Kopernikus-Gruppe

Mitteilung der Kopernikus-Gruppe

Die Kopernikus-Gruppe hat sich entschlossen, wenige Wochen vor der Aufnahme Polens in die Europäische Union der Öffentlichkeit ein Thema zur Diskussion zu stellen, das den deutsch-polnischen Expertenkreis in seinen Sitzungen schon mehrfach beschäftigt hat, weil es ständig aktuell ist und dennoch wenig beachtetet wird. Die Kopernikus-Gruppe hat sich mit der Situation im deutsch-polnischen Grenzgebiet befasst. Das vorliegende Arbeitspapier VII fasst die vorgenommene Bestandsaufnahme und Empfehlungen an die Politik zusammen.

Dr. Dieter Bingen, Darmstadt                                        März 2004
Prof. Dr. Marek Zybura, Stettin


Arbeitspapier VII der Kopernikus-Gruppe
Der Beitritt naht: Dringender Handlungsbedarf im deutsch-polnischen Grenzgebiet

Die Kontroversen im Zusammenhang mit dem Irak-Krieg, die stark emotional geprägte Debatte über ein Zentrum gegen Vertreibungen sowie die gravierenden Meinungsverschiedenheiten über die zukünftige Verfassung der EU haben im Vorfeld des am 1. Mai 2004 anstehenden EU-Beitritts Polens zu einer Verschlechterung des politischen Klimas zwischen Berlin und Warschau geführt. Das Scheitern des Brüsseler EU-Gipfels im Dezember 2003 führte zu Verbitterung und Enttäuschung in breiten Kreise der deutschen Eliten gegenüber dem Nachbarn Polen. Das Interesse an der Osterweiterung Richtung Polen und die Bereitschaft, die dafür notwendigen Anstrengungen zu unternehmen, haben in Berlin infolge des polnischen Verfassungsvetos nachgelassen. Stattdessen werden alternative Szenarien der zukünftigen Integration diskutiert, in denen der Nachbar Polen keine Hauptrolle mehr spielt, eine verstärkte Integration der Altmitglieder der EU dagegen an Gewicht gewinnt.

Die bilateral dringend notwendigen Vorbereitungen auf die Umwandlung der 476 km langen deutsch-polnischen Grenze an Oder und Neiße zu einer Binnengrenze der Europäischen Union sind damit in den Hintergrund getreten. Zwischen den deutschen und polnischen Regierungseliten findet derzeit kein ausreichender Dialog über die praktische Handhabung der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Osterweiterung der EU statt. Vor allem für das ohnehin wirtschaftlich schwache deutsch-polnische Grenzgebiet könnte dies Standortnachteile bringen, den erwarteten Investitionsschub verzögern und zu unnötigen Spannungen in Politik und Wirtschaft führen.

Knapp zwei Monate vor der EU-Erweiterung bleiben an der deutsch-polnischen Grenze grundlegende Fragen zur konkreten Anwendung der vier EU-Freiheiten des Kapital-, Dienstleistungs-, Personen- und Warenverkehrs unbeantwortet. Der Assoziierungsvertrag Polens mit der EU sowie der EG-Vertrag selbst regeln diese Fragen (die ausgehandelten Übergangsfristen inbegriffen) in einem allgemeinen rechtlichen Rahmen. Durch besondere innerstaatliche Regelungen könnten die theoretisch ab 1.5.2004 für polnische Bürger in Deutschland und deutsche Bürger in Polen geltenden EU-Freiheitsrechte jedoch verwässert werden. Darüber hinaus enthält die Beitrittsakte zum Beitrittsvertrag der zehn neuen Mitgliedsstaaten in den Artikeln 38 und 39 besondere Schutzklauseln, die weder im Vertrag von Rom noch im Falle der früheren Erweiterungen der Europäischen Union enthalten gewesen sind. Diese Schutzklauseln, die sich auf den Binnenmarkt sowie die Bereiche Justiz und Inneres beziehen, können auf Antrag eines der Altmitglieder der EU zu einem zeitweiligen Ausschluss eines der neuen Beitrittsstaaten aus bestimmten Integrationspolitiken der EU im Falle befürchteter Störungen wegen der Nichteinhaltung der EU-Regeln führen. Laut einer Expertise von Prof. Martin Seidel vom Zentrum für Europäische Integrationsforschung der Universität Bonn "spiegeln die Schutzklauseln die unterschwellige Erkenntnis wider, dass sich die Osterweiterung, die aus politischen Gründen für unausweichlich erachtet wurde und die inzwischen ebenfalls aus politischen Gründen keinen weiteren zeitlichen Aufschub mehr vertrug, unter Umständen auf Kosten der absoluten Beitrittsreife der neuen Mitgliedsstaaten geht". Da die Schutzklauseln bereits vor dem Beitritt als eine Art Vorsichtsmaßnahme angewandt werden können, kann nicht ausgeschlossen werden, dass in der Situation einer starken politischen Verstimmung, wie sie zeitweise zwischen Polen und Deutschland herrschte, dieses Instrument eher eingesetzt werden könnte, als wenn sich beide Seiten auf einen Dialog über die maximale Ausschöpfung der Chancen der Osterweiterung konzentrieren würden.

