11.03.2022 - Geschichte, Gesellschaft , Erinnerungskultur

Leszek Jodliński: Leere Stühle. Über Juden in Oberschlesien vor 1945

Fragment okladki Puste krzesla 600x333

Der Kunsthistoriker Leszek Jodliński leitete bereits Museen in Beuthen und Gleiwitz, bevor er 2007 mit dem Aufbau des neuen Schlesischen Museums in Kattowitz betraut wurde, das nach jahrzehntelangem Dornröschenschlaf (1939 eröffnet, 1940 von den Nazis zerstört, 1984 wiedergegründet) vor einigen Jahren einen neuen repräsentativen Sitz im Kattowitzer Zentrum beziehen sollte. Die innovative Ausstellungskonzeption, die den Anfang der modernen oberschlesischen Geschichte in der von Preußen eingeleiteten industriellen Entwicklung sah und von gängigen polnisch-nationalen Mustern Abstand nahm, führte zur Kritik seitens der politischen Entscheidungsträger in Kattowitz und Warschau und zu seiner Entlassung 2012. Damals bereits publizierte Jodliński in Zeitschriften zum Thema Juden in Oberschlesien, 2020 kam ein Sammelband heraus, der das Schicksal einiger oberschlesischen Familien und Individuen schildert, die bis heute nur selten bekannt geworden sind.

In Polen sind diese Schicksale deutscher Juden unbekannt, in Deutschland ist es ähnlich, denn hierzulande gibt es, so Jodliński, ebenfalls kaum Interesse am ehemaligen Osten, auch an den damals in Oberschlesien lebenden Juden. So werden selbst im Berliner Jüdischen Museum nur wenige Beispiele von jenseits der Oder und Neiße präsentiert mit Ausnahme der Synagoge in Breslau. In der heutigen Breslauer Storch-Synagoge kam Jodliński auf die Idee zum Titel des Buches, als er von der Empore aus die „leeren Stühle“ sah: „Dieses Bild scheint mir mehr als symptomatisch für das Schicksal der Juden in Schlesien zu sein. Irgendwie sind sie da und gleichzeitig sind sie nicht da“. Und weiter: „Von hier aus, aus Breslau, gingen die (meistens) assimilierten Juden nach Oberschlesien, das für sie ein eigenartiges gelobtes Land wurde. Ein Land der Chancen und Herausforderungen. Cohn, Weichmann, Stein, Barasch - das sind nur wenige Namen, die diese unsichtbare Linie zwischen Breslau und Gleiwitz, Kattowitz und Beuthen zogen“.

Nehmen wir die Weichmanns. Einigen Architekturinteressieren wird das Seidenhaus Weichmann in Gleiwitz vielleicht ein Begriff sein. Erwin Weichmann war Waisenkind und wurde in einer jüdischen Familie in Breslau großgezogen, studierte in Berlin Ökonomie und Kunsthandwerk, lernte dort Walter Gropius, Erich Mendelssohn und andere Architektur- und Künstlerpersönlichkeiten der damaligen Zeit kennen. Der aus Allenstein stammende Mendelssohn, einer der erfolgreichsten Bauhaus-Architekten, schuf in ganz Schlesien mehrere markante Gebäude, darunter auch das bemerkenswerte Seidenhaus Weichmann für seinen Freund Erwin - ein architektonisches Symbol einer ganzen Epoche. Das Haus hatte eine Ladenfläche für erlesene Stoffe, eine Lagerhalle für breit gefächerte Haus- und Modetextilien sowie eine Privatwohnung in einem. Es spiegelte den Geist der Zeit mit ihrer funktionalistischen Bauhaus-Architektur der Weimarer Republik wider. Die dynamische Form besticht mit langen parallelen Linien und eckigen waagerecht platzierten Fenstern, verbindet Minimalismus mit Funktionalismus. Die Schaufenster waren kunstvoll eingerichtet, durch Lichteffekte verstärkt. Erwin – ein self-made man, kam 1921 nach Oberschlesien, in einer Zeit, in der sich die Zukunft der Provinz zwischen Deutschland und Polen entscheiden sollte. Das Seidenhaus wird nur wenige Monate vor der politischen Teilung Oberschlesiens im Juni 1922 eröffnet, die neue Grenze verläuft nur wenige Kilometer davon, aber Gleiwitz feiert die Investition, feiert die neue Zeit, den neuen Aufbruch. Weichmann bleibt auch, als viele Geschäftsleute Oberschlesien verlassen, sein Haus wird zu einer der exklusivsten Einkaufsdressen in der Region, schnell entstehen Filialen in anderen Städten – im deutschen Oppeln und polnischen Kattowitz. Durch neue Verkaufsstrategien, die Weichmann nach seinem USA-Besuch in die Wege leitet (u.a. durch Versandhandel), trotzt er der Weltwirtschaftskrise.

