17.04.2024 - Über Bücher, Gesellschaft , Kultur, Politik

Wahrheit oder nur Dichtung? Anmerkungen zur literarischen Glaubwürdigkeit, angestoßen durch die Lektüre „Polnischer Abgang“ von Mariusz Hoffmann

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In einem ihrer spannenden Essays zitierte neulich Magdalena Parys den Tübinger Literaturwissenschaftler Jürgen Wertheimer: „Literatur erzählt nicht in der Kategorie der Menschenrechte, sondern zeigt einfache Menschen. Weniger interessiert sie sich für theoretische Visionen, mehr für tagtägliche Empfindungen. Kurz gefasst: Sie ist nahe an der Realität und einfach nahe an der Wahrheit. Gute Literatur hat eine Obsession, wenn es um Wahrheit geht“.[1] Diese Definition kann wohl angezweifelt werden, denn sie lässt viele Gattungen unbeachtet: Märchen, Legenden, Fantasy oder SF. Und dennoch halten sich Autoren wie Franz Kafka, Stanisław Lem, Philip K. Dick oder Douglas Adams an selbst aufgestellte Regeln, z. B. unterliegt die Geschwindigkeit von Raketen allgemeinen physikalischen Gesetzen, und wenn nicht, dann werden andere, bisher unbekannte Regeln geltend gemacht, um die Geschichte als wahrscheinlich erscheinen zu lassen.

Diese Gedanken kommen mir in den Sinn, wenn ich Bücher lese, in denen sich Kinder polnischer Einwanderer der 1980er Jahre mit dem Thema der Migration ihrer Eltern aus Polen befassen. Und immer wieder habe ich den Eindruck, mich verhört zu haben, verlesen sozusagen, denn die dort beschriebenen Vorkommnisse erscheinen bisweilen recht anders als ich und viele in meiner Generation (oder auch in der Generation meiner Eltern) es in Erinnerung haben. Dabei handelt es sich nicht um gezielte literarische Konventionen wie Verzerrungen, Groteske etc., vielmehr unterstelle ich den Autorinnen und Autoren mangelnde Recherche, die zur Folge hat, dass die damalige Wirklichkeit nicht in ihren historischen Details wiedergegeben wird. Als ich einen der Autoren direkt fragte, wieso er das Leben in der Volksrepublik Polen derart verzerrt und unglaubwürdig darstelle, antwortete er ohne mit der Wimper zu zucken, er habe es so von seinen Eltern bzw. Großeltern erzählt bekommen oder zumindest so in Erinnerung behalten: „Dass an der Erzählung nicht alles stimme, sei möglich, die Leute erinnern sich heute eben nicht ganz richtig“, so in etwa seine Worte. Das war eine ehrliche Antwort, aber mir ließ sie keine Ruhe, denn ich bin ein Freund der klaren Sprache und der Tatsachen, wie sie sich wirklich abgespielt haben oder (das gilt wohl für Literatur) wie sie sich hätten abspielen können. Die Wahrscheinlichkeit der Handlung muss zwingend gegeben sein, eine unbeabsichtigte Vermischung von Wahrheit und „Dichtung“ in Werken, in denen es um lebenswichtige Entscheidungen und Identitäten (auch Identitätsbrüche) der Elterngeneration geht, ist meiner Meinung nach unzulässig, denn sie schmälert ihren Aussagewert. Und wenn an dem Aussagewert eines literarischen Werkes Zweifel bestehen, soll man es dann als lesenswert und erkenntnisvoll ansehen? Kann eine solche Literatur auch die Mehrheitsgesellschaft erreichen oder bleibt sie unbeachtet in der „polnischen“ Nische?

