Kopernikus-Gruppe

Mitteilung über die 8. Sitzung der Kopernikus-Gruppe

Am 28. und 29. November 2003 traf sich in Breslau auf Einladung des Deutschen Polen-Instituts Darmstadt und des Deutschland- und Nordeuropainstituts Stettin im Willy Brandt Zentrum für Deutschland- und Europastudien der Universität Breslau/Wroclaw die aus deutschen und polnischen Experten bestehende „Kopernikus-Gruppe” zu ihrer achten Sitzung. Schwerpunkt der Beratungen waren Stil und Inhalt des Streits um ein „Zentrum gegen Vertreibungen” und die Auswirkungen auf das deutsch-polnische Verhältnis.

Das vorliegende Arbeitspapier VI der „Kopernikus-Gruppe” fasst die Bestandsaufnahme und daran anschließende gemeinsame Überlegungen zusammen.

Dr. Dieter Bingen, Darmstadt                                 11. Dezember 2003
Prof. Dr. Edward Wlodarczyk, Stettin


Arbeitspapier VI der Kopernikus-Gruppe
"Europäisches Zentrum gegen Vertreibungen"
Handlungsempfehlungen für eine Konzeption

Der Stil des deutsch-polnischen Streits um ein „Zentrum gegen Vertreibungen” ist beunruhigend. Deutsche und Polen hatten im letzten Jahrzehnt einen Dialog um schwierige Kapitel der Vergangenheit entwickelt, der für andere Völker beispielgebend war - und der zeigte, dass eine gemeinsame Aufarbeitung nicht nur möglich ist, sondern befreiend wirken kann. Nicht zuletzt die Vertriebenen und die in den ehemals deutschen Gebieten lebenden Polen haben einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet. Deutsche und polnische Wissenschaftler stimmen heute in der Beurteilung der historischen Vorgänge weitgehend überein.

Die ethnischen Säuberungen während der Kriege auf dem Balkan in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts haben das Vertreibungsleid überall in Europa wieder zu einem Thema werden lassen. In Deutschland wurde das Bedürfnis, das eigene Schicksal von Flucht, Vertreibung und Integration in der Nachkriegsgesellschaft zu debattieren und zu dokumentieren, in der jüngsten Zeit besonders stark. Nachbarvölker sahen sich herausgefordert, darauf zu reagieren, zu einem großen Teil mit Sorge und Ablehnung. Während dessen haben sich der Deutsche Bundestag, aber auch der Sejm der Republik Polen (in der Debatte über ein Zentrum der Erinnerung der Völker Europas) für eine Erinnerung im Geiste europäischer Verständigung ausgesprochen.

In der aktuellen politischen und publizistischen Debatte um ein „Zentrum gegen Vertreibungen” wurden die Erfahrungen und Chancen der deutsch-polnischen Annäherung nicht genutzt. Es kam stattdessen zu einem Rückfall in Denkmuster und Stereotype, die als längst überwunden galten. In Polen wuchs bei manchen die Befürchtung, die Deutschen strebten ein neues Geschichtsbild an, in dem sie sich vor allem als ein Volk der Opfer darstellen würden, und bereiteten damit auch Ansprüche auf Entschädigung für verlorenes Eigentum in den früheren deutschen Ostgebieten vor. In Deutschland entstand der Eindruck, in Polen wolle man sich nicht mit dem schmerzlichen Komplex der Vertreibungen beschäftigen und darüber hinaus den Deutschen verbieten, ihrer Opfer zu gedenken. Diese Reaktionen ignorieren, dass in Polen die Vertreibung der Deutschen schon lange kein Tabuthema mehr ist und dass in Deutschland Restitutionsansprüche Vertriebener nur in politischen Randgruppen erhoben werden. Zudem wurde übersehen, dass eine gemeinsame Beschäftigung mit den Vertreibungen den Blick für das Leid der anderen öffnen kann - den Deutschen zum Beispiel für das in Deutschland weitgehend unbekannte Schicksal der nichtjüdischen Polen unter der NS-Herrschaft - einschließlich der Zwangsumsiedlungen - und der Millionen Polen, die im Gefolge des Zweiten Weltkriegs ihre Heimat in Polens früheren Ostgebieten (Kresy) verloren.

In der verfahrenen Lage haben die Präsidenten Aleksander Kwasniewski und Johannes Rau mit ihrer gemeinsamen Erklärung vom 29. Oktober 2003 in Danzig einen Ausweg gewiesen. Darin betonen sie drei Prinzipien:

  • Jede Nation hat das Recht, ihrer Opfer zu gedenken und sie zu betrauern.
  • Diese Erinnerung und Trauer darf aber nicht dazu missbraucht werden, die Völker Europas erneut zu spalten. Es darf auch keinen Raum für gegenseitiges Aufrechnen und Entschädigungsansprüche mehr geben.
  • Die Europäer sollen Umsiedlungen, Flucht und Vertreibungen im 20. Jahrhundert in Europa gemeinsam neu bewerten und Formen und Strukturen für einen europäischen Dialog finden.

