16.05.2024 - Gesellschaft , Politik
Finanzieller Aufstieg und Belohnung – doch kein politisches Altenteil. Warum so viele polnische Spitzenpolitiker ins Europaparlament wechseln wollen
Unter den polnischen Kandidaten für das Europäische Parlament sind vier Minister der im Dezember 2023 gebildeten Regierung von Donald Tusk, einige stellvertretende Minister und viele Politiker aus Regierungs- und Oppositionsparteien, die in der polnischen Politik eine führende Rolle spielen. Anders als in Deutschland schließt ein erlangtes Mandat für das Europaparlament den Verbleib in der oder die Rückkehr in die polnische Spitzenpolitik nicht aus. Es kann bisweilen sogar förderlich sein.
Ins Europäische Parlament zu gehen, wird in den Augen vieler deutscher Politiker und der Öffentlichkeit als politisches Altenteil wahrgenommen. Die jeweiligen Politiker:innen verschwinden oft vollständig von der bundespolitischen Bühne, eine Rückkehr in die höchsten Ebenen der Berliner Staatsgeschäfte ist weitgehend ausgeschlossen. Wer sich also weiter politisch in Deutschland profilieren will, für den ist es also nur von geringem Interesse, bei den Europawahlen zu kandidieren. Auch finanziell lohnt es sich nicht. So sind die meisten deutschen EU-Abgeordnete in der breiten Bevölkerung nicht bekannt. In Polen ist das anders.
Wohlbekannte Namen auf den polnischen Listen zum Europäischen Parlament
Die polnischen Parteien setzen bei den Europawahlen auf bekannte Namen. Aus der Regierungskoalition kandidieren drei Politiker, die bis vor wenigen Tagen Minister der Bürgerkoalition waren (der Minister für Kultur Bartłomiej Sienkiewicz, der Minister für Staatsvermögen Borys Budka und der Minister für Inneres und Verwaltung Marcin Kierwiński) sowie ein ehemaliger Minister des Dritten Wegs (der Minister für Entwicklung und Technologie Krzysztof Hetman). Alle vier gaben zu Beginn des offiziellen Wahlkampfes in Polen Anfang Mai ihre Ämter auf. Anders verhält es sich mit den stellvertretenden Ministern, die ihre Stellen behalten, auch wenn sie versichern, für den Wahlkampf Urlaub nehmen zu wollen. Um einen Platz im Europäischen Parlament bemühen sich beispielsweise nicht nur zwei stellvertretene Minister aus dem Außenministerium, sondern auch je ein stellvertretender Minister aus den Ressorts für Verteidigung, Landwirtschaft, Digitalisierung und Kultur. Dazu kommen etliche, auch namhafte Sejm-Abgeordnete der Regierungskoalition.
Auch auf der Liste der größten Oppositionspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) befinden sich viele wohlbekannte Namen, darunter zahlreiche Parlamentarier. Viele Kandidaten dieser Partei hatten bis 2023 eine ministeriale Stelle (darunter Maciej Wąsik und Mariusz Kamiński, die durch eine rechtskräftige Verurteilung und die anschließende Begnadigung durch Präsident Andrzej Duda bekannt wurden). Auch der ehemalige Chef des Ölkonzerns Orlen, Daniel Obajtek, den die jetzige Regierung beschuldigt, zum Nachteil des Unternehmens gehandelt zu haben, ist einer der Spitzenkandidaten und sichert sich so garantiert einen Platz im Europäischen Parlament.
Warum streben polnische Politiker ins EU-Parlament?
Es gibt mindestens zwei Gründe, warum auf den Listen zum EP so viele bekannte Namen stehen. Einerseits die eigene Motivation der jeweiligen Kandidaten, andererseits aber auch eine konkrete Parteistrategie.
Die offizielle Argumentation der Kandidaten lautet natürlich, dass sie ihre Expertise nutzen wollen, um europäische Politik zu gestalten und polnische Interesse im EP zu wahren. Doch es ist kein Geheimnis, dass die Höhe des Gehaltes (10 075 Euro brutto, also ca. 43 500 PLN brutto plus Tagessätze) im Vergleich zu den Löhnen des polnischen Sejm-Abgeordneten (knapp 13 000 PLN brutto – gut 3000 Euro – plus Tagessätze) oder Ministers (18 000 PLN brutto – gut 4200 Euro) schon eine große Anziehungskraft besitzt. Dazu kommen noch vom EU-Parlament bezahlte Stellen für Mitarbeiter und gute Arbeitsbedingungen vor Ort, also alles was man als Mitglied des Sejm nicht in diesem Ausmaß vorfindet. Auch die Art und Weise, wie man arbeitet und eine bestimmte Distanz zum innerpolnischen Machtkampf aufbauen kann, sind nicht zu unterschätzende Motive für eine Kandidatur. Die starke Polarisierung der polnischen Politik führt dazu, dass einige Politiker der mit harten Bandagen geführten innenpolitischen Auseinandersetzungen überdrüssig werden und eine Auszeit herbeisehnen. Es gibt auch Personen, die von Gerichtsverfahren in Polen bedroht werden und in einem Wechsel in das Europaparlament eine Absicherung gegen mögliche unbequeme Urteile sehen. Das EP kann zwar auch die Abgeordnetenimmunität aufheben, bis dies aber passiert, ist man fürs erste geschützt.