Das ungünstige politische Klima, die starken protektionistischen Tendenzen auf Grund der schwierigen Wirtschaftslage in Deutschland sowie die bürgerfremde, autoritäre und korruptionsanfällige Verwaltung in Polen lassen eine Auslegung des EG-Rechts vermuten, die in erster Linie den Status quo schützt und sich gegen die Liberalisierung des Wirtschafts-, Dienstleistungs-, Kapital- und Personenverkehrs sperren wird. Das Informationssystem und die Durchführungsbestimmungen von Schengen sowie die Gefahr seitens des internationalen Terrorismus wurden monatelang von polnischen und deutschen Politikern allzu gerne als Vorwand benutzt, um an den Passkontrollen an der deutsch-polnischen Grenze auch nach der Erweiterung der EU nichts zu verändern und die Zulassung der Grenzüberschreitung unter Vorlage des Personalausweises zu verzögern. Nach den neuesten Informationen soll ab 1.5.2004 der deutsche und der polnische Personalausweis als Reisedokument respektiert werden. Ungeklärt bleibt jedoch, ob es an der deutsch-polnischen Grenze zwei Abfertigungsspuren für EU- und Nicht-EU-Bürger geben wird. Überraschenderweise signalisieren polnische Bewohner der Grenzgebiete, dass die Personenkontrollen an der Grenze nach Deutschland im Vorfeld des EU-Beitritts verschärft statt gelockert werden. So werden polnische Bürger immer öfter nach dem Ziel ihres Aufenthalts in Deutschland ausgefragt und zu der Angabe persönlicher Daten von Bekannten, Freunden oder Geschäftspartnern in Deutschland gezwungen. Die vom deutschen Finanzministerium ab dem 1.1.2004 geplante Offensive gegen die Schwarzarbeit lässt zunehmende Kontrollen polnischer Bürger seitens der deutschen Zollpolizei erwarten. Knapp 5000 Zollbeamten sollen dafür eingesetzt werden. Mit Hilfe einer begleitenden Öffentlichkeitsarbeit soll die deutsche Bevölkerung zu einer Art„Hexenjagd” auf die Schwarzarbeiterinnen und Schwarzarbeiter (die bekanntlich vor allem aus Polen kommen) ermuntert werden. Da solche Initiativen sehr schnell außer Kontrolle geraten, sollten die politischen und wirtschaftlichen Schäden der geplanten Kampagne im voraus bedacht werden.

Wirtschaftsexperten und Juristen befürchten zudem, dass es durch die Aufnahme der EU-Grundrechtecharta in die EU-Verfassung und die ebenfalls in dem Verfassungsentwurf verankerte Kompetenzerweiterung der EU in der Sozial- und Gesundheitspolitik langfristig zu einer Einschränkung der wirtschaftlichen Grundfreiheiten kommen könnte. Der freie Warenverkehr könnte beispielsweise auf Grund gesundheitspolitischer Eingriffe der EU-Kommission begrenzt werden.

