28.04.2025 - Gesellschaft , Politik, Geschichte
Wie leben Deutsche und Polen? Ein Blick durch die Linse des European Social Survey (ESS)
Der European Social Survey (ESS) zeigt seit 23 Jahren, wie sich die Einstellungen, Werte und das Wohlbefinden der Menschen in den europäischen Ländern verändern. Die neueste Erhebungsrunde (2023/2024) erlaubt einen genaueren Blick darauf, wie es den Menschen in Polen und Deutschland heute geht. Obwohl beide Gesellschaften dem gemeinsamen europäischen Raum angehören, unterscheiden sie sich in vielerlei Hinsicht – vom sozialen Vertrauen über das politische Interesse bis hin zum subjektiven Glücksempfinden.
Soziales Vertrauen – vorsichtige Polen, vertrauensvollere Deutsche
Vertrauen in andere Menschen ist ein Grundpfeiler jeder funktionierenden Gesellschaft. Die Daten der 11. Runde des European Social Survey (ESS) geben einen interessanten Einblick in das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in Polen und Deutschland*. Den Befragten wurde folgende Frage gestellt: „Glauben Sie, dass man den meisten Menschen vertrauen kann, oder kann man im Umgang mit Menschen nicht vorsichtig genug sein?“ – geantwortet wurde auf einer Skala von 0 bis 10, wobei 0 kein Vertrauen und 10 vollständiges Vertrauen bedeutete.
In beiden Ländern war die häufigste Antwort die Mitte der Skala – 5, was als mittleres Maß an Vertrauen interpretiert werden kann. Diese Antwort wählten 23,7 % der Polen und 22,0 % der Deutschen, was darauf hinweist, dass in beiden Gesellschaften eine eher zurückhaltende Haltung gegenüber anderen Menschen überwiegt.
Deutliche Unterschiede zeigen sich jedoch bei den extremeren Bewertungen. In Polen wählten 42,4 % der Befragten Werte zwischen 0 und 4, was auf ein geringes oder gar kein Vertrauen hindeutet. In Deutschland lag dieser Anteil mit 32,3 % deutlich niedriger. Dies zeigt, dass Polen im Allgemeinen skeptischer und misstrauischer gegenüber Mitmenschen sind als ihre westlichen Nachbarn.
Andererseits ergibt sich ein umgekehrtes Bild bei den Antworten im Bereich 6 bis 10, die für größeres oder hohes Vertrauen stehen. In Deutschland gaben 45,6 % der Befragten an, ein hohes Maß an Vertrauen zu haben, während es in Polen nur 33,7 % waren. Daraus lässt sich schließen, dass die Deutschen tendenziell vertrauensvoller gegenüber ihren Mitmenschen sind als die Polen.
Politisches Interesse – engagierte Deutsche versus zurückhaltende Polen
Ein weiterer signifikanter Unterschied betrifft das Engagement in öffentlichen Angelegenheiten. Viele Polen bleiben der Politik gegenüber distanziert – insgesamt 54 % der Befragten gaben an, sich „nicht besonders“ oder „gar nicht“ dafür zu interessieren. Nur 9,4 % zeigen ein starkes Interesse. In Deutschland sieht es ganz anders aus: 26 % der Befragten geben an, „sehr interessiert“ zu sein, weitere 37,9 % sind „ziemlich interessiert“.
Dies könnte das stärkere bürgerschaftliche Engagement der Deutschen sowie ein höheres Maß an politischem Bewusstsein erklären – was sich wiederum positiv auf die Qualität der öffentlichen Debatte und die Wahlbeteiligung auswirkt.
Wo sich die Deutschen und Polen einig sind - sie wollen in der EU bleiben, das nämlich gaben 88,9% der Deutschen und 85,2% der Polen an.
Einkommen und Wohlstandsempfinden – das Wohlstands-Paradoxon
Ein interessanter Aspekt ist der Umgang mit dem Thema Einkommen. Polen geben häufiger als Deutsche an, mit ihrem aktuellen Einkommen gut zurechtzukommen (71 % vs. 42,9 %). Gleichzeitig fühlen sie sich jedoch deutlich seltener „wohlhabend“ (17 % der Polen vs. 49,6 % der Deutschen). Mehr Polen als Deutsche geben auch an, finanzielle Schwierigkeiten zu haben (11 % vs. 5,9 %).
Man kann hier von einem gewissen Paradoxon sprechen – Polen meinen zwar, gut über die Runden zu kommen, fühlen sich aber nicht unbedingt wohlhabend. Das kann mit niedrigeren Erwartungen, anderen Lebensstandards oder einem realistischeren Blick auf alltägliche Herausforderungen zusammenhängen.
Glücksempfinden – Stabilität bei den Deutschen, Fortschritt bei den Polen
Der ESS misst auch das subjektive Glück und die Lebenszufriedenheit. Auch hier zeigen sich interessante Unterschiede zwischen den Ländern.
In Deutschland liegt das durchschnittliche Glücksniveau seit zwei Jahrzehnten auf einem stabil hohen Niveau – zwischen 7 und 8. Selbst die COVID-19-Pandemie führte nur zu einem leichten Rückgang (auf 7,00), dem jedoch schnell ein Aufschwung folgte. In der neuesten Runde lag der Wert bei 7,76 – einer der höchsten Werte in der Geschichte der Erhebungen in diesem Land. Das zeigt eine hohe soziale Resilienz und Stabilität der deutschen Gesellschaft – selbst in Zeiten globaler Krisen.
Die Entwicklung in Polen verlief ganz anders. Zu Beginn des ESS (2002–2003) lag der durchschnittliche Glückswert in Polen nur bei 5,8. In den darauffolgenden Jahren stieg dieser Wert stetig an, wobei diese Tendenz während der Pandemie unterbrochen wurde. Derzeit haben die Polen mit 7,6 einen Rekordwert erreicht, der alle bisherigen Messungen übertrifft.
Auf die neue Frage nach der Zufriedenheit mit dem aktuellen Leben antworteten die Polen mit 7,4 und die Deutschen mit 7,7 – der Unterschied verringert sich also, ist aber noch vorhanden.
Fazit – zwei Wege, ein Kontinent
- Vertrauen: Deutsche vertrauen den Mitmenschen mehr. Polen bleiben vorsichtig.
- Politik: Deutsche sind engagierter. Polen sind eher distanziert.
- Einkommen: Polen kommen, nach eigener Ansicht, häufiger zurecht, fühlen sich aber seltener wohlhabend.
- Glück: Deutsche halten ein hohes, stabiles Glücksempfindenniveau. Polen holen auf und erreichen historische Höchstwerte.
Auch wenn beide Länder gemeinsame europäische Werte teilen, entwickeln sich ihre Gesellschaften in unterschiedlichem Tempo und auf unterschiedliche Weise. Deutschland steht für Stabilität, Polen für Dynamik und Widerstandsfähigkeit. Eines bleibt dabei klar: Der European Social Survey bietet wertvolle Einblicke, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede im gesellschaftlichen Denken der Deutschen und Polen besser zu verstehen.
*Im European Social Survey wurden Personen befragt, die einen Wohnsitz im jeweiligen Land haben und sich in der Landessprache verständigen können. Es werden also keine Nationalitäten oder Staatsbürgerschaften erfasst.