polnischer abgang isbn 978 3 8270 1481 8So ging es mir bei der Lektüre des Buches von Mariusz Hoffmann „Polnischer Abgang“ (Berlin Verlag 2023). Das Buch reiht sich ein in eine ganze Riege von ähnlichen Versuchen von Adam Soboczyński, Alexandra Tobor, Emilie Smechowski, Alice Bota, Matthias Nawrat, neulich auch Patricia Verne und Paul Bokowski, die Zeit der Ausreise ihrer Familien aus Polen nach (West)-Deutschland zu betrachten. Sie alle gehören zur Kinder-Generation der polnischen Migranten der 1980er Jahre und beschreiben die Welt ihrer Eltern aus einer zeitlichen Perspektive. So entsteht auch nicht nur eine zeitliche, sondern auch eine psychologische und emotionale Distanz zu der Generation der Eltern, die die Ausreiseentscheidung trägt und dadurch das Leben dieser Kinder für immer bestimmte. Ich erwarte von diesen Autorinnen und Autoren eine kritische Auseinandersetzung mit der Entscheidung der Eltern zum Verlassen der alten und dem eigenen Aufwachsen in der neuen Heimat. Auf jeden Fall aber erwarte ich eine treffende, meinetwegen auch bissige Handlung, dazu gehört jedoch eine fundierte Kenntnis der damaligen Welt, die als Gegenstand oder als Hintergrund der beschriebenen Gegebenheiten vorkommt. An dieser Kenntnis habe ich so meine Zweifel, unabhängig nun von dem literarischen Wert der beschriebenen Werke.

Die Handlung im „Polnischen Abgang“ spielt zunächst im „oberschlesischen Teil von Polen“, in dem Dorf Salesche (Zalesie), der Vater des 14jährigen Protagonisten Jarek arbeitet als Bergmann in Gleiwitz (Gliwice), die Mutter ist angestellt in einem staatlichen Landwirtschaftsbetrieb. Und hier gleich die erste irritierende Überraschung: Das Besondere dieser Region, der heute unentwegt eine multiethnische und multikulturelle Brückenfunktion zwischen Deutschland, Polen und Tschechien zugedacht wird, kommt im Buch so gut wie nicht in Erscheinung: Hier treten keine „Oberschlesier“, sondern nur „Polen“ auf, die nur Polnisch sprechen. Kein Panorama der mehrsprachigen Oberschlesier, die auch im kommunistischen Polen politische Sympathien und kulturelle Nähe zu Deutschland hegten. „Wir waren Polen“, meint Jarek, „sicher, das konnte schon mal missverstanden werden“ (121). Ja, das ist ziemlich missverständlich …

Diese Einseitigkeit verwundert, denn Hunderttausende Oberschlesier machten sich in der Nachkriegszeit als Aussiedler auf den Weg nach Deutschland, um als Deutsche unter Deutschen zu leben und auch um besser zu leben als in ihrer nun polnisch gewordenen und planwirtschaftlich bestellten Heimat. Hier im Buch ist nichts davon zu spüren, die Eltern, offensichtlich ein Elternteil oberschlesischer Herkunft, mussten sich in Deutschland zwar einer nationalen Anerkennungs-Prozedur unterziehen, was nichts daran ändert, dass ihr Deutschtum nur formell und keineswegs emotional oder interessebezogen ist. Jarek versteht die Zusammenhänge nicht: In einem Übergangslager in Nordrhein-Westfalen 1990 trifft er ein Mädchen aus Bydgoszcz (Bromberg) namens Monika Engel und meint: „Schon klar. Deutscher Nachname. Na und? Das hat nichts zu bedeuten. In Schlesien gab es viele Familien mit deutsch klingenden Nachnamen, und trotzdem würde niemand auf die Idee kommen, sie als Deutsche anzusehen.“ (119) Denkt so ein junger Aussiedler, der gerade überlegt, wie er Deutscher werden kann? Kannte er den Kontext seines „Abgangs“ nicht? Wusste er nicht, dass die Oberschlesier im Nachkriegspolen für Deutsche gehalten und deswegen diskriminiert wurden? Hat seine Familie das nicht erlebt? „Wir waren Polen“ könnte jemand schreiben, der von der Region nur wenig weiß. Ich frage mich an dieser Stelle, wie wissend oder unwissend der Autor sein muss, dessen Eltern doch aus der Gegend selbst kommen und der heute so schreibt? Wurde in seinem familiären Umfeld nicht darüber gesprochen, dass es Menschen in Oberschlesien, sicher auch in Salesche, gab, die sich als Deutsche fühlten und auch so angesehen wurden? Darüber gibt es publizistische und literarische Zeugnisse. Kennt ein Autor, der sich mit diesem Thema befasst, diese nicht? Über die Geschichte seiner Heimat weiß Jarek nur so viel, dass seine Oma „als Kind Deutsch lernte“, als „Deutsch in Oberschlesien Amtssprache gewesen war“ (120). Das stimmt, aber verdunkelt das Bild vollkommen, denn Oberschlesien auf die deutsche „Amtssprache“ zu reduzieren, ist schon ziemlich hart.

