28.11.2022 - Gesellschaft , Politik
Eins, zwei, drei … Mit wie vielen Listenverbindungen wird die Opposition zu den polnischen Parlamentswahlen 2023 antreten?
#Polenwählt #PolenWahl #PLWahl23 #WahlenInPolen
Eigentlich ist oft eine bestimmte, nicht zu große Vielfalt von sich zur Wahl stellenden politischen Parteien für Wählerinnen und Wähler sowie für die Demokratie insgesamt von Vorteil. Bürgerinnen und Bürger können entscheiden, welche politischen Meinungen und Pläne ihnen am besten passen. Das Argument, dass man keine Partei wählt, weil ohnehin alle gleich seien, ist dann fehl am Platz. Doch in Polen wird seit einigen Monaten von der Opposition und in Expertenkreisen heftig darüber debattiert, auf wie viele Listen die heutigen Oppositionsparteien antreten soll. Warum ist das so und was wird genau diskutiert?
Die nächsten Parlamentswahlen in Polen werden aller Voraussicht nach im Herbst 2023 stattfinden. Laut jüngster Umfragen würde die regierende Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) mit 34% zwar wohl die Wahl gewinnen, aber kaum eine regierungsbildende Mehrheit im Parlament bekommen. Bei einem solchen Ergebnis würde sie 192 Sitze erhalten, während für eine Regierungsmehrheit 231 Sitze erforderlich sind. Die von der Bürgerkoalition (KO) angeführte Opposition würde demnach mit 26% auf dem zweiten Platz landen, gefolgt von Szymon Hołownias Polen 2050 mit 14%, der Linkspartei mit 9% und der Polnischen Koalition (die größte Partei ist dort die Volkspartei, PSL) mit fast 7%. Die rechtsextreme Konföderation (Konfederacja) würde aktuell an der 5-Prozent-Hürde scheitern. Folgt man den Regeln der politischen Arithmetik, hätten die Parteien der heutigen politischen Opposition nach den kommenden Wahlen die Möglichkeit, gemeinsam die Regierung zu bilden.
Was die Geschichte zeigt
Gleichwohl handelt es sich bei diesen Umfrageergebnissen um eine Momentaufnahme. Bereits eine Verschiebung um wenige Prozentpunkte kann über die Zusammensetzung der nächsten polnischen Regierung entscheiden. Dies zeigt auch ein Blick in die jüngere Geschichte polnischer Parlamentswahlen. Zum Beispiel gewann im Jahr 2015 die PiS mit knapp 38% die Wahlen, auch weil die Vereinigte Linke den Einzug ins Parlament knapp verpasste (als Parteienbündnis hätte sie die 8-Prozent-Hürde überwinden müssen). Vier Jahr später allerdings hätte dieses Ergebnis der PiS keine alleinige Regierungsbildung ermöglicht. 2019 benötigte die Partei Recht und Gerechtigkeit hierfür bereits 43,6%. Dieses Ergebnis reichte aus, obwohl die Oppositionsparteien KO, PSL sowie der Demokratische Linksbund (SLD) insgesamt 48,51 % der Stimmen erhielten. Möglich macht dies das in Polen angewendete d’Hondt-Verfahren, mit dem die erzielten Stimmen in Parlamentsmandate umgerechnet werden. Größere Parteien erhalten hierbei proportional mehr Sitze zugeteilt als kleinere Parteien. So erhielt die PiS 2019 insgesamt 235 Sitze. Die drei oben genannten heutigen oppositionellen Parteien hätten mit damals fast 9 Millionen Stimmen dann eine Mehrheit im Sejm gehabt, wenn sie mit einer einzigen Liste zur Wahl angetreten wären. Der Vorschlag für eine gemeinsame Liste war aber von der PSL abgelehnt worden, da sie behauptete, als konservative Partei einige der Vorschläge der linken Partei SLD nicht akzeptieren zu können.