1929 heiratet Erwin die im benachbarten Hindenburg (Zabrze) lebende Alice Richter, die Eigentümerin des Modehauses Heilborn. Erwin verkauft daraufhin das Seidenhaus in Gleiwitz an seinen Partner Max Altgassen (der für einen Protagonisten in einem der Romane Horst Bieneks steht und 1945 in der Bombennacht von Dresden ums Leben kommt) und zieht nach Hindenburg. Das Jahr 1933 ändert alles, denn mit der Machtergreifung Hitlers gibt es nun Boykottaufrufe gegen jüdische Geschäftsleute und Firmen. Dank Frank Bernheim, einem Gleiwitzer Juden, der erfolgreich gegen seine Entlassung als Verkäufer vor dem Völkerbund klagte, genossen Juden in Oberschlesien noch bis 1937 ein etwas milderes Schicksal als in den übrigen Reichsprovinzen (Jodliński widmet der Bernheim-Petition ein Kapitel seines Buches). Erwin glaubt zunächst an ein Arrangement mit den Nazis, aber als die Lage immer dramatischer wird, denkt er über Emigration nach. 1936 besucht Weichmann erneut die USA um die Umsiedlung vorzubereiten, ein Geschäftspartner aus St. Louis bürgt für ihn und seine Familie. 1938 verlässt Weichmann Oberschlesien und beginnt in den USA eine neue Existenz. Er kann von Glück sprechen, denn er darf seinen Haushalt mitsamt einer Daimler-Limousine mitnehmen. In St. Louis lässt Erwin Weichmann seinen Nachnamen in Winston umbenennen und leitet dort seine neue Firma Winston´s Inc. The House of Silk. Er wird Europa nie wieder besuchen.

Okladka i tylna strona

 

Bildquelle: Wydawnictwo Azory

Ob Weichmann, Bernheim, Hirsch oder Lustig – all diese Persönlichkeiten, die im Buch beschrieben werden, gibt es nicht mehr in Oberschlesien. Sie hatten Glück und konnten sich und ihre Familien rechtzeitig aus Deutschland retten – nach England, Palästina, Argentinien, in die USA. Einige auch nicht, wie die Familie Karliner, die im Sommer 1939 mit kubanischen Visa ausgestattet keine Aufnahme in Kuba, den USA und Kanada erhalten hat und zusammen mit allen anderen Passagieren der MS „St. Louis“ wieder zurück nach Europa musste.

Jodliński leistet mit seinem Werk eine wichtige Erinnerungsarbeit, denn wie bereits erwähnt, passen oberschlesische Juden bis heute kaum zum publizistischen oder wissenschaftlichen Interesse einer breiteren Öffentlichkeit. Auffallend ist auch die grafische Gestaltung des Bandes mit vielen zeitgenössischen Bildern, die zum ersten Mal publiziert werden. Ein kleines Manko aus meiner Sicht ist die Konzentration auf Großstädte im Industriegebiet Oberschlesiens, aber daraus ist dem Revier-Kenner Jodliński kein Vorwurf zu machen, im nächsten Band wird er vielleicht noch einige Aufmerksamkeit auf andere, kleinere oberschlesische Städte richten – etwa Oppeln, Neustadt oder Neiße, die ebenfalls spannende – glückliche und tragische – jüdische Geschichten zu erzählen wissen.

Leszek Jodliński, Puste krzesła, Kraków-Gliwice 2020, 45 PLN

Kaufen: https://azorywydawnictwo.pl/ksiegarnia-internetowa-wydawnictwa-azory/