12.09.2023

Zwischen den Polen – Polens Linke kämpft um Sichtbarkeit in einem polarisierten Wahlkampf

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„Mein Herz trag ich links!“ (Serce mam po lewej) lautet der Slogan der Lewica (Linke), mit dem die Formation am 2. September in Lodz offiziell den Wahlkampf einläutete. Dabei steht die linke Parteienallianz vor einer schwierigen Aufgabe. Anders als bei den Parlamentswahlen vor vier Jahren, als sie mit dem Pfund der wiedergewonnenen politischen Einheit der zuvor zersplitterten Linken und der Rückkehr in den Sejm nach vierjähriger Abstinenz wuchern konnte, sieht sich die Lewica durch die starke Polarisierung zwischen Unterstützern des Regierungslagers um die Partei Prawo i Sprawiedliwość (Recht und Gerechtigkeit, PiS) und jenen der größten Oppositionskraft Koalicja Obywatelska (Bürgerkoalition, KO) in der öffentlichen Wahrnehmung zunehmend an den Rand gedrängt. Dem versucht die linke Allianz auf zweierlei Weise entgegenzutreten. Erstens mit einem inhaltlich durchdachten sozialdemokratischem Wahlprogramm, zweitens mit klarer Kante gegen die nationalpopulistische und bisweilen offen rechtsextreme Konfederacja (Konföderation), die sich anschickt zur drittstärksten Kraft im polnischen Parteienspektrum zu werden.

 Wider das Trauma von 2015

Auf den Wahllisten der Lewica werden Kandidatinnen und Kandidaten vor allem zweier Parteien antreten. Die Nowa Lewica (Neue Linke, NL) auf der einen Seite und Lewica Razem (Linke Gemeinsam, kurz: Razem) auf der anderen. Hinzukommen die Kleinstparteien Unia Pracy (Arbeitsunion, UP), die Polska Partia Socjalistyczna (Polnische Sozialistische Partei, PPS) und die Socjaldemokracja Polska (Sozialdemokratie Polens, SDPL). Stärkste Kraft dieser Linksformation ist zweifelsohne die Neue Linke, die 2021 aus dem Zusammenschluss des Sojusz Lewicy Demokratycznej (Bund der Demokratischen Linken, SLD), angeführt von Włodzimierz Czarzasty, und der Partei Wiosna (Frühling) des Europaparlamentariers Robert Biedroń hervorging. Razem wiederum ist eine Partei zwischen Sozialdemokratie und Demokratischem Sozialismus, die vor allem im urbanen Akademikermilieu beheimatet ist und sich bei ihrer Gründung 2015 als dezidierter Gegenentwurf zum postkommunistischen SLD verstand. Angeführt wird die Partei von einer Doppelspitze bestehend aus den beiden Sejmabgeordneten Adrian Zandberg und Magdalena Biejat.

Die heutige, in der Öffentlichkeit weitgehend reibungslose Zusammenarbeit zwischen den beiden Parteien hat ihren Ursprung in der Zeit nach den Parlamentswahlen von 2015. Damals verpasste der im Wahlbündnis Vereinigte Linke (Zjednoczona Lewica) angetretene SLD den Einzug ins Parlament denkbar knapp. Zwar konnte die Vereinigte Linke ein Ergebnis von 7,56 Prozent der Stimmen erringen, scheiterte damit aber dennoch an der 8-Prozent-Hürde, die für Wahlbündnisse gilt. Die Partei Razem wiederum, die 2015 zum ersten Mal an Wahlen teilnahm, landete mit 3,6 Prozent zwar einen Achtungserfolg, blieb gleichzeitig aber deutlich unterhalb der 5-Prozent-Marke, die ihr den Einzug ins polnische Unterhaus, den Sejm, ermöglicht hätte. Gerade im SLD waren damals etliche Stimmen zu vernehmen, die Razem die Verantwortung für die Wahlniederlage der Vereinigten Linken zuschoben.

Ein gänzlich anderes Bild gab die Linke bei den jüngsten Parlamentswahlen im Jahr 2019 ab. Damals feierte die geeint auf der Liste des SLD angetretene Linke mit 12,6 Prozent der abgegebenen Stimmen nach vier Jahren parlamentarischer Abstinenz den Wiedereinzug in den Sejm. Ein ähnlich gutes Ergebnis dürfte für die Linke bei den anstehenden Wahlen kaum zu schaffen sein. Laut dem Micro-Blog „Pooling the Poles“ weist die Linke über das gesamte bisherige Jahr 2023 eine nahezu konstante Unterstützung von 8 Prozent auf. Die jüngsten Umfragen vom September sehen die Linke bei 9 bis 10 Prozent. Das ist zugebenermaßen erheblich weniger als die 12,6 Prozent, die die Partei 2019 erringen konnte, aber immer noch genug, um keinerlei Sorgen über eine Wiederholung des Traumas von 2015 aufkommen zu lassen. Der verpasste Einzug ins Parlament ermöglichte damals der PiS eine absolute Mandatsmehrheit im Sejm und die erste Alleinregierung in Polen seit 1989.