Jarek erzählt weiter: „Wir waren im oberschlesischen Teil von Polen zur Welt gekommen, gehörten jedoch keiner deutschen Minderheit oder schlesischen Landsmannschaft an“ (121). Abgesehen davon, dass es unwahrscheinlich ist, dass ein 14-jähriger im Jahr 1990 so denken oder sprechen konnte, überrascht mich weiter, dass hier Begriffe und ihre Zuordnungen einfach nicht stimmen. Die „deutsche Minderheit“ wurde in Polen erst 1991 anerkannt, in den 1980er Jahren gab es einige Debatten um diesen Begriff in der Bundesrepublik und auch einige gescheiterte Versuche, eine solche Organisation in Polen zu gründen. Deutsch zu sein, war in Oberschlesien verdächtig, unerwünscht, und wer Deutscher sein wollte, der konnte relativ einfach, legal oder illegal, wie eben Jareks Großmutter schon 1981, das Land verlassen. Weiß Jarek, weiß der Autor das nicht? Jareks Familie konnte der Minderheit nicht angehört haben, sie hätte sich aber im Privaten „zum deutschen Volkstum“ bekennen können, die Form dessen, war allerdings bei der Anerkennung als Aussiedler nicht wirklich von Bedeutung. Dagegen ist der Begriff „schlesische Landsmannschaft“ an der Stelle noch unangebrachter, denn Landsmannschaften waren in den Augen der in Polen regierenden Kommunisten revanchistische Instrumente bundesdeutscher Politik. Nicht nur deswegen konnte Jareks Familie in Polen keiner deutschen Landsmannschaft angehören, Landsmannschaften gab es nur in der bundesdeutschen Diaspora, als Erinnerung an eine Heimatregion der Deutschen aus dem Osten. Ich denke, so viel müsste ein Autor wissen, wenn er glaubwürdig über Zeiten, Regionen und Menschen schreibt, die er aus zeitlicher Distanz betrachtet. Hier berühren wir nämlich die eingangs zitierte Sehnsucht der Literatur nach Wahrheit, abgemildert könnte man sagen – nach Plausibilität. Jarek, so sympathisch er als jugendliche Gestalt im Buch auch rüberkommt, ist in der wichtigsten Problematik des Buches – der Suche nach der eigenen Identität in einem neuen Land, die sich aus der geografischen wie sozialen Herkunft speist – unglaubwürdig. Der Autor hilft ihm dabei nicht, seine Identität zu formen auf Grundlagen, die zumindest plausibel klingen. Jareks Aussagen und Gedanken müssen somit für bare Münze genommen werden. Aber ist das vertretbar, den Leser immer wieder in die Irre zu führen? Der Autor hätte Jarek eine Gegenfigur an die Seite stellen können, die einiges gerade rückt, stattdessen redet Monika Engel von der Deutschen Volksliste (die gab es im besetzten Bromberg, aber nicht im westoberschlesischen Salesche!) und einer Blut-Und-Boden-Politik, deren angebliche Gültigkeit sich bis heute noch in einigen Kreisen festhält. Denn um als Deutscher anerkannt zu werden, waren Blut-Und-Boden-Argumente damals schon nicht tragfähig angesichts der Tatsache, dass die meisten Spätaussiedler seit Mitte der 1980er Jahren nicht aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten stammten und in der Regel kein Deutsch sprachen und fast ausschließlich polnisch sozialisiert waren. Die Aussage Monikas, Jarek müsste sein Blut untersuchen lassen, halte ich übrigens für einen lustigen und gelungenen Rückgriff auf die stereotypen Zuordnungen, mit denen die Menschen in den Übergangslagern damals meinten, konfrontiert zu sein. Aber um mit diesen Begriffen zu spielen, die heute keine Bedeutung mehr haben, muss der Kontext genau abgesteckt sein, was leider nicht geschieht. Ich denke, dass die Recherchen des Autors hierfür einfach nicht beharrlich genug waren.

