13.09.2024
Deutsche Mythen über Polen: Polen und Osteuropa
Copyright: San Jose „Militärische Zusammenschlüsse im Kalter Krieg, Karte de“
„Wo liegt Polen?“ Mit dieser Frage beginnt der Literaturwissenschaftler Przemysław Czapliński sein Werk Poruszona mapa [Die bewegte Karte] über die diskursive Verortung Polens auf den mentalen Landkarten der Literatur.[1] Eine der leitenden Thesen Czaplińskis ist dabei, dass sich Polens Position verändert, weg von einer Ost-West-Orientierung, hin zu einer Nord-Süd-Orientierung. In seinem Standardwerk über die diskursive Erfindung Osteuropas weist Larry Wolff auf die „fundamentale konzeptuelle Unterteilung Europas in einen Süden und einen Norden“ in der Epoche der Renaissance, wobei Polen in Nordeuropa verortet wurde.[2] In jüngster Zeit hat sich etwa Marek Cichocki mit der Frage einer Neuverortung Polens entlang einer Nord-Süd-Unterteilung des europäischen Kontinents auseinandergesetzt.[3] Dies zeigt, dass die Frage nach der Verortung Polens keineswegs so eindeutig und banal ist, wie sie auf den ersten Blick erscheint. Polen Platz auf den mentalen Landkarten der vergangenen Jahrhunderte ist vielmehr äußerst dynamisch und immer wieder in Veränderung begriffen. Und auch aus der Perspektive des deutschen Diskurses über Polen ist in den vergangenen Jahren etwas in Bewegung geraten.
In meiner Schulzeit an einem bayerischen Gymnasium zu Beginn der 1990er-Jahre spielte Polen keine besondere Rolle. Auf meiner mentalen Landkarte befand sich Deutschlands östlicher Nachbar irgendwo, und das bedeutete letztendlich nirgendwo. Das galt auch für die physischen Landkarten, die im Erdkundeunterricht verwendet wurden. Man musste schon gehöriges Glück haben, um ein aktuelles Exemplar vorgeführt zu bekommen, auf dem Deutschland bereits wiedervereinigt war. In meinem Schulatlas aus dem Jahr 1992 gab es die DDR zwar nicht mehr, aber eine physische Karte wie es sie für alle Länder West-, Nord- und Südeuropas wie auch den gesamten amerikanischen Kontinent gab, suchte man im Falle Polens und der zwischen Russland und Deutschland liegenden Region vergeblich. Auf unserer mentalen Landkarte war Polen seltsam abwesend.
Heute ist dies zweifelsohne anders. Nicht zuletzt aufgrund der vielfältigen Bemühungen deutscher wie polnischer Einrichtungen, den Deutschen Polen näher zu bringen. Aber auch geopolitische Ereignisse haben in den vergangenen Jahren dazu beigetragen, dass der Blick der bundesdeutschen Debatte mittlerweile des Öfteren nach Osten wandert. Als zentrale Ereignisse wären hier zu nennen: die russische Annexion der Krim und der Beginn des russischen Kriegs im ukrainischen Donbas 2014, die von Souveränitätsforderungen und einer Deutschland- wie EU-kritischen Haltung geprägte Regierungszeit der PiS in den Jahren 2015-2023 und der seit Februar 2022 andauernde Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Dass Deutschland wieder verstärkt nach Osten blickt, ist aus meiner Sicht zu begrüßen. Was es hingegen dort erblickt, trifft hingegen weniger häufig auf meine ungeteilte Zustimmung. Und das hat tatsächlich nicht ausschließlich damit zu tun, was in Polen passiert, sondern wie es in Deutschland wahrgenommen wird. Kurz gesagt: Der Blick Deutschlands auf Polen ist maßgeblich durch die deutsche Brille geprägt und damit nicht zuletzt eine Frage der (diskursiven) Optik.
Anekdotische Feldforschung
Vor einigen Wochen wohnte ich einer Podiumsdiskussion bei, die sich mit der Herausforderung des Populismus und des Nationalismus in der Europäischen Union befasste. Während die ersten beiden Panelisten das Thema aus dem Blickwinkel Italiens bzw. Österreichs und Deutschlands beleuchteten, oblag es dem dritten Teilnehmer, einem ausgewiesenen Experten für die deutsch-polnischen Beziehungen, laut Einführung des Moderators, „die osteuropäische Perspektive“ in die Debatte einzubringen, die in der deutschen Debatte leider häufig außen vor bleibe.
Dass das Gegenteil von „gut“ bisweilen „gut gemeint“ ist, zeigt sich auch an diesem Beispiel, das in doppelter Hinsicht problematisch ist. Erstens, weil es Polen (denn hierum und nicht um Osteuropa drehte sich die folgende Podiumsdiskussion) nonchalant in Osteuropa verortet. Zweitens, weil es Polen als repräsentativ für eine ganze Region konzipiert und eben nicht als ein weiteres Beispiel eines Staates neben anderen (in diesem Fall: Deutschland, Italien und Österreich).