Ein Wahlkampf zwischen Programmatik und Emotionen

Inhaltlich verfolgt die Lewica ein fast schon klassisch sozialdemokratisches, wohlfahrtsstaatliches Programm, das auch bei der Wahlkampfveranstaltung in Lodz erneut präsentiert wurde. Demnach tritt die polnische Linke ein für die Einführung der 35-Stunden-Woche, 35 Tage bezahlten Urlaub sowie die Stärkung der Gewerkschaften und der Rechte von Arbeitnehmern, etwa einen hundertprozentigen Lohnausgleich im Krankheitsfall. Sie fordert umfassende Reformen im Gesundheitswesen, allen voran eine finanzielle Besserstellung von Krankenpflegerinnen und -pflegern. Auch Frauenrechte spielen traditionell eine zentrale Rolle im Programm der Linken. Sie verspricht etwa die Schaffung von 100.000 neuen Kitaplätzen, damit Mütter auf dem Arbeitsmarkt nicht länger „für ihre Mutterschaft bestraft werden“ (Magdalena Biejat), den legalen Zugang zu einem sicheren Schwangerschaftsabbruch und eine Kindergartenplatzgarantie für arbeitende Mütter. Weitere Forderungen der Linken umfassen den Bau von 300.000 günstigen Mietwohnungen, ein vereinfachtes Steuersystem und den Ausbau emissionsfreier Formen der Energiegewinnung einschließlich der Kernkraft.

Erwähnenswert ist zudem die russlandkritische Haltung der Linken, gerade im Vergleich zu linken und sozialdemokratischen Kräften in anderen EU-Mitgliedstaaten. Die Lewica verkündete gleich nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine im Februar 2022 ihre uneingeschränkte Solidarität mit dem angegriffenen Land. Razem erklärte zudem Anfang März 2022 den Austritt aus der Progressiven Internationalen, da diese sich nicht zu einer vorbehaltslosen Anerkennung der Souveränität der Ukraine und einer Verurteilung des russischen Angriffs durchringen konnte.Die umfangreichen programmatischen Reformvorhaben der Linken dürften für die Wahlentscheidung des größten Teils der polnischen Wählerschaft allerdings kaum ausschlaggebend sein. Zu groß ist die Polarisierung zwischen Anhängern des Regierungslagers um die PiS und der von der Bürgerkoalition angeführten liberal-demokratischen Opposition. Hier werden dritte Kräfte wie die Lewica eher an den Rand gedrängt und büßen Wählerstimmen ein. Relevant dürften die Reformvorhaben demnach erst bei einem eventuellen Wahlsieg der heutigen Opposition und den dann anstehenden Koalitionsverhandlungen werden, an der wohl auch die Linke beteiligt wäre.

In der Zwischenzeit muss sich die Linke in einem extrem polarisierten Wahlkampf behaupten, der beinahe täglich an Intensität gewinnt und maßgeblich von Emotionen bestimmt wird. So hat der Chef der Bürgerplattform (Platforma Obywatelstwa, PO) und Oppositionsführer Donald Tusk für den 1. Oktober einen Marsch der Millionen Herzen (Marsz miliona serc) angekündigt und damit, in Bezug auf eine mögliche Teilnahme, die Führungen der übrigen Partien der liberal-demokratischen Opposition erheblich unter Druck gesetzt. Einerseits dürfte es Parteien wie der Linken schwerfallen, dem Marsch gänzlich fernzubleiben, zumal die Bürgerplattform es zuletzt, etwa beim 4.-Juni-Marsch, tunlichst vermied als Partei allzu prominent in Erscheinung zu treten. Gleichzeitig dürfte der Marsch vom 4. Juni dieses Jahres den Parteien der liberal-demokratischen Opposition auch eine Lehre gewesen sein. War doch der unbestrittene Erfolg des Marsches einer, der vor allem der PO und Donald Tusk gutgeschrieben wurde und das auch noch auf Kosten der Parteien der Opposition. Dementsprechend war auch die Reaktion der Linken bezüglich einer Teilnahme an dem Marsch zunächst eher zurückhaltend.

