29.09.2023 - Gesellschaft , Politik
Parlamentswahlen und landesweites Referendum an einem Tag – warum ist das problematisch?
Am 15. Oktober, dem Tag der Parlamentswahlen in Polen, findet zeitgleich ein Referendum statt. Die Regierung will die Bürgerinnen und Bürger zu vier Themen befragen und behauptet, auf diese Weise deren Meinung der Bürger zu wichtigen Fragen in Erfahrung bringen zu wollen. Die Opposition und viele Experten glauben hingegen, dass es sich um einen taktischen Schachzug handelt, um der Regierungspartei zu helfen, zusätzliche Stimmen zu gewinnen. Was sagen die Fakten?
Referendum in Polen
Die polnische Verfassung sieht in Artikel 125 vor, dass in Angelegenheiten, die für den Staat von besonderer Bedeutung sind, ein landesweites Referendum durchgeführt werden kann.
Eine landesweite Volksabstimmung kann vom Sejm mit absoluter Stimmenmehrheit in Anwesenheit von mindestens der Hälfte der gesetzlichen Abgeordnetenzahl oder vom Präsidenten mit Zustimmung des Senats mit absoluter Stimmenmehrheit in Anwesenheit von mindestens der Hälfte der gesetzlichen Senatorenzahl angeordnet werden. Beteiligt sich mehr als die Hälfte der Stimmberechtigten an der Abstimmung, so ist das Ergebnis bindend.
In der polnischen Geschichte nach 1989 gab es schon einige Volksabstimmungen. Die wichtigsten waren das Verfassungsreferendum im Jahr 1997 (die Wahlbeteiligung lag bei fast 43%, damals galt die 50% Hürde noch nicht), in dem die Bürger die neue polnische Verfassung billigten, und das EU-Referendum im Jahr 2003 (die Wahlbeteiligung lag bei fast 59%, aber die Abstimmung dauerte zwei Tage), in dem die Polinnen und Polen den polnischen EU-Beitritt unterstützten. Andere Abstimmungen waren wegen der niedrigen Beteiligung nicht bindend.
Die Fragen und des Referendums ihre Bedeutung
Die entsprechende Verordnung hat der Sejm mit den Stimmen der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) Mitte August im Sejm verabschiedet. Zur Abstimmung gestellt werden vier Fragen:
(1) Unterstützen Sie den Ausverkauf von Staatsvermögen an ausländische Unternehmen, was zu einem Verlust der Kontrolle der Polinnen und Polen über strategische Wirtschaftsbereiche führt?
(2) Unterstützen Sie eine Anhebung des Renteneintrittsalters, einschließlich der Wiedereinführung des erhöhten Renteneintrittsalters von 67 Jahren für Männer und Frauen?
(3) Unterstützen Sie die Beseitigung der Barriere an der Grenze zwischen der Republik Polen und der Republik Belarus?
(4) Unterstützen Sie die Aufnahme Tausender illegaler Immigranten aus dem Nahen Osten und Afrika gemäß dem von der europäischen Bürokratie auferlegten Zwangsumsiedlungsmechanismus?
Zu der Formulierung der Fragen haben Juristen und verschiedene Organisationen (Menschenrechteorganisationen, Think Tanks, Juristenverbände und andere) viele Bedenken geäußert. Es wird der Vorwurf erhoben, dass der ungenaue und allgemeine Charakter der vier Referendumsfragen nicht nur verhindere, dass der gesamte Kontext und die Folgen der Entscheidung berücksichtigt werden, sondern auch deren Umsetzung fraglich bleibe. Das verbindliche Ergebnis des Referendums führt nämlich zu der rechtlichen Verpflichtung der staatlichen Institutionen, die Entscheidung umzusetzen. Kommentatoren fragen daher etwa, wie eine Umsetzung der Entscheidung, dass die Barriere an der Grenze zu Belarus nicht beseitigt wird, oder dass das Renteneintrittsalters nicht angehoben wird, aussehen solle, wenn bei der Volksabstimmung keine zeitlichen Perspektiven angegeben wurden.
