung der Beschreibung des aktuellen Stands der deutsch-polnischen Beziehungen sollte auch darauf hingewiesen werden, dass die Schwierigkeiten im gegenseitigen Verhältnis nicht allein ein bilaterales Problem darstellen, sondern als Teil eines europäischen Diskurses über den Modus der Kommunikation in europäischen Grundsatzfragen verstanden werden können.
Pragmatismus ist angesagt, um die Konfliktpunkte und Divergenzen grundsätzlich verhandelbar und lösbar zu machen. Aus diesem Grunde ist es notwendig, pragmatische Fragen und die Fragen der Geschichtspolitik auseinanderzuhalten.
Gehen wir dabei von der Frage aus: Wo gibt es Einvernehmen, wo sind die Unterschiede? Dabei sollte die Europäisierung der deutsch-polnischen Beziehungen als stetige Aufforderung gelten, die dem Aufruf zum Pragmatismus Nachdruck verleiht. Um die neuen Herausforderungen anzusprechen, gilt es die beiden Regierungen aufzufordern, ein Frühwarnsystem aufzubauen, um sich nicht, wie zu oft in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts geschehen, überraschen zu lassen. Die neuen Minen im Feld müssen benannt werden, um den Gefahren unnötiger Irritationen und Konfrontationen erfolgreich begegnen zu können.
Um nur einige Themen zu nennen:
- Das Thema Freizügigkeit (2009/2010)
- Die Ukraine nach den Parlamentswahlen und Belarus nach den Präsidentenwahlen (beide im März 2006)
- Die europäische Verfassungsfrage
- Die transatlantischen Beziehungen
Für die deutsche Seite besetzt Polen unverändert einen strategischen Platz in der Europa- und Nachbarschaftspolitik, erfährt sogar nach einer gewissen Strapazierung in den letzten Jahren eine Wiederbelebung mit dem Beginn der Großen Koalition; Atmosphärisches ist hier abgesehen von der Substanz nicht zu unterschätzen. Die Verknüpfung von symbolischen Gesten und inhaltlichen Fragen wurde von Bundeskanzlerin Merkel in den EU-Budgetverhandlungen vor Weihnachten geschickt und überzeugend genutzt, von Polen und den anderen EU-Partnern anerkennend kommentiert.
Es kommt entscheidend darauf an, ob beide Seiten die positiven Signale der jeweils anderen Seite verstehen und aufgreifen und gegenseitig positiv verstärkend wirken lassen.
Es ist auch verhalten optimistisch stimmend, dass Ministerpräsident Marcinkiewicz auf dem deutsch-polnischen Forum im Dezember 2005 den Begriff der „deutsch-polnischen Interessengemeinschaft in Europa“ des seinerzeitigen Außenministers Skubiszewski (Februar 1990) aufgegriffen hat und darauf aufbauend Bereiche der Zusammenarbeit und der Abklärung nannte, wie: die Zukunft des Verfassungsvertrags, EU-Budget, EU-Agrarpolitik, Erweiterungspolitik und Sicherheitspolitik.
Premier Marcinkiewicz sprach der Wiederbelebung des Weimarer Dreiecks das Wort, mit der Betonung, dass aber auch neue Formen der Trilaterale nach der EU-Erweiterung benötigt werden. Ebenso äußerte sich Vize-Außenministerin Tuge-Erecińska. Sie forderte dazu auf, das Weimarer Dreieck zu stärken, es sei eine „einmalige Konstruktion“, die zur Konsolidierung der erweiterten EU zu nutzen sei.
Als derzeit noch kaum berechenbarer positiver Faktor für die „Erwärmung“ der deutsch-polnischen Beziehungen könnte sich die Person des Papstes Benedikt XVI. erweisen. Der Papst aus Deutschland stellt für viele Polen eine Art Brücke des Vertrauens dar, da er ihnen als der nächste Vertraute und „geborene Nachfolger“ seines Vorgängers Johannes Paul II. gilt. In diesem Zusammenhang ist die Voraussage des polnischen Präsidenten Lech Kaczyński bemerkenswert, dass der Besuch des Papstes in Polen (Mai 2006) für die polnisch-deutsche Versöhnung mehr bewirken werde als alles andere. Diesen Faktor in Deutschland nicht wahrzunehmen oder zu unterschätzen, würde ein weiteres Mal unsere These bestätigen, dass die innere Diskurskultur und „Befindlichkeit“ vom Nachbarn nicht wahrgenommen und eine Chance für eine positive Wende vertan wird – stellt doch diese Wahrnehmung der „inneren Uhr“ im Nachbarland die Voraussetzung für wahrhaftiges gegenseitiges Verstehen und Verständigung dar.
