Kopernikus-Gruppe

Mitteilung über die 9. Sitzung der Kopernikus-Gruppe

Am 2. und 3. April 2004 traf sich in Genshagen auf Einladung des Deutschen Polen-Instituts Darmstadt und des Deutschland- und Nordeuropainstituts Stettin als Gast des Berlin-Brandenburgischen Instituts für deutsch-französische Zusammenarbeit in Europa die aus deutschen und polnischen Experten bestehende„Kopernikus-Gruppe” zu ihrer neunten Sitzung. Themen der Beratungen waren der Stand der deutsch-polnischen Beziehungen nach der EU-Konventsdebatte und die Perspektiven des bilateralen Verhältnisses innerhalb der Europäischen Union nach der Erweiterung.Das vorliegende Arbeitspapier VIII der„Kopernikus-Gruppe” fasst die Bestandsaufnahme und daran anschließende gemeinsame Überlegungen zusammen.

Dr. Dieter Bingen, Darmstadt                                   28 April 2004
Prof. Dr. Marek Zybura, Stettin/Oppeln

 
Arbeitspapier VIII der Kopernikus-Gruppe
Notwendigkeit der Neubegründung einer deutsch-polnischen Partnerschaft in der EU der 25

Der 1. Mai 2004 stellt das deutsch-polnische Verhältnis auf eine neue Probe. Die EU-Erweiterung wird zu Recht als historische Großtat gefeiert, als Beendigung der Teilung Europas. Diese positive Bewertung der Aufnahme Polens und weiterer neun Staaten wird aber bereits heute in Frage gestellt.

Die Bevölkerungen in Polen und in Deutschland müssen anscheinend erst noch davon überzeugt werden, dass die Osterweiterung - jenseits der historischen Dimension - auch für ihren künftigen Alltag ein Gewinn ist. In Polen wachsen die Befürchtungen, dass das Land dem EU-Wettbewerb nicht standhalten und die offenkundigen ökonomischen Vorteile des Beitritts nicht nutzen kann, weil seine Verwaltung kaum in der Lage scheint, die technisch-formalen Bedingungen für die Milliardentransfers aus Struktur- und Regionalfonds u.a. zu erfüllen. In Deutschland verbinden viele Menschen mit der Osterweiterung vor allem Billiglohnkonkurrenz, wachsende Arbeitslosigkeit, Sozialdumping, massenhafte Migration, wachsende Kriminalität. Glaubt man den Umfragen, wünscht sich nur jeder zweite Deutsche Polen in der EU.

Aktuelle Differenzen

Die aktuellen gesellschaftlichen Strömungen in beiden Ländern sind nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite stehen die Unterschiede in entscheidenden politischen Fragen, die in der letzten Zeit sichtbar geworden sind. Dazu gehören so fundamentale Probleme wie die Sicherheitspolitik (Stichwort: Irakkrise und -krieg), die zukünftige Gestalt der Europäischen Union und die unerwartete Rückkehr von Geschichtsdebatten mit einem ebenso unerwarteten politischem Instrumentalisierungspotenzial.

Die beiden Staaten stehen unter diesen problematischen Umständen vor der unaufschiebbaren Aufgabe, ihre Nachbarschaft und ihre gemeinsamen Interessen ehrlich und freundschaftlich zu debattieren und womöglich in einigen Punkten neu zu definieren.

Besonders augenscheinlich waren die Wahrnehmungs- und die Interessenunterschiede mit der europäischen Verfassungsdiskussion verbunden. So war man in Deutschland und anderen Mitgliedsstaaten zunächst davon ausgegangen, dass viele der Kandidatenländer und insbesondere Polen in der EU-Reformdebatte eine euroskeptische, antiföderalistische Haltung einnehmen würden, weil es ihnen - nach dieser These - schwer fallen müsste, so kurz nach der Wiedererlangung der staatlichen Eigenständigkeit Souveränitätsrechte an supranationale Einrichtungen abzutreten. Tatsächlich gehörten die polnischen Delegierten aber nicht nur zu den aktivsten Teilnehmern im Konvent, sondern vertraten dabei auch integrationsfreundliche und z. T. stärker föderalistische Konzepte als viele Vertreter der Mitgliedsstaaten. Dies wurde kaum wahrgenommen, und wo es wahrgenommen wurde, wurde es durch die starre polnische Haltung auf dem Gipfel von Brüssel wieder verwischt.