Die Grenzschutz- und Zollbehörden beiderseits der Grenze verfügen bislang über keinerlei gemeinsamen Aktionsplan, wie die Kontrollen ab dem 1.5.2004 gestaltet werden. Zahlreiche Fragen im Zusammenhang mit der bevorstehenden Umwandlung der deutschen und polnischen Zollämter in sog. Durchfahrtszollämter der EU sind noch ungeklärt. Da sich diese Zollämter jeweils auf deutschem oder polnischem Hoheitsgebiet befinden werden, sind hier auf ministerieller Ebene noch zahlreiche Probleme zu bewältigen. Vor allem im Grenzgebiet beobachtet man deswegen eine zunehmende Verwirrung der lokalen Wirtschaftsakteure und Verwaltungen, die dem Projekt„EU-Erweiterung” mit Skepsis gegenüberstehen. Es kann erwartet werden, dass vor allem die Zollbehörden in den nächsten Monaten mit einer Flut von Anfragen konfrontiert werden, die sie nicht werden bewältigen können, da auf bilateraler Ebene zwischen Deutschland und Polen keine Absprachen bezüglich der besonderen Regelungen, Ausnahmefälle und Implikationen der Übergangsfristen getroffen worden sind.

Deutsch-polnisches Grenzgebiet als potentielle Wachstumsregion

Das deutsch-polnische Grenzgebiet zeichnet sich durch eine schwache wirtschaftliche Dynamik aus. In der Nachkriegszeit war die Entwicklung dieses Gebiets zu einem großen Teil den Interessen des Militärs und des Grenzschutzes untergeordnet, auch die Truppen der sowjetischen Armee waren in dieser Region stationiert. Die Gebiete in unmittelbarer Grenznähe waren damit über Jahrzehnte von einer wirtschaftlichen und touristischen Entwicklung weitgehend ausgeschlossen. Nach der deutschen Wiedervereinigung und dem politischen Umbruch in Polen begann eine neue Etappe der grenznahen Zusammenarbeit. Sie führte vor allem zu einer bedeutenden Intensivierung der Kontakte auf lokaler Ebene zwischen der Bevölkerung und den regionalen Verwaltungen der Bundesländer und den benachbarten Wojewodschaften. Die Auswirkung dieser Kontakte auf die wirtschaftliche Belebung des Grenzgebiets blieb jedoch bis heute weitgehend aus.

Am Vorabend des EU-Beitritts Polens sind die wirtschaftlichen Kooperationsverbindungen im Grenzgebiet relativ schwach ausgeprägt. Die Mehrheit der polnischen Unternehmer bevorzugt Partner aus den westlichen Teilen Deutschlands, auch die deutschen Investoren„überspringen” das Grenzgebiet und wählen Standorte, die in Zentralpolen, in Schlesien oder in Großpolen liegen.

Ein besonderes Problem des deutsch-polnischen Grenzgebiets liegt in der schwachen wirtschaftlichen Entwicklung beiderseits der Grenze und dem Kapitalmangel der dort angesiedelten Unternehmen. Nach der Wiedervereinigung kam es in den neuen Bundesländern zu einer radikalem Umstrukturierung. Die Folge war die Schließung zahlreicher Unternehmen. In Ostdeutschland verzeichnet man heute die höchste Arbeitslosenquote, eine starke Abwanderung in den Westen und eine schwache finanzielle Kapazität der Klein- und Mittelbetriebe.

Die wirtschaftliche Lage auf der polnischen Seite des Grenzgebiets ist ebenfalls problematisch. Die westlichen Wojewodschaften gehören zu den Gebieten mit der höchsten Zahl der Arbeitslosen in Polen. In der wirtschaftlichen Entwicklung verzeichnet man zwar die landesweit größte Dichte der Klein- und Mittelbetriebe, doch handelt es sich dabei vor allem um kleine Familienunternehmen, die einem internationalen Wettbewerb nicht gewachsen sind. Der Mangel an günstigen Kreditmöglichkeiten wirkt sich zusätzlich auf den Mangel an Investitionskapital auf der polnischen Seite der Grenze aus.

Mentale und bürokratische Barrieren

Die schwache wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Ostdeutschland und Westpolen ist ebenfalls auf mentale Barrieren und Vorurteile gegenüber dem Nachbarn zurückzuführen. Ein wichtiger Grund für das bisher bescheidene Interesse der ostdeutschen Unternehmer an einem Engagement auf der polnischen Seite der Grenze liegt in den weiterhin starken Vorurteilen gegenüber Polen und dem Mangel an ausreichender Information über die dortigen Investitionsbedingungen. Die Erfahrungen der wenigen ostdeutschen Unternehmer, die sich entschlossen haben, auf der polnischen Seite der Grenze eine Firma zu gründen, sprechen zudem nicht immer für ein gutes Investitionsklima in Polen. Bürokratie, Gesetzeswirrwarr und Korruption werden als wichtigste Probleme bei einer Unternehmensgründung in Polen genannt. Untersuchungen von Wirtschaftsforschungsinstituten zeigen jedoch, dass Unternehmer, die sich trotz dieser Hürden auf eine Kooperation mit einem polnischen Partner eingelassen haben, der Osterweiterung der EU zuversichtlicher gegenüberstehen als Unternehmer, die diesen Schritt nicht gewagt haben.