Diese Anekdote ist kein Einzelfall. Kaum eine politische Rede, die Deutschlands Nachbarn in einen größeren regionalen Kontext einbetten möchte, kommt ohne den Verweis auf Osteuropa aus. Und auch viele Beiträge in den Medien verorten Polen in Osteuropa. Dass der Ottonormalverbraucher dann Polen quasi-natürlich in Osteuropa vermutet, ist unter diesen Umständen wenig verwunderlich. Wenn man in Deutschland (gerade auch wohlwollend) auf Polen zu sprechen kommt, ist Osteuropa meist nicht weit.
These 1: Polen liegt in Osteuropa
„Der eiserne Vorhang ist verschwunden, doch der Schatten bleibt bestehen.“[4]
Die These, wonach Polen in Osteuropa liegt, ist nicht nur, aber eben auch und gerade in Deutschland ziemlich weit verbreitet. Im Prinzip handelt es sich dabei um die Fortexistenz einer mental map, deren grundlegende Trennlinien in der Zeit der Ost-West-Teilung des europäischen Kontinents während des Kalten Krieges eingezeichnet worden sind. Auf dieser mentalen Landkarte ist Osteuropa (oder auch der Ostblock) identisch mit den damaligen Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes und stellt eine Region dar, über die man aus bundesdeutscher Sicht wenig weiß und meist noch weniger wissen will. Über den häufig auf ökonomische Kriterien verkürzten Begriff des Post-Kommunismus hat sich sowohl die Region als auch ihre Bezeichnung als Osteuropa bis in die Gegenwart auf den mental maps des bundesdeutschen medialen Diskurses gehalten.[5] Die Verortung Polens in Osteuropa kommt demnach keinesfalls unschuldig daher, sondern trifft eine Unterscheidung, die folgenreich ist.
Osteuropa, wie der Osten überhaupt, ist mit einigem semantischen Gepäck, man könnte auch sagen: Ballast, beladen. So wird der Osten etwa im polnischen Diskurs im Laufe der Teilungszeit von 1795 bis 1918 zunehmend mit (ökonomischer) Rückständigkeit identifiziert[6], einem Zustand, von dem man sich selbst maximal distanzieren möchte.[7] Osteuropa und der Osten, das sind immer die Anderen, ja, sind schlichtweg das Andere (the other). In gewisser Weise aktualisierte der letztlich auch wirtschaftliche Zusammenbruch des Kommunismus in Europa ältere Diskurse über die Rückständigkeit des europäischen Ostens. „Es war“, wie Wolff bemerkt, “Westeuropa, das im achtzehnten Jahrhundert, dem Zeitalter der Aufklärung, Osteuropa als seine komplementäre andere Hälfte erfand” und es als Gegenentwurf zur westeuropäischen Zivilisation konzipierte.[8]
Die Verortung Polens in Osteuropa ist somit weder unumstritten noch alternativlos. So weist etwa Jerzy Holzer darauf hin, dass bereits Polens vielzitierte „Rückkehr nach Europa“ 1989 an der Realität vorbeigehe, da das Land immer, auch während der Zeit des Kommunismus, Teil Europas gewesen sei. Aber, so ließe sich hinzufügen, eben kein Teil Westeuropas, das nicht zuletzt durch den Prozess der europäischen Integration immer mehr zum Synonym von Europa als Ganzem wurde.
Allerdings steht Deutschland hinsichtlich der Verortung Polens in Osteuropa keinesfalls alleine dar. Auch polnische Autorinnen wie etwa Anna Sosnowska platzieren Polen auf ihrer mentalen Landkarte inmitten eines als rückständig wahrgenommenen Osteuropas.[9] Während jedoch im deutschen Diskurs Polen anscheinend unbedacht in Osteuropa verortet wird, geschieht dies bei Sosnowska durchaus absichtsvoll. Der Begriff Osteuropa steht für Sosnowska in ihrem 2004 veröffentlichten Buch stellvertretend für die Region der postkommunistischen Staaten und ihre politische Situation, die damals noch außerhalb der Europäischen Union war. Doch selbst Sosnowska hielt es offensichtlich für notwendig, ihre terminologische Wahl noch einmal explizit zu begründen. Sie ist sich vollkommen bewusst, dass „Osteuropa kein unschuldiger Begriff ist“.[10]
These 2: Polen steht stellvertretend für Osteuropa
Dass in einer Diskussionsrunde neben einer deutschen, einer österreichischen und einer italienischen Perspektive, eine osteuropäische Perspektive, für deren Stellvertretung Polen ausgewählt wurde, als bereichernd empfunden wird, spiegelt bereits die ganze Problematik dieser These wider. Deutschland, Österreich, Italien, Osteuropa: Welcher Begriff passt nicht in diese Reihe? Mit der Gleichsetzung Polens und Osteuropas wird den Staaten der gemeinten Region irgendwo zwischen Deutschland und Russland im Grunde die eigene nationalstaatliche Individualität abgesprochen, und zwar in einem Maße, wie es für andere europäische Regionen kaum vorstellbar wäre. Wem würde einfallen, die französische Perspektive als repräsentativ für eine Region Westeuropa zu begreifen, der neben den Niederlanden, Belgien und Luxemburg, möglicherweise gar Großbritannien und Irland zuzurechnen wären?