Die Kopernikus-Gruppe schlägt vor:  

1.

Polen und Deutsche ergreifen die Initiative für diesen europäischen Dialog. Die beiden Völker sind besonders betroffen, haben Ursachen und Wirkungen bereits gemeinsam tiefgreifend erforscht und Ansätze für eine gemeinsame Erinnerungskultur geschaffen. Andere Völker sind aufgerufen, sich an einem solchen Dialog zu beteiligen. Die Komplexität der Vertreibungsschicksale und die Erfahrungen mit den kontroversen Diskursen in so vielen Ländern, von Finnland über das Gebiet der früheren Sowjetunion/Russlands sowie Tschechien, Polen und Deutschland bis zum Balkan und in die Türkei/Armenien zeigen jedoch: Man kann wohl nicht erwarten, dass so viele Gesellschaften sich in nächster Zukunft auf ein gemeinsames Projekt verständigen werden. Eine rasche Initiative ist aber notwendig, damit der Streit um ein „Zentrum gegen Vertreibungen” nicht weiter die Völker trennt und der Dialog endlich wieder eine Chance bekommt.

2.

Die Präsidenten Deutschlands und Polens berufen einen internationalen Rat der Weisen ein - Persönlichkeiten mit politischer und moralischer Autorität, die für diesen - über das Bilaterale hinausweisenden - europäischen Ansatz stehen. Dieser Rat der Weisen formuliert Empfehlungen für Leitlinien und Organisationsform (Organe) eines „Europäischen Zentrums gegen Vertreibungen” (EZgV).

3.

In den Organen des EZgV haben anerkannte Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Gesellschaft und den betroffenen Gruppen einen Sitz. Vertreter der Vertriebenen aus den Ländern, die diese Initiative unterstützen, sollen beteiligt werden.

4.

Dabei sollen folgende Prinzipien berücksichtigt werden:

  • Hauptanliegen ist die Entwicklung einer Erinnerung im Geiste der Verständigung unter den Völkern Europas. Die wissenschaftlich fundierte Darstellung der Vertreibungen in ihren Ursachen und Wirkungszusammenhängen mit Ausstellungscharakter wird verbunden mit zukunftsorientierter, pädagogischer Arbeit.
  • Das Ziel des gemeinsamen europäischen Dialogs und Gedenkens lässt sich nicht auf einen -zentralen Ort beschränken. Das EZgV kann man auch als Netz verschiedener miteinander verbundener Standorte verstehen.
  • Hauptort könnte Görlitz/Zgorzelec sein. Vertreibung ist das Schicksal der Bevölkerung in beiden Teilen der Stadt. Zehntausende deutsche Flüchtlinge von jenseits der Neiße prägten nach dem Zweiten Weltkrieg das deutsch gebliebene Görlitz diesseits der Neiße, zehntausende Menschen aus Zentralpolen, aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten und aus Griechenland (Bürgerkriegsflüchtlinge) wurden in Zgorzelec, dem polnisch gewordenen Teil der Stadt jenseits der Neiße, angesiedelt. Görlitz/Zgorzelec steht wie kein anderer Ort an der deutsch-polnischen Grenze für das Los der Vertreibung als Folge des Zweiten Weltkriegs.
  • An anderen symbolträchtigen Orten in Europa entstehen Dependancen, so dass sich nach und nach ein europäisches Netzwerk bildet, das offen bleibt für weitere Staaten und Erinnerungsorte. In Polen war bereits Breslau im Gespräch, in Deutschland Berlin.
  • In Berlin könnte im institutionellen Rahmen des Deutschen Historischen Museums ein Ort für die Darstellung der Geschichte der Deutschen in den historischen deutschen Provinzen, in Ostmittel- und Südosteuropa sowie von Flucht, Vertreibung und Integration in der deutschen Nachkriegsgesellschaft und für das Gedenken daran entstehen.
  • Bei der Auswahl von Orten ist neben ihrer symbolischen Bedeutung zu berücksichtigen, dass in größeren und touristischen Städten mehr Besucher eine Dependance eines EZgV nutzen. An den dezentralen Orten soll neben der alle Orte verbindenden und verpflichtenden Aufgabe, die europäischen Vertreibungen in ihren Ursachen und Wirkungszusammenhängen zu erklären, die jeweilige nationale, regionale und lokale Vertreibungsgeschichte breiter dargestellt werden.

Das Projekt Kopernikus-Gruppe wird von der Robert Bosch Stiftung gefördert.