Der Verfassungskonvent wurde in den Augen des politischen Establishments in Warschau allein als Kampf um nationale Interessen verstanden. Die polnische Regierung hatte nicht erkannt, dass es im Konvent weniger um die Durchsetzung nationaler Interessen als um das gegenseitige Überzeugen, Argumentieren und die Schaffung eines Verfassungskonsenses ging. Sie hat sich in dieser Frage auf europäischer Bühne zeitweise isoliert. Dieser Prozess wurde ungewollt noch verstärkt durch die Haltung der Bundesregierung, die unter Hinweis auf die eigene, primär an europäischen Interessen orientierte Haltung auf eine demonstrative Einbindung Polens (anders als auf dem Gipfel von Kopenhagen) verzichtete. Deutschland fiel diese Haltung leicht, denn das Konventsergebnis berücksichtigt zahlreiche deutsche Vorstellungen, während es aus polnischer Sicht vor allem als Verzicht auf„historische Errungenschaften” (die Aufwertung Polens im Vertrag von Nizza) aufgefasst wurde. Eine Renationalisierung von europäischen Strategien der Mitgliedsländer und das Verweilen in rein nationalstaatlichen Mustern bei Neumitgliedern muss auf längere Sicht die Handlungsfähigkeit einer EU von 25 oder mehr Staaten dramatisch einschränken.

Die polnische Haltung zur Stimmengewichtung in der EU der 25 war Ausdruck einer in der polnischen politischen Elite weitgehend ungebrochenen Zentriertheit auf den scheinbar souveränen Nationalstaat und sein Interesse, für den Kompromiss in der europäischen Staatenwelt weiterhin mit dem Odium der Niederlage behaftet ist und somit keinen Wert hat. Nach diesem Muster gibt es nur Sieg oder Niederlage, ist internationale Politik in Europa ein Nullsummenspiel, der Gewinn des einen ist der Verlust des anderen. Es ist nicht zu verkennen, dass diese Wahrnehmung der Außenwelt zugleich auch verstärkt wurde durch die Angst vor einer Renationalisierung der Außenpolitiken der alten EU-Staaten, nicht zuletzt Deutschlands, die vor und während der Regierungskonferenz nicht den Eindruck vermittelten, als ob sie den„Neuen” eine positive Lektion über Kompromisssuche im europäischen Geist des Verstehens und verstehen Wollens der Befürchtungen von Schwächeren und Kleineren erteilen wollten. Es fällt uns nicht leicht, in diesem Zusammenhang vor den womöglich für den Platz und das allgemeine Erscheinungsbild Polens in der EU fatalen, wenn nicht dramatischen Auswirkungen eines Irrwegs der politischen Klasse in Polen zu warnen. Das Auftreten fast aller polnischen EU-Parlamentarier bei der Befragung der neuen polnischen EU-Kommissarin Hübner war beschämend. Es ist die Sorge vor dauerhafter Selbstbeschädigung Polens in der europäischen Familie, die uns so dezidiert Stellung nehmen lässt gegen einen Autismus, der Polen keinerlei Nutzen bringen wird.

Die fatale Ungleichzeitigkeit außenpolitischer Kulturen, in dieser Hinsicht eine Art „clash of civilizations”, wird mit der Ausarbeitung eines Kompromisses über die Europäische Verfassung nicht verschwinden, sondern die deutsch-polnischen Beziehungen und die Funktionsfähigkeit der erweiterten EU in Mitleidenschaft ziehen. Es fehlt beiden Ländern an einer Strategie für eine über den Beitrittsprozess hinausgehende Interessengemeinschaft in der EU, weil die Berechenbarkeit beider Staaten in den Augen des jeweils anderen in den letzten Jahren stark gelitten hat. (Die Konflikte um das transatlantische Verhältnis und die Irak-Krise sind nur zwei Beispiele dafür.)

Die für die deutsche Öffentlichkeit eher marginale Debatte über ein Zentrum gegen Vertreibungen und die wenig wahrgenommenen Aktivitäten der Preußischen Treuhand haben in Polen zu starken Irritationen in Politik und Öffentlichkeit geführt. Es entstand die Sorge - mindestens in den Medien verbreitet - , in einer erweiterten EU vor unerfüllbare Restitutionsansprüche gestellt zu werden. Diese Reaktion in Polen wurde von der deutschen Politik nicht angemessen wahrgenommen, wodurch wiederum in Polen zahlreiche Versuche, eine Gegenrechnung aufzumachen, ausgelöst wurden. Zahlreiche Städte lassen inzwischen die Verluste und Zerstörungen, die durch die deutsche Besatzung entstanden sind, für mögliche Entschädigungsansprüche errechnen. In der öffentlichen Debatte hat so eine von den Regierungen weitgehend ignorierte gegenseitige Aufrechnung eingesetzt, die weitere Schatten auf den Erweiterungsprozess und das deutsch-polnische Verhältnis wirft.