Das Problem der Unglaubwürdigkeit betrifft beileibe nicht nur die Frage nach Identität. Hoffmann unterstellt der Elterngeneration, dass sie zwar aus durchaus materialistischen Motiven Polen verlassen hat, allerdings sei ihr nicht bewusst gewesen, sozialen Abstieg in Kauf nehmen zu müssen… Das steht zwar so im Buch (203), wird aber von der Empirie nicht bestätigt. Aber dieses Vorurteil hält sich fest, Aussiedler auch Polen hätten in Westdeutschland schlechte Aufstiegschancen, wurden schlecht eingestuft, mussten Arbeiten verrichten, die unter ihrem Bildungsniveau lagen. Auch Alice Bota schrieb in ihrem Beitrag in „Wir neuen Deutschen“ davon, dass ihr Vater „ein hohes Tier“ bei der polnischen Eisenbahn war, der in Hamburg aber keine verantwortungsvolle und dementsprechend gut bezahlte Stelle fand. Jareks Vater war dagegen einfacher Bergmann. Bergleute waren in Polen privilegiert, das lag daran, dass das Land Devisen für die Steinkohle bekam. In Deutschland waren Bergleute dagegen damals schon eine aussterbende Spezies. Nun soll der Vater sich einen anderen Job suchen, aber muss das mit sozialem Abstieg verbunden sein? Kann man soziale Position in Polen mit der in der deutschen Nachkriegsgesellschaft gleichsetzen? Es gibt Untersuchungen, die darüber Auskunft geben, dass Migranten die (vermeintlich hohe) soziale Position im Herkunftsland aufgeben, um im Ausland erst einmal unten anzufangen und sich später hochzuarbeiten. Und was in Polen eigentlich bedeutete, „ein hohes Tier“ zu sein, das erklärt Bota nicht. Hierzulande bedeutet es vielleicht einen Vorstandposten in einem wichtigen Unternehmen, einer Bank oder in der Politik zu bekleiden, das wird etwas anders sein als eine Stelle in der Bahnverwaltung einer oberschlesischen Kleinstadt. Denn generell galt: Jede, egal was für eine („sozialversicherungspflichtige“) Stelle in Deutschland angenommen wurde, bedeutete für die Auswanderer der 1980er Jahre eine persönliche Kaufkraftsteigerung von ungeahntem Ausmaß!

Aber das wird im Buch nicht klar, vielmehr werden Geschichten erzählt, z.B. darüber, dass die Familie Engel in Polen „guten Wein“ zum Abendessen trank. Ist es das, was die Eltern ihren Kindern in Deutschland erzählten, dass sie es in Polen eigentlich gut hatten? Dass sie guten Wein tranken? Welchen denn, fragt sich der Zeitzeuge? Denn zu kaufen gab es nur den säuerlichen bulgarischen „Sofia“, manchmal auch einen Dessertwein eines unbekannten rumänischen Produzenten oder einen billigen Obst-Verschnitt Marke „Wino“. Heute würde diese Stoffe niemand ernsthaft als Wein bezeichnen… Schmunzeln muss man auch, als Herr Engel sich über den Wert der Platten-Sammlung seiner Frau auslässt: „Eine seltene Pressung. Eine limitierte Auflage…“, die angeblich viel wert sein soll. Das hätte damals vielleicht ein Musikliebhaber in Manhattan oder Westberlin sagen können… Jeder, der z.B. 1986 eine halbe Nacht für eine „Maanam“ oder „Lombard“-Platte vor einem polnischen Geschäft gestanden hat, weiß den Wert bis heute zu schätzen, aber das als „Schatz“ im kommerziellen Sinne in Deutschland 1990 zu betrachten, gehört in das Reich der Legenden. Ebenfalls führt Jareks Feststellung: „Meine Eltern hatten in Polen genug Geld zur Seite gelegt, um in Deutschland ein Auto kaufen zu können“ (186) vollkommen in die Irre, denn Jareks Eltern hatten in Polen ein Monatseinkommen von ein paar Dutzend D-Mark, die man am Schwarzmarkt tauschen musste.