Viele NGOs meinen auch, dass die Art und Weise, wie die Fragen, über die am 15. Oktober per Referendum entschieden werden soll, kommuniziert werden, es unmöglich mache, das Recht der Bürger auf Information zu gewährleisten. Die Fragen des Referendums und die erläuternden Spots, die die Regierungspartei dazu veröffentlichte, sind laut Experten in einer Weise formuliert, die eine These enthält und ausdrücklich ein bestimmtes Abstimmungsverhalten nahelegt. Sie suggerieren, dass in allen vier Fällen die Opposition eine andere Meinung hat, was nicht der Wahrheit entspricht (niemand fordert zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine Erhöhung des Rentenalters oder den Abriss des Grenzzauns). Des Weiteren glauben die Gegner des Referendums, die Erklärungsspots der Regierung würden falsche, vereinfachende Informationen enthalten und sich rhetorischer und emotionaler Manipulationen bedienen, die beim Zuschauer bewusst ein Gefühl der Verunsicherung erzeugen sollen. Als Beispiel ist hier die Verwendung von sehr emotionalen Begriffen („Ausverkauf“, „illegale Einwanderer“, „Bürokratie“) oder das Ansprechen von anti-muslimischen Ängsten (die Frage nach „Immigranten aus dem Nahen Osten und Afrika“) zu nennen. Es birgt die Gefahr, die Menschen zu verärgern und Hass- und Gewaltgefühle zu schüren. Außerdem beinhalten die Fragen Unwahrheiten. Zum Beispiel will die EU Polen nicht zwingen, Flüchtlinge aufzunehmen, wie es aber die entsprechende Referendumsfrage suggeriert.
Der wichtigste Vorwurf ist aber laut Kritikern des Referendums, dass es bei den Fragen meist um die Akzeptanz der aktuellen Politik der Regierung geht (die vier zur Abstimmung gestellten Themen begleiten die Regierungsarbeit seit Jahren und die Regierungspartei PiS hat dazu eine klare Meinung). Das macht die Verbindung des Referendums mit den Wahlen problematisch. Die PiS kann die Referendumsthemen dazu nutzen, eigene Positionen noch stärker im Wahlkampf zu positionieren. Die Frage nach der Privatisierung oder dem Renteneintrittsalter soll vermutlich Ängste vor einer liberalen Herrschaft in der rechten Wählerschaft wecken, die Fragen nach Immigranten und dem Grenzzaun die angebliche Schwäche der Opposition in Sicherheitsfragen zeigen. Es geht aber, so manche Kommentatoren, weniger darum, die eigene Wählerschaft zu mobilisieren, sondern vor allem darum, die Wähler der Opposition zu verunsichern. Durchgesickerte PiS-interne Umfragen sollen zeigen, dass die für das Referendum gewählten Themen – Privatisierung, Rentenalter, Migranten oder die Reaktion auf die Krise an der Grenze zu Belarus – die Wähler der Opposition, einschließlich der Bürgerkoalition, spalten. Viele von ihnen fürchten zum Beispiel die Privatisierung, weil sie glauben, dass der Staat die Menschen besser vor Krisen schützen kann als private Unternehmen. Auch die Ängste vor Migration sind nicht auf die PiS-Wählerschaft beschränkt.
Organisatorische Bedenken
Außer inhaltlichen Bedenken zu der Formulierung der Fragen und ihrer Nähe zu den Wahlkampfslogans der Regierungspartei gibt es auch Bedenken organisatorischer Natur. Die Durchführung eines landesweiten Referendums am Tag der Parlamentswahlen beeinträchtigt die Transparenz des Wahlprozesses und die Integrität des Wahlkampfes. Die Regierungspartei verfügt sowieso über unverhältnismäßig hohe Wahlkampfmittel. Es geht dabei nicht nur direkt um das Geld, sondern u.a. um die politische Einstellung der öffentlich-rechtlichen Medien, die ganz klar die Regierung unterstützen und die Opposition in einem sehr schlechten Licht zeigen. Auch die Maßnahmen, die die staatlichen Konzerne ergreifen – getarnt als Kampagnen zur Erhöhung der Wahlbeteiligung –dienen am Ende der Regierungspartei.