Dass Bündnisse unter den oppositionellen Parteien sich tatsächlich lohnen können, bestätigte 2019 die Wahl zum Senat, der zweiten Kammer des polnischen Parlaments. Damals ging die Opposition den sogenannten Senatspakt ein, also eine Vereinbarung zwischen der Bürgerkoalition, der SLD und der PSL, nach der die Opposition in den meisten Wahlbezirken nur einen Senatskandidaten bzw. eine Senatskandidatin gegen die PiS aufstellte (die Senatswahlen sind Mehrheitswahlen, in jedem Bezirk wird ein Senator gewählt). Im Ergebnis erhielt die PiS 48 von 100 Sitzen, und damit ebenso viele wie Oppositionsparteien, die sich jedoch auf weitere 4 Mandate unabhängiger Senatoren stützen kann und damit die Mehrheit im Senat stellt.
Was die heutige Statistik sagt
Eine gemeinsame Oppositionsliste soll die Nachteile verhindern, die das d’Hondtsche Verfahren gerade für kleinere Parteien bereithält. Wenn die Opposition mit drei oder sogar vier Listen zur Wahl antritt, könnte es wieder zu einem ähnlichen Ergebnis wie 2015 oder 2019 kommen. Dies ist vor allem durch das Aufkommen neuer politischer Kräfte wie etwa Polen 2050 wahrscheinlich (diese Partei gab es 2019 noch nicht), da sich hierdurch die durchschnittliche Anzahl der für jede Partei abgegebenen Stimmen verringert. Aber die Befürworter einer gemeinsamen Liste betonen nicht nur die Vorteile der Prämie, die dem Wahlsieger durch das d’Hondtsche Verfahren gewährt wird, sondern auch die psychologische Bedeutung einer gemeinsamen Oppositionsliste von der Linken über die Bürgerkoalition und Polen 2050 bis hin zur Polnischen Koalition, um die bis kurz vor der Wahl unentschlossenen Wähler zu gewinnen. Laut dieser Überzeugung würden diese Bürger den Oppositionsparteien eine Prämie dafür geben, dass sie sich vereinigt haben und eine reale Chance haben, die nächste Regierung zu bilden.
Also alles klar? Leider nein!
Wenn man diese Argumente berücksichtig, könnte man sagen, es sei selbstverständlich für die Opposition, eine einzige Liste zu bilden. Doch die politischen Debatten zeigen etwas anderes. So sind etwa die Polnische Koalition und Polska 2050 weiterhin nicht von einer gemeinsamen Liste überzeugt und plädieren für zwei Oppositionsblöcke. Die PSL macht sich zum Beispiel Sorgen, dass ihre konservativen Wähler, wenn die gemeinsame Liste mit dem Vorschlag „Ehe für alle“ (wie ihn die Linken fordern) zur Wahl geht, lieber doch die PiS wählen. Mit einer Liste ist es für die beiden konservativen Parteien (Polska 2050 und Polnische Koalition) und die Linke äußerst schwierig sich vorzustellen, ein gemeinsames Programm zu vereinbaren ohne die eigenen Werte zu verraten. Sie befürchten, dass Teile ihrer Wählerschaft eine gemeinsame Liste nicht gutheißen und der Wahl fernbleiben werden.
Andererseits werden die Bürger theoretisch wissen, wer von den Kandidaten auf einer Liste welche Partei repräsentiert und dieser Person die Stimme geben können (in Polen wählt man eine Liste, indem man eine konkrete Person auf dieser Liste „ankreuzt“). Und bei den Sejm-Wahlen ist es in der Tat möglich, dass in jedem Bezirk mindestens ein Kandidat jeder Gruppierung auf einer gemeinsamen Liste für den Oppositionsblock antritt. Wählerinnen und Wähler wissen natürlich, dass sein Kandidat möglicherweise nicht durchkommt und die Stimme für „seinen“ Kandidaten letztlich einem anderen Kandidaten auf der gemeinsamen Liste zugutekommt, aber zumindest hat er die Gewissheit, dass er/sie für seinen/ihren eigenen Kandidaten gestimmt hat. Diese Situation sollte also eigentlich sogar besser sein als bei den Senatswahlen, wo nur ein Kandidat des oppositionellen Bündnisses zur Wahl steht, der dann zwangsläufig oft auch eine wirklich andere Meinung vertritt. Dennoch hat dieses Rezept für den Senat 2019 Erfolg gehabt.