Ich weiß nicht wirklich, was solche Romane wie das Buch von Mariusz Hoffmann erzählen sollen. Die Motivationen der Eltern, Polen zu verlassen? Ein Migrationsforscher würde nach den Push- und Pull-Faktoren fragen. Die schwierige wirtschaftliche Lage in Polen kommt zwar zu Sprache, aber dann auch so unglaubwürdig, dass es gleich grotesk wirkt. Dabei bin ich mir nicht sicher, ob Groteske hier beabsichtigt war. 1980, im Jahr der Moskau-Olympiade, „waren viele Güterzüge an Salesche vorbei gen Russland gefahren. Auf den Wagons war mit weißer Farbe Zement gepinselt worden. Doch in ihrem Inneren lagerte kein Baustoff, sondern Zucker, Getreide, Hefe.“ (184) Es wird erzählt, dass Polen Lebensmittel nach Moskau schicken musste, die im Lande selbst immer „knapper und teurer" wurden. Soweit kann die Erzählung stimmen, sie folgt den damals weit verbreiteten Gerüchten, aber wir lesen weiter, dass Jareks Vater mit ein paar Freunden „einmal einen solchen Zug gestoppt, die Räder an den Gleisen festgeschweißt und die Waggons geplündert“ hätte. Ein purer Unsinn! Spätestens das müsste Jareks kritischer Geist hinterfragen und bedenken, welche Konsequenzen diese Tat hätte, wenn sie wirklich passiert wäre. Denn es steht außer Frage, dass die Staatssicherheit nicht einfach nur zugesehen und die verschweißten Räder gelöst hätte.

Und die Pull-Faktoren? Etwa eine Million Migranten aus Polen kamen alleine in den 1980er Jahren nach Deutschland. Vielen ging es in Polen relativ gut, mit der Betonung auf relativ, denn viele von ihnen gehörten der Mittelklasse an, waren gut ausgebildet und das krisengeschüttelte Polen bot ihnen zu wenig Möglichkeiten, sich eine Zukunft aufbauen zu können, die ihren Konsumansprüchen entsprach. Gleichzeitig wussten sie über die materiellen Verlockungen des Westens. Das steht in jedem Sachbuch über die polnischen Migranten der damaligen Zeit. Sie waren hoch motiviert, hatten einen Beruf erlernt, oft besaßen sie einen Studienabschluss, waren Ärzte, Ingenieure, die sich im Lande nicht mit einem Almosen abspeisen lassen wollten. Sie suchten nach Möglichkeiten, Polen zu verlassen. Neben den deutschstämmigen oder zumindest kulturell und sprachlich „hybriden“ Oberschlesiern waren es vor allem Hochschulabsolventen aus Danzig, Posen und Bromberg, die eine geringe oder gar keine Affinität zu Deutschland hatten, aber ihre deutsche „Abstammung“ aufgrund der damals angewendeten Vorschriften nachweisen konnten (genial beschrieben in „Czarna Matka“ von Wojciech Stamm alias Lopez Mausere, Warszawa 2008).

Diese Geschichten lassen sich immer wieder, aber auch immer anders erzählen. Ich finde jedoch in vielen diesen Büchern nichts wirklich Neues. Dafür aber viel Falsches. Ich vermute hier den Wunsch, auch die „polnische“ Migration der 1980er Jahre in den Mainstream der aktuellen medialen Migrationsdebatten – mit Kolonial- und Rassismus-Staffagen (Antislavismus, Bürger „zweiter Klasse“, „Streber-Migranten“) zu hieven, aber die Versuche sind bisher nicht erfolgreich, ganz im Gegenteil, sie sind durch ihre Unwahrhaftigkeit kontraproduktiv. Denn wen sollen diese Geschichten erreichen? Doch sicher nicht nur die Betroffenen selbst, sondern auch die „Mehrheitsgesellschaft“, wer auch immer sich heutzutage unter dem Begriff identifizieren lässt. Aber mit falschen Tatsachen wird die polnische Community niemand überzeugen, Aufmerksamkeit und Verständnis für ihre besonderen Anliegen zu erregen.

Mein Appell an die Autorinnen und Autoren lautet: Den Eltern genauer zuhören! Und die Geschichten verifizieren lassen durch weitere Quellen. So etwas nennt man Recherche. Sonst fällt die literarische Fiktion in die Leere der Unverbindlichkeit und Unglaubwürdigkeit. Alles, was man über eine solche Art von Literatur sagen kann, ist, dass sie als irrelevant angesehen wird und am Ende (verdient) unbeachtet bleibt.



[1] https://wyborcza.pl/magazyn/7,124059,30554929,literaturoznawcy-z-calego-swiata-przy-pomocy-ai-czytaja-stasiuka.html