Polnische Unternehmer, die sich für eine Firmengründung in Deutschland entschlossen haben weisen ebenfalls auf bürokratische Hindernisse hin, die vor allem mit dem starken Schutz der heimischen Unternehmen verbunden sind. Hingewiesen wird vor allem auf eine von Distanz und Misstrauen geprägte Haltung vieler lokaler Behörden. Eine Rolle spielen dabei nicht nur die typischen Vorurteile gegenüber Polen, aber auch ein für Ostdeutschland charakteristischer Lokalpatriotismus, der auch dann zu einer Abgrenzung gegenüber Fremden führt, wenn dies ökonomisch unbegründet ist. Dies äußert sich beispielsweise in der grundlegend ablehnenden Haltung gegenüber der Vermietung leerstehender Wohnungen an polnische Bürger.

Fehlende Verkehrsprojekte im Grenzraum

Die in den vergangenen Jahren von Wirtschaftsexperten und Politikern immer wieder hervorgehobenen Chancen des deutsch-polnischen Grenzgebiets als einer Wachstumsregion im vereinten Europa werden in den ersten Jahren nach dem EU-Beitritt Polens nicht voll genutzt werden können. Dies liegt vor allem an dem Fehlen einer modernen Infrastruktur im Grenzgebiet. Zum Zeitpunkt des EU-Beitritts wird es zwischen Polen und Deutschland immer noch keine Autobahnverbindung geben. Die Fertigstellung der Autobahnverbindung zwischen Breslau und Dresden sowie der Autobahnverbindung zwischen Warschau und Berlin wird noch viele Jahre in Anspruch nehmen. Lediglich zwischen Warschau und Berlin besteht eine Intercity-Verbindung. Die Zugfahrten auf den Strecken Breslau-Berlin oder Stettin-Berlin sind weiterhin zeitaufwendig und umständlich. Die Fertigstellung wichtiger Infrastrukturprojekte, wie die Öffnung neuer Grenzübergänge oder die Verkehrsanbindung im Dreiländereck zwischen Polen, Deutschland und der Tschechischen Republik, scheitern immer wieder an prozeduralen Hürden und nationalen Befindlichkeiten. Es ist verwunderlich, dass unter der jüngsten, 200 Mrd. Euro teuren Wachstumsinitiative der Europäischen Union kein einziges Projekt zu finden ist, das sich auf das deutsch-polnische Grenzgebiet bezieht.

Wettbewerbsdruck und Liberalisierung als Ansporn für wirtschaftliches Wachstum

Für die wirtschaftliche Aktivierung des deutsch-polnischen Grenzgebiets wird außer dem Aufbau einer modernen Verkehrsinfrastruktur auch eine weitgehende Liberalisierung der heute noch stark auf Protektionismus ausgerichteten deutschen Wirtschaftspolitik von entscheidender Bedeutung sein. Der polnische Haushalt kann sich einen staatlichen Interventionismus, wie er in Deutschland üblich ist, nicht leisten. In den östlichen Bundesländern können private Investoren mit öffentlichen Unterstützungen in Höhe von bis zu 35% der Investitionssumme rechnen. Die in Aussicht gestellte Ostförderung im Rahmen des Solidarpakts II mit einer Summe von 105 Mrd. Euro in den Jahren 2005-2019 soll der ostdeutschen Wirtschaft trotz wachsender Kritik seitens deutscher Wirtschaftsexperten noch einmal auf die Beine helfen. In Polen fehlt es ebenfalls an Mechanismen, die die heimischen Unternehmer und Handwerker in einem Maße schützen würden, wie es auf der deutschen Seite des Grenzgebiets oft praktiziert wird. Somit wird es für die wirtschaftliche Belebung des Grenzgebiets ausschlaggebend sein, in welchem Maße die von der Bundesregierung angepeilten Reformen in die Praxis umgesetzt werden und mit welchem Maß der Liberalisierung des ostdeutschen Marktes in Zukunft zu rechnen sein wird. Ein stärkerer Wettbewerbsdruck könnte gerade in Ostdeutschland zahlreiche lokale Initiativen in Bewegung setzen, die gegenwärtig noch relativ schwach ausgeprägt sind. Anders als in Polen, wo die Unternehmer ihre ersten kapitalistischen Erfahrungen im Grenzhandel sammeln mussten, wurde über Ostdeutschland nach der Wiedervereinigung sofort der finanzielle und soziale Schutzschirm der reichen Alt-Bundesrepublik gespannt. Dies hat zu einer weitgehenden Lahmlegung des Unternehmergeistes geführt und ist einer der Hauptgründe, weshalb es gerade in Ostdeutschland eine solche Angst vor dem Konkurrenzdruck der Klein- und Mittelbetriebe sowie der Handwerker aus Polen gibt. Im Prinzip wird zum 1.5.2004 auch Ostdeutschland in einer besonderen Weise der EU beitreten.