In diesem gegenseitigen Aufrechnungskreislauf droht eine weitere Eskalation, wenn beim Europäischen Gerichtshof die ersten Entschädigungs- oder Restitutionsklagen deutscher Vertriebener - und in der Folge vielleicht auch polnischer Städte - eingereicht werden. Unabhängig von der juristischen Relevanz solcher Forderungen muss mit starken politischen Rückwirkungen in der Öffentlichkeit gerechnet werden. Damit würde aus dem juristischen Problem ein außenpolitisches, das von den Regierungen in beiden Ländern auch als solches ernst genommen werden sollte.

Partnerschaft in der EU

Nach dem 1. Mai 2004 werden sich Deutschland und Polen als gleichberechtigte Partner in der erweiterten EU gegenüberstehen. Damit beginnt eine neue Phase in den deutsch-polnischen Beziehungen. Spätestens dann wird die Tatsache offenbar, dass beide Staaten sich in einer instabilen Übergangsphase befinden, in der sie ihre jeweilige Rolle als europäische und internationale Akteure neu definieren, ohne bisher ihr neues Selbstverständnis austariert zu haben. Dieser Prozess hat bereits zu starken Missverständnissen und Fehlinterpretationen geführt. Deutschland will als global player ernst genommen werden, Polen versucht, seine europäische Rolle stärker zu profilieren. In dieser Situation kommt man nicht an der gemeinsamen Verantwortung von Deutschen und Polen für die europäische Integration vorbei. Die Vorstellung, dass die stärksten - Frankreich und Deutschland - die Gestalt Europas allein definieren könnten, stößt in Polen auf Misstrauen und provoziert die Frage, wie die europäische Integration verstanden werden sollte. Sie verursacht in Polen unabhängig von ihrer Berechtigung eine Infragestellung der Loyalität der deutschen Partner.

Deutsche und polnische Politik darf nicht vergessen, dass Deutschland und Polen eine ganz spezielle Verpflichtung gegenüber EU-Europa haben und dass die deutsch-polnischen Beziehungen einen höchst symbolischen Wert für die europäische Integration besitzen. Die Frage, wie Deutschland sein Interesse in Ostmitteleuropa definiert und wie Deutsche und Polen ihre Interessen harmonisieren können, ist von dauerhafter Bedeutung für die europäische Integration.

Deutsche (und EU-) Politik muss sich bewusst sein, dass sich die jüngste EU-Erweiterung nicht zuletzt darin von früheren Erweiterungen unterscheidet, dass die neuen Mitglieder aus Ostmitteleuropa in die EU historische Erfahrungen einbringen, die sich über 40 Jahre von denen Westeuropas unterschieden und andere Bewertungen von politischen Phänomenen zur Folge haben. Diese kulturellen Unterschiede werden für längere Zeit trotz aller notwendigen Kompromisse beiderseits die Beziehungen innerhalb der EU-25 prägen.


Gemeinsame Interessen

Trotz aller neuen Zweifel existiert auch nach der EU-Erweiterung noch eine deutsch-polnische Interessengemeinschaft, die allerdings einer neuen Begründung bedarf. Sie wird in den nächsten Jahren vor allem auf folgenden Pfeilern beruhen:

  • einem gemeinsamen Interesse an einer solidarischen EU, wobei Solidarität strategisch und nicht allein normativ oder finanziell verstanden werden soll. Gerade die Attentate von Istanbul und Madrid haben gezeigt, dass in der zukünftigen EU allen Mitgliedern an umfassenden Solidaritätsmechanismen gelegen sein muss;
  • einem gemeinsamen Interesse an einer handlungsfähigen Union. Eine noch so starke Vertretung Polens in den entscheidenden EU-Gremien geht auf Dauer auch zu Lasten polnischer Interessen, wenn sie auf Kosten der Entscheidungsfähigkeit der gesamten EU geht. Die deutsche Seite muss aber intensiver lernen, dass ihre östlichen Nachbarn gleichrangige Partner sind und ihre Interessen früh in öffentlichen Debatten berücksichtigt werden müssen;
  • einem gemeinsamen Interesse an einer schnellen und umfassenden Integration Polens in die Innen- und Justizpolitik der EU und der vollen Ausschöpfung der bilateralen Möglichkeiten der Zusammenarbeit in diesem Bereich (grenzüberschreitende Überwachung, Verfolgung, Nacheile, Datenaustausch). Dies kommt sowohl dem deutschen Sicherheitsinteresse als auch dem polnischen Interesse nach einer möglichst schnellen Schengen-Integration und der psychologisch gerade in der Beitrittsphase wichtigen Aufhebung der Personenkontrollen an der polnischen Westgrenze entgegen;
  • einem gemeinsamen Interesse an einem Gelingen der ersten Beitrittsphase, das durch die administrativen Probleme Polens gefährdet wird. So besteht die Gefahr, dass Polen zu einem faktischen Nettozahler wird, weil es nicht in der Lage ist, die zur Verfügung gestellten Fördergelder abzurufen oder mitzufinanzieren, und damit die Legitimation der EU-Mitgliedschaft in der polnischen Bevölkerung unter starken Druck gerät;
  • einem gemeinsamen Interesse an der maximalen Ausschöpfung der wirtschaftlichen Wachstumschancen, die sich aus der Osterweiterung der EU für die polnische und deutsche Wirtschaft, insbesondere für die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der Klein- und Mittelbetriebe ergeben;
  • einem gemeinsamen Interesse an der Koordinierung der effektiven Nutzung der Strukturgelder der Europäischen Union für die Verbesserung der grenzüberschreitenden Verkehrsinfrastruktur sowie der stärkeren Einbindung der sog. Lissabon-Ziele in die deutsch-polnischen Projekte, die aus EU-Mitteln finanziert werden;
  • einem gemeinsamen Interesse an der Verbesserung der Zusammenarbeit im Bereich der Verwaltung - sowohl auf Regierungs- als auch auf der regionalen Ebene;
  • einem gemeinsamen Interesse an der Definition gemeinsamer Ziele und Positionen im Bereich der europäischen Agrar- und der europäischen Regionalpolitik;
  • einem gemeinsamen Interesse an einer Gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Union. Zu diesem Zweck ist die Initiativrolle eines„Kerns” unerlässlich, dem sich anzuschließen ausdrücklich jedem EU-Mitgliedsstaat freistehen muss. Ohne eine Gemeinsamkeit von Deutschland, Frankreich und Großbritannien in den Grundfragen einer GASVP lässt sich die Kohärenz der EU nicht verstärken. Polen sollte als größtes neues EU-Mitglied seinen Platz in dem„Kern” sehen und in diesen „Kern” aufgenommen werden. Damit würde der trilateralen Zusammenarbeit Paris-Berlin-Warschau („Weimarer Dreieck”) eine Stabilisierung durch Ausweitung zuteil;
  • einem gemeinsamen Interesse an einer stabilen Nachbarschaftspolitik der EU. Polen und Deutsche stellen die stärksten Befürworter einer nachhaltigen Einbindung der Ukraine, von Belarus, Moldawien und Russland dar.

In dieser Situation am Beginn einer neuen Phase der europäischen und der deutsch-polnischen Beziehungen ist energisches und effektives Handeln angesagt. Die bilateralen Beziehungen bedürfen mehr Konsultation und Koordination, als das in der letzten Zeit der Fall war. Zu diesem Zweck ist vor kurzem die Berufung eines Koordinators für die deutsch-polnischen Beziehungen vorgeschlagen worden, wie es ihn für die deutsch-französischen Beziehungen seit einigen Jahren gibt. Die ernüchternden Erfahrungen mit dieser Einrichtung sollten nicht davon abhalten, die strategische Bedeutung der deutsch-polnischen Beziehungen in der EU-25 mit einem solchen Schritt zu belegen, wobei auch die Berufung von regionalen Koordinatoren (Länder/Wojewodschaften) in die Überlegungen einbezogen werden könnte.

Die neue Herausforderung

Deutschland wie Polen laufen Gefahr, den historischen Moment der EU-Erweiterung zu verspielen, wenn sich im Jahr danach (2005) die Stimmung verbreiten sollte, von der Erweiterung vor allem Nachteile zu erfahren oder gar bei den Verhandlungen über den Tisch gezogen worden zu sein. Die Regierungen in Warschau und Berlin müssen jetzt besondere Anstrengungen unternehmen, negativen Effekten der Erweiterung zu begegnen und die Bürger zu überzeugen, dass die Bilanz bereits kurzfristig (2005) und mittelfristig (2010) positiv ausfällt. Der 1. Mai 2004 ist nicht nur der - positive - Abschluss des Ringens um die institutionelle Integration Europas, sondern auch der Beginn einer neuen Phase. In Deutschland und in Polen muss die gesellschaftliche Zustimmung zu der EU-Erweiterung erst noch gewonnen werden.

Das Projekt „Kopernikus-Gruppe” wird von der Robert Bosch Stiftung finanziert.