Handlungsbedarf und Vorschläge für die Wiederbelebung einer „Interessengemeinschaft“: Beispiel „Warschauer Viereck“
Gemeinsame Themen und Formen des Dialogs:
- Die „östliche Flanke“ der EU, die Beziehungen zu den Nachbarn und insbesondere zu Russland bleiben eine zentrale Herausforderung in den deutsch-polnischen Beziehungen. Gemeinsame deutsch-polnische Beiträge zur Formulierung einer gemeinsamen EU-Ostpolitik hätten eine stabilisierende Funktion nicht nur für die bilateralen Beziehungen, sondern auch für die gesamte europäische Entwicklung. Im wesentlichen geht es darum, wie beide Länder zur Verdichtung der Kooperationsbeziehungen mit der Ukraine im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik, zur Fortentwicklung der EU-Russland-Beziehungen und zur Suche nach neuen Formen des Umgangs mit dem Sonderfall Belarus beitragen können.
- Um eine Entkrampfung im Beziehungsgeflecht im Ostseeraum (Deutschland – Polen – Litauen – Russland) zu fördern, sollte die Schaffung eines vierseitigen deutsch-polnisch-litauisch-russischen Konsultationsrahmens erwogen werden. Ein solches WARSCHAUER VIERECK könnte sich auf konkrete Aspekte etwa der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, der Infrastrukturkoordination oder des Umweltschutzes konzentrieren. Ein mögliches Schwerpunktthema könnte die Zusammenarbeit der vier Länder im Ostseeraum, insbesondere mit Blick auf Kaliningrad, sein. Eine weitere Chance dieses Forums bestünde darin, dass es helfen könnte, die fragilen polnisch-russischen Beziehungen zu stabilisieren.
- Fragen der europäischen Energiepolitik werden auch im engeren bilateralen Dialog zwischen Polen und Deutschland eine prominente Rolle spielen. Kommt die Ostseepipeline weiter voran, sollten beide Länder nach neuen Kooperationsvorhaben Ausschau halten, die der langfristigen Sicherung und Diversifizierung ihrer Energielieferungen dienen. Zu prüfen wäre etwa der Nutzen einer Verlängerung der ukrainischen Ölpipeline Odessa-Brody nach Polen und von dort nach Westen.
- Das Weimarer Dreieck sollte in der jetzigen Situation in seinem Bedeutungspotenzial für die informelle Steuerung von Kernthemen der EU-25 ausgetestet werden. Sowohl die neue polnische Regierung als auch die französische Regierung haben signalisiert, dass der Trilaterale neues Leben eingehaucht werden könnte. Nicht nur die symbolische Funktion des Weimarer Dreiecks für die Vertrauensbildung in streckenweise entfremdeten bilateralen Beziehungen innerhalb des Dreiecks Paris-Berlin-Warschau spricht für seine Reaktivierung, sondern auch eine gewisse Revitalisierungsfunktion für die EU-25 in der Krise.
- Die Fokussierung der PiS auf Fragen der inneren Sicherheit und der Justiz könnte die Intensivierung deutsch-polnischer Kooperation in entsprechenden Fragen erlauben. Es wäre auch im deutschen Interesse, wenn es der neuen polnischen Regierung gelänge, Missstände wie Korruption erfolgreich zu beseitigen und Fortschritte bei der Kriminalitätsbekämpfung zu erzielen. Die PiS dürfte sich einem Dialog allein schon deswegen nicht verschließen, weil auch der neue polnische Innenminister den Wunsch seines Landes bekräftigte, 2007 der Schengen-Zone beizutreten. Gleichzeitig ist Polen an einer Flexibilisierung des Grenzregimes an seiner Ostflanke gelegen. Beide Ziele können nicht gegen den Widerstand Deutschlands erreicht werden.
- Ebenso wäre es vorstellbar, mit der „Partei des solidarischen Polens“ einen Dialog über Europas Wirtschafts- und Sozialmodell und die Perspektiven des Wohlfahrtsstaates anzustoßen. Dabei müsste nicht zuletzt ausgelotet werden, inwieweit sich die von der PiS innerpolnisch betonte Kohäsionsdiskussion und die von der Partei angemahnte innereuropäische Solidarität in die Bereitschaft zu sozial- und wirtschaftspolitischer Mindestharmonisierung in der EU übersetzen lassen.
- Der Dialog zwischen Deutschland und Polen sollte in subregionale oder multilaterale Strukturen der EU eingebunden werden. Zu denken wäre an den Dialog der Ostseeanrainer im Format 3+3+2 (Skandinavien, Baltische Staaten, Deutschland, Polen) mit einem Bezug zu regionalen Sachpolitiken (Umwelt, regionale Wirtschaftskooperation, Innovation, Infrastruktur). Dies hätte überdies den Vorteil, dass dadurch die sich im Zusammenhang mit der Russland-Thematik formierende Allianz der Baltischen Staaten, Polens und der nordischen Länder um Deutschland ergänzt werden könnte.
Das Projekt „Kopernikus-Gruppe“ wird von der Robert Bosch Stiftung gefördert.