Bedeutung der Klein- und Mittelbetriebe

Die Mehrheit der Wirtschaftsanalysten ist sich einig, dass die Osterweiterung der EU keinen Investitionsboom zur Folge haben wird, der mit der Öffnung der postkommunistischen Staaten gegenüber dem westlichen Kapital in den neunziger Jahren vergleichbar wäre. Die Folgen dieser Öffnung wurden bereits konsumiert, die Mehrheit der deutschen Unternehmen hat sich bereits in Ostmitteleuropa etabliert, und so ist es auch in Polen. Die neuen wirtschaftlichen Impulse der Osterweiterung der EU werden deshalb vor allem auf die Gründung neuer regionaler Wirtschaftsräume und auf die Entwicklung der Klein- und Mittelbetriebe zurückgehen. Für das deutsch-polnische Grenzgebiet wird vor allem das zweite Szenario zutreffen, da die Schaffung regionaler Zentren vor allem mit dem Bestehen moderner Kommunikationsnetze verbunden ist, die im deutsch-polnischen Grenzraum fehlen. Dieses Defizit führt schon jetzt dazu, dass sich ausländische Investoren zunehmend auf andere Regionen in den Beitrittsländern konzentrieren. Die Nutznießer eines bereits heute funktionierenden Autobahnsystems sind vor allem die Slowakei, die Tschechische Republik und Ungarn. Dies macht sich bereits in den zunehmenden Wirtschaftskontakten Sachsens mit den oben genannten Ländern im Bereich der Umwelttechnologie und der Autoindustrie bemerkbar. Die Möglichkeiten, die sich gerade im Bereich der Umwelttechnologie für ostdeutsche Unternehmen in Polen eröffnen könnten, wurden bislang wenig wahrgenommen und werden über Kontakte zwischen den benachbarten Bundesländern und Wojewodschaften weder gebührend gefördert noch gesteuert. Unterdessen wird Polen in den nächsten Jahren Milliarden Euro in die Umwelttechnik investieren müssen, um den Anforderungen des EU-Beitritts zu genügen und den Zeitplan der Übergangsfristen einzuhalten.

Die Binnengrenze als potentieller Konfliktherd

Die Aufhebung der Zollkontrollen und die Vereinheitlichung der Verordnungen im Zuge der Übernahme des Acquis Communautaire durch Polen müsste theoretisch zu einer Vereinfachung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit führen und neue Existenzgründungen im Grenzgebiet erleichtern. Voraussetzung dafür ist allerdings der politische Wille zu einer maximalen Ausschöpfung der Möglichkeiten, die sich (unter Beachtung der ausgehandelten Übergangsregelungen) aus den vier EU-Freiheiten des Kapital-, Dienstleistungs-, Waren- und Personenverkehrs ergeben. Da dieser Wille weder in Deutschland noch in Polen derzeit gegeben ist, muss befürchtet werden, dass es infolge der EU-Erweiterung zunächst zu einem Anwachsen der Konflikte beiderseits der Grenze kommen wird. Da infolge des EU-Beitritts Polens der Bankrott zahlreicher polnischer Kleinbetriebe zu befürchten ist, die dem Konkurrenzdruck nicht gewachsen sein werden, weil sie die hohen Anpassungskosten an die EU-Standards nicht tragen können, und ebenso viele ostdeutsche Handwerker auf Grund der Konkurrenz aus Polen ihre Betriebe werden aufgeben müssen, kann in den ersten Jahren nach der Osterweiterung der EU von einer Verschlechterung des politischen und wirtschaftlichen Klimas im deutsch-polnischen Grenzgebiet ausgegangen werden. Umso wichtiger ist es, diese Konfliktfelder bereits im Vorfeld der Osterweiterung der EU zu erkennen und sich gemeinsam auf ihre Lösung vorzubereiten. Gleichzeitig sollten die bürokratischen Barrieren reduziert werden, die einer stärkeren wirtschaftlichen Kooperation im Grenzgebiet im Wege stehen.