Es gibt aber auch Politiker, für die der Platz im EP gar keine Abkehr von der polnischen Innenpolitik bedeutet. Sie nutzen ihr Prestige und die finanziellen Möglichkeiten (Bürger ins EP einzuladen, ein Büro im Wahlkreis zu betreiben), um einen starken Einfluss auf die polnische politische Szene auszuüben. Das ist auch die Erwartung ihrer Parteien.
Daher benötigt auch jede Partei an der Spitze der regionalen Listen (Polen ist bei den Europawahlen in dreizehn Wahlbezirke aufgeteilt) so genannte „Wahllokomotiven“: bekannte Namen, die die Wähler wählen werden und die anderen Kandidaten mitziehen. Das polnische Wahlrecht zum EP macht diese Logik noch wichtiger, da es von der Wahlbeteiligung in dem jeweiligen Bezirk abhängig ist, wie viele Abgeordnete aus dieser Region am Ende ins EP einziehen werden. So erhoffen sich die Parteien, dass sie mit bekannten Gesichtern viele Bürger zur Stimmabgabe überzeugen können (in Polen war die Wahlbeteiligung bei den EP-Wahlen lange Zeit sehr niedrig: 2004: 20,87 %, 2009: 24,53 %, 2014: 23,83 % und 2019: 45,68 %). Da es, wie oben dargestellt, für viele Politiker attraktiv ist, ins Europaparlament zu wechseln, ist die Besetzung der ersten Plätze auf den Wahllisten eher kein Problem für die größten Parteien. Dabei wird die Aufstellung an der Spitze der regionalen Liste auch als Belohnung für ein großes Engagement der Person für die Partei betrachtet. So sollten gerade die Aufstellungen der vier Minister der Regierung Tusk interpretiert werden. Sie haben in den ersten Monaten nach acht Jahren PiS-Regierung „aufgeräumt“ (z.B. hat der Kulturminister die öffentlich-rechtliche Medien von der PiS „zurückerobert“, der Minister für Staatsvermögen hat Chefs der staatlichen Konzerne ausgetauscht) und sehr viel Kritik aushalten müssen, so dass sie jetzt, sozusagen als Ausgleich, eine auskömmliche Auszeit in Straßburg und Brüssel nehmen können. Zumindest wird dies medial so kommentiert.
Natürlich gibt es auch Ausnahmen. Gerade wenn man weiß, dass in der jeweiligen Region die Wahlbeteiligung gering ist und die Partei schlechte Chancen hat, ein EP-Mandat zu gewinnen, also unbedingt ein Kandidat gefunden werden muss, der sich trotz schlechter Erfolgsaussichten aufstellen lassen möchte.
Nicht immer ein politisches Altenteil
Es gibt aber auch Beispiele, dass polnische Politiker, die in Polen für sich keine Chancen mehr sehen, sich für das Europäische Parlament entscheiden. So war der Platz im EP in der gerade endenden Wahlperiode für viele ehemalige polnische Premierminister, unabhängig von der Parteizugehörigkeit, attraktiv. Włodzimierz Cimoszewicz (Premierminister von 1996 bis 1997), Leszek Miller (2001–2004), Marek Belka (2004–2005), Ewa Kopacz (2014–2015), Beata Szydło (2015–2017) – alle hatten in der Vergangenheit einer polnischen Regierung vorgestanden und vor fünf Jahren eine neue politische Aufgabe gefunden. Auch Jerzy Buzek (Premierminister 1997–2001) saß im EP, obwohl seine Zeit dort schon im Jahr 2004 anfing und er auch für eine halbe Legislaturperiode (2009–2012) den Vorsitz des EPs innenhatte, als erster Pole und erster Repräsentant der Neumitglieder von 2004. Auch wenn für einige der Weg in das EP die letzte Etappe ihrer politischen Karriere bedeutete (z.B. Leszek Miller, Włodzimierz Cimoszewicz), konnten andere wie Beata Szydło von der PiS ihre Position ausbauen und sich gut für eine Rückkehr in die polnische Innenpolitik in Stellung bringen. Es gab sogar schon Spekulationen, dass sie bei den Präsidentschaftswahlen 2025 antreten sollte. Auch für Radosław Sikorski, der nach seiner Zeit als Außenminister (2007–2014) im EP saß, kam die Berufung zum Außenminister Ende 2023 nicht gerade überraschend. Seinen Platz im EP hat 2023 ebenso Krzysztof Hetman aufgegeben, der zuerst Sejm-Abgeordneter und dann Minister für Entwicklung und Technologie in der Regierung Tusk wurde und jetzt wieder für das EP kandidiert.
Natürlich gibt es auch viele EP-Abgeordnete, die kaum bekannt sind und auch bei der Wahl zweitrangig in der polnischen Politik waren. Einige kandidieren erneut und könnten trotz ihrer geringen Bekanntheit wieder gewählt werden, weil sie es schaffen, regional Wähler zu überzeugen oder dank der Wahllokomotiven ins EP ziehen werden. Auch in dieser Gruppe finden sich interessante Karrierewege. So ist der junge, unbekannte EU-Abgeordnete Andrzej Duda, der im Jahr 2014 ins EP einzog (und zuvor ein einfacher Sejm-Abgeordneter und stellvertretender Minister war) 2015 Staatspräsident geworden. Sein Gegenkandidat bei der Präsidentschaftswahl 2020, Rafał Trzaskowski, saß wiederum von 2009 bis 2013 im EP, wurde später Minister für Digitalisierung und Europaminister, bis er schließlich 2018 zum Warschauer Stadtpräsidenten gewählt wurde. So können einige der heutigen Kandidaten zum EP sich große Hoffnungen machen. Nicht nur, wenn es ums Geld geht.