Zwischen Konsolidierung und neuer Polarisierung

Bei der Bewertung der aktuellen Situation der Linken sind sich die Experten uneins. Einerseits argumentieren Politikexperten wie Adam Traczyk vom Think Tank More in Common Polska, dass sich die Neue Linke anders als in den 2000er Jahren, als der SLD die Wirtschaftsliberalität der Neuen Mitte à la Gerhard Schröder und der SPD bzw. Tony Blair und Labour auf der einen mit wertkonservativen Ansichten auf der anderen Seite verband, heute auf ein überschaubares aber gleichwohl solides Wählerpotenzial stützen kann, das der Partei aufgrund ihres sozialdemokratischen Profils nahesteht und allein deshalb kaum Neigungen verspürt, zu anderen Parteien abzuwandern. Andererseits fällt es der Partei ebenso schwer, neue Wähler für sich zu gewinnen. So bemerkt etwa Katarzyna Przyborska auf dem Internetportal der Krytyka Polityczna

„Die Linke zeigt sich durchweg als berechenbare, stabile Partei, die sich um einen starken Staat, allgemein zugängliche, qualitativ hochwertige öffentliche Dienstleistungen (Kinderkrippen, Kindergärten und Schulen), Gesundheitsversorgung, preiswerte und vernünftige öffentliche Verkehrsmittel und barrierefreien Wohnraum kümmert. Sie zeigt, dass sie nahe bei den Menschen und ihren alltäglichen Angelegenheiten sein will. Diese Konsequenz führt dazu, dass die Linke allmählich als solide, wenn auch [...] etwas langweilig wahrgenommen wird und deshalb keine spektakulären Stimmenzuwächse verzeichnet.“

Angesichts dieser Situation setzt die Linke auf einen zweigleisigen Ansatz. Einerseits verfolgt sie eine Strategie der Konsolidierung und „Minimalisierung der Verluste“. Dem entspricht die Entscheidung, als eigenständige Kraft und nicht in einer noch bis vor Kurzem diskutierten Einheitsliste der liberal-demokratischen Opposition zu den Wahlen anzutreten, gleichzeitig aber auch die Bereitschaft, sich für eine zukünftige Regierungsbeteiligung offen zu zeigen. Andererseits unternimmt die Linke auf der Zielgeraden noch einmal den Versuch, das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen und schafft eine neue Konfliktachse, die zwischen der Linken und der rechtsextremen Konfederacja und damit quer zur zentralen Konfliktachse zwischen KO und PiS verläuft. Auf diese Weise versucht die Lewica sich abseits des stark polarisierenden Wahlkampfes zu positionieren und in Frontstellung zur extremen politischen Rechten das eigene Profil zu schärfen und ein Alleinstellungsmerkmal herauszuarbeiten. Diese Strategie könnte von Erfolg gekrönt sein. Schließlich ist die Linke mittlerweile die einzige Partei bei den anstehenden polnischen Parlamentswahlen, die keinen rechten Nationalisten auf der Kandidatenliste hat wie Ryszard Łuczyn im Podcast von Polityka Insight zuletzt süffisant anmerkte. Zudem gaben bei einer im Juni dieses Jahres veröffentlichen Umfrage immerhin 9 Prozent der Unterstützer der Konfederacja die Linke als alternative Option für die anstehenden Wahlen an.

Fazit

Während sowohl die KO als auch die PiS den bevorstehenden Urnengang zur Schicksalswahl erklären und es auch für eine Partei wie Szymon Hołownias Polska 2050 um die politische Existenz geht, steht für die Linke Stand heute bei den Wahlen zwar durchaus einiges, aber beileibe nicht alles auf dem Spiel. Sollte es die PiS nach einem neuerlichen Wahlsieg abermals schaffen, die Regierung zu stellen, wäre die Linke strukturell, personell und programmatisch auf vier weitere Jahre in der Opposition ausreichend vorbereitet. Im Falle eines Wahlerfolgs der liberal-demokratischen Opposition stünde ihr sogar eine Regierungsbeteiligung ins Haus, eine Option, von der die Partei noch vor wenigen Jahren nicht einmal zu träumen gewagt hätte.

Gleichzeitig ist sich die Parteienallianz offensichtlich im Klaren darüber, dass sie sich nicht allzu sehr in Sicherheit wiegen darf. In den kommenden Wochen dürfte sich der frühere KO-Präsidentschaftskandidat und Oberbürgermeister Warschaus, Rafał Trzaskowski, vermehrt in den Wahlkampf einschalten. Unter Beobachtern kursiert sogar das Gerücht, die KO könne Trzaskowski als Spitzenkandidat für den Posten des Premierministers ins Spiel bringen. Dies wäre das Horrorszenario des Wahlkampfstabs der Linken. Schließlich gilt Trzaskowski, anders als Donald Tusk, als politisch weitgehend unvorbelastet und genießt gerade in der urbanen links-liberalen Wählerschaft große Sympathien. Und so dürfte die neue kleine Polarisierung zwischen Lewica und Konfederacja nicht zuletzt ein taktisches Manöver sein, um die Linke nicht zum Opfer der großen Polarisierung zwischen KO und PiS werden zu lassen.