Empfehlungen an die Politik:

  1. Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschlands und der Republik Polen sollten eine Task-Force einberufen, die sich mit den konkreten Auswirkungen der Osterweiterung der EU auf den deutsch-polnischen Grenzverkehr befasst. Dabei sollte vor allem die praktische Umsetzung der vier EU-Freiheiten im Waren-, Dienstleistungs-, Kapitalverkehr sowie bei der Freizügigkeit der Personen überprüft werden.
  2. Die deutsch-polnische Regierungskommission für grenznahe und regionale Zusammenarbeit sollte ihre Arbeits- und Entscheidungsprozeduren den Herausforderungen des EU-Beitritts Polens anpassen. Die ausschließlich bilateral ausgerichteten Handlungsmodelle und Prozeduren verhindern die optimale Ausschöpfung der Chancen, die sich für die Wirtschaft der beiden Länder aus der Erweiterung der EU ergeben.
  3. Die Zusammensetzung der polnischen Vertreter in der deutsch-polnischen Regierungskommission bedarf einer dringenden Änderung zugunsten einer stärkeren Vertretung des für die Regionalpolitik und die Nutzung der Strukturgelder der Europäischen Union verantwortlichen Ministeriums für Wirtschaft, Arbeit und soziale Angelegenheiten. Dieses für den EU-Beitritt Polens strategische Ministrium ist weiterhin nur mit einem Vertreter in dieser Kommission präsent.
  4. Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen sollten sich viel stärker für die wirtschaftliche Belebung des deutsch-polnischen Grenzgebiets engagieren. Gerade das Grenzgebiet könnte sich im Zuge der Osterweiterung der EU zu einer Wachstumsregion in der Mitte Europas entwickeln. Dadurch könnten auch das Wirtschaftswachstum und der Arbeitsmarkt in Ostdeutschland belebt werden. Ein solches Engagement auf der höchsten politischen Ebene würde eine wichtige Signalwirkung für die regionalen und lokalen Verwaltungen im Grenzgebiet haben und den Abbau von Vorurteilen und Behinderungen für den freien Wirtschafts- und Personenverkehr fördern.
  5. Sowohl polnische als auch deutsche Lokalpolitiker im Grenzgebiet sollten die bis zur Osterweiterung der EU verbleibende Zeit und die darauf folgenden Monate in einem stärkeren Maße für die Schaffung eines günstigen Investitionsklimas nutzen.
  6. Die zukünftige Regionalpolitik der Europäischen Union und die beabsichtigte Neuordnung der Strukturmittel sollte Gegenstand deutsch-polnischer Konsultationen werden. Die hohe Förderung Ostdeutschlands im Rahmen des Solidarpakts II und der Strukturmittel der EU sowie die Polen in Aussicht gestellte höchste EU-Förderung unter den neuen EU-Mitgliedsstaaten macht eine deutsch-polnische Koordination im Bereich der Infrastrukturmaßnahmen dringend notwendig.
  7. Die Bürger sollten vor dem Inkrafttreten der deutsch-polnischen Binnengrenze am 1.5.2004 ausführlich und in gut verständlicher Form über die Konditionen, darunter auch über die Sonderregelungen und Übergangsfristen im Bereich der Personen- und Zollkontrollen, informiert werden. Empfehlenswert wäre die Einrichtung entsprechender Links auf den Internetseiten der polnischen und der deutschen Außenministerien und Wirtschaftsministerien (einschl. der deutschen Landwirtschaftsministerien) sowie eine gezielte Information seitens der Bürgermeister- und Gemeindeämter unmittelbar im deutsch-polnischen Grenzgebiet.

Das Projekt „Kopernikus-Gruppe” wird von der Robert Bosch Stiftung finanziert.