Auch dieses intellektuelle Manöver reicht ins Zeitalter der Aufklärung zurück. Auf der mentalen Landkarte Westeuropas, wie sie im 18. Jahrhundert entsteht, werden „die Länder Osteuropas gedanklich miteinander verbunden und zu einem zusammenhängenden Ganzen geformt.“[11] Osteuropa wird auf der mentalen Landkarte zu einem amorphen, fremdartigen Terrain, auf dem das Individuelle dem Allgemeinen und Verallgemeinernden zum Opfer fällt. Dadurch geht es auch nicht mehr konkret um das Land Polen, sondern um Polen als Repräsentation einer wie auch immer im Einzelnen verstandenen Osteuropäizität.
Dieser Unwillen zur Differenzierung ist im deutschen Diskurs in dieser Form nur in einer Himmelsrichtung vorhanden: im Osten. Diese intellektuelle Bewegung – den Blick nach Osten zu richten, ohne die Linse scharf zu stellen – wirkt unbeholfen. So als könne man sich einerseits dem Argument der gestiegenen Bedeutung etwa Polens, Estlands und der Ukraine nicht entziehen, weigere sich aber andererseits, die sich hieraus ergebenden Konsequenzen zu ziehen. Die Verortung Polens in Osteuropa scheint vor diesem Hintergrund kaum mehr als eine Verlegenheitslösung zu sein.
Zwischenbilanz
Dass ein Blogbeitrag weder das vorliegende Thema erschöpfen behandeln noch eine endgültige Antwort auf die Frage „Wo liegt Polen?“ geben kann, liegt auf der Hand. Ziel des Beitrags war es vielmehr, die oft quasi-natürlich erscheinende Verbindung zwischen Polen und Osteuropa in Bewegung zu bringen, um auf die historische Kontingenz der Verortung Polens in Osteuropa hinzuweisen. Und augenscheinlich wird die Frage „Wo liegt Polen?“ weiterhin verhandelt und bringt stetig neue Antworten hervor. Nicht nur im angloamerikanischen Diskurs, wo man sich mit der Verortung Polens in East Central Europe bzw. Central and Eastern Europe behilft, und den deutschen Begriff Ostmitteleuropa inspiriert hat, tut man sich mit einer Antwort auf diese Frage schwer. Auch in Polen selbst ist die Frage danach, wo Polen liege, alles andere als eindeutig. Einerseits wehrt man sich fast reflexartig gegen die Fremdzuschreibung Osteuropa. Andererseits aber ist auch immer wieder eine gewisse Distanzierung zu dem, was da im Westen (tam na Zachodzie) passiert, zu beobachten. Dies kann in Alltagsgesprächen der Fall sein, aber auch in politischen Diskursen, was zuletzt während der acht Jahre währenden Regierungszeit der PiS der Fall war.
Die Antwort auf die Frage „Wo liegt Polen?“ wird vermutlich auch in Zukunft nicht eindeutig sein können und zum Widerspruch einladen. Die eine richtige Antwort gibt es nicht. Die fast immer falsche hingegen schon. Sie lautet Osteuropa.
[1] Przemysław Czapliński, Poruszona mapa, Wyobraźnia geograficzno-kulturowa polskiej literatury przełomu XX i XXI wieku, Kraków 2016.
[2] Larry Wolff, Inventing Eastern Europe, The map of civilization on the mind of the enlightenment, Stanford, Calif. 1996, S. 4
[3] Marek Cichocki, Północ i Południe, Teksty o polskiej kulturze i historii, Warszawa 2018. Auch auf Deutsch erschienen: Marek Cichocki, Nord und Süd, Texte zur polnischen Geschichtskultur, Wiesbaden 2020.
[4] L. Wolff (Anm. 3), S. 3.
[5] Für ein auf vorrangig ökonomische Aspekte abhebendes Verständnis der Begriffe „Osteuropa“ und „Post-Kommunismus“ siehe bspw. Anna Sosnowska, Zrozumieć zacofanie, Spory historyków o Europę Wschodnią (1947-1994), Warszawa 2004.
[6] Vgl. Jan Kusber, Der »Osten« und Polen. Historische Schlaglichter, in: Deutsches Polen-Institut (Hrsg.), Osten, Wiesbaden 2023, S. 14.
[7] Dem Thema Polen und der Osten wurde jüngst ein Jahrbuch des Deutschen Polen-Instituts gewidmet. Deutsches Polen-Institut (Hrsg.), Osten, Wiesbaden 2023.
[8] L. Wolff (Anm. 3), S. 4.
[9] A. Sosnowska (Anm. 8).
[10] ebd., S. 28.
[11] L. Wolff (Anm. 3), S. 6.