Am wichtigsten ist hier aber, dass es in der Praxis unmöglich sein wird, die Ausgaben für den Wahlkampf auf der einen und Informationsveranstaltungen rund um das Referendum auf der anderen Seite klar voneinander zu unterscheiden. Das ist insofern wichtig, weil die Ausgaben für den Wahlkampf eine klare Höchstgrenze haben und im Wahlkampfbericht sehr detailliert dargestellt werden müssen. Die Mittel, die für Informationsveranstaltungen rund um das Referendum ausgegeben werden, bleiben hingegen unbegrenzt.
Außerdem kann die gleichzeitige Durchführung von Wahlkampf und Referendumskampagne zu Missbrauch führen und die Umsetzung des Gleichheitsgrundsatzes im Wahlprozess beeinträchtigen. Das Problem liegt in dem von der PiS angewandten Trick, eine Wahl mit einem Referendum zu verbinden, dessen Fragen eine Form der Unterstützung der PiS sind. Ein Wähler, der an der Wahl und nicht an dem Referendum teilnehmen möchte, muss die Annahme des Abstimmungszettels für das Referendum ausdrücklich ablehnen, und die Wahlkommission muss dies im Protokoll vermerken. Das soll theoretisch dazu dienen, die Zahl der verteilten Referendums- und Wahlzettel zu kennen. In der Praxis wird es aber durch die Abhaltung von Wahlen und Referendum am selben Tag schwieriger sein, die Geheimhaltung beider Abstimmungen zu gewährleisten, wie es die Verfassung vorsieht. Das Abgeben oder Nichtabgeben eines Referendumsstimmzettels ist vielen Experten zufolge am Ende ein Hinweis auf die politischen Ansichten des Wählers. Direkt gesagt – mit der auf die Wahlliste geschriebenen Anmerkung, dass man keine Referendumskarte nimmt, offenbart man sich als Oppositionsanhänger. Und diese Information kann, so viele Juristen, missbraucht werden. Das gilt natürlich eher für kleinere Orte, wo jeder jeden kennt, als für große Städte, wo der Wähler eher anonym bleibt.
Folgen
Das alles wird ganz konkrete Folgen haben. Falls doch weniger als die Hälfte der Wahlberechtigten am Referendum teilnimmt, ist das Ergebnis der Volksabstimmung nicht bindend, und was bleibt sind „nur“ die schlechte Atmosphäre und die Unklarheiten in der Abgrenzung der Referendums- und Wahlkampfgelder. Wenn es aber doch bindend ist, dann hat es rechtliche Konsequenzen. Wie erwähnt, muss dann diese Entscheidung, juristisch gesehen, in irgendwelche Vorschriften umgewandelt werden. Im Fall eines Sieges der PiS-Partei wird diese wahrscheinlich behaupten, ihre Regierung sei selbst der Garant dafür, dass der Wille der Wähler realisiert wird und keine weiteren Schritte notwendig seien. Wenn die Opposition die Macht übernimmt, muss sie theoretisch etwas unternehmen, falls sie die demokratischen Regeln beachten will. Aber wie gesagt – das ist bei so formulierten Fragen gar nicht möglich. So bekommt die PiS (als Opposition) ein Argument, der neuen Regierung einen Verstoß gegen die Demokratie vorzuwerfen. Und inwieweit diejenigen, die den Referendumszettel zurückgewiesen haben, in der Zukunft wirklich Konsequenzen zu gewärtigen haben, darüber kann man nur spekulieren.