Ein weiterer Grund, warum die Gespräche über eine Einigung zwischen den Oppositionsparteien ins Stocken geraten sind, ist die Überzeugung von PO-Parteichef und Oppositionsführer Donald Tusk, dass es der Bürgerkoalition gelingen werde, die PiS in den Umfragen Ende dieses und Anfang nächsten Jahres zu überholen. Das würde die Rolle der KO und Tusks selbst in der Konstellation noch weiter stärken. Diese potenzielle Dominanz gibt den kleineren Parteien weitere Gegenargumente an die Hand. Das Beispiel der Partei Nowoczesna (Moderne), die nach zwei gemeinsamen Listenverbindungen mit der Bürgerplattform von letzterer mit der Zeit absorbiert wurde, ist ein Warnzeichen. Eine ähnliche Entwicklung würde wahrscheinlich das Ende der ehrgeizigen Pläne von Szymon Hołownia bedeuten und die Position der Linken schwächen. Kaum weniger wichtig sind die finanziellen Aspekte des Projekts. Alle Parteien, die bei den Wahlen mehr als 3% erreicht haben, bekommen finanzielle Zuschüsse aus dem Staatshaushalt. Es könnte nämlich passieren, dass im Fall einer gemeinsamen Liste der Zuschuss vollständig in den Händen der größten Partei bleiben würde, falls unter ihrem Hut alle Verbündeten an die Wahl gingen. Auch dafür gibt es schon ein Beispiel, und zwar, als die Partei Kukiz‘15 und die PSL ein Bündnis gründeten. Es endete, als die PSL sich weigerte, das Geld mit dem kleineren Partner zu teilen.
Alle diese Faktoren deuten darauf hin, dass die Verwirklichung des Projekts einer gemeinsamen Liste sehr schwierig werden dürfte.
Ausblick
Alle Argumente zeigen, dass es noch gar nicht klar ist, ob ein, zwei oder gar drei Bündnisse in Opposition zur Regierungspartei PiS im Herbst 2023 um Wählerstimmen kämpfen werden. Zwar geben alle Oppositionsführer zu, dass für die Machtablösung der PiS die Bildung einer Koalitionsregierung nötig ist, die nur dann über eine stabile Mehrheit im Sejm verfügen wird, wenn sie Vertreter aller vier Parteien umfasst. Entscheidend ist jedoch das Programm mit ein paar konkreten Wahlzielen, das die Bürger überzeugen kann. Es ist davon auszugehen, dass die Opposition bis Ende des Jahres weitere Gespräche führt, aber die Personalfragen werden dann aller Voraussicht nach erst im nächsten Frühjahr entschieden. Gleichzeitig ist es auch kein Geheimnis, dass alle politischen Parteien derzeit ihre eigenen Ressourcen (Personal und Finanzmittel) für die Wahl vorbereiten. Auch die Erstellung eigenen Wahllisten beginnt langsam.
In den Debatten kursiert deshalb eine weitere Idee, nämlich dass eine gemeinsame Liste nur in bestimmten Regionen aufgestellt werden soll, wo die PiS in der Vergangenheit am erfolgreichsten war. Zum Beispiel erleidet die Opposition im Osten Polens, in denjenigen Bezirken, die der Regierungspartei nahestehen, durch das d’Hondtsche Verfahren die größten Verluste. Dort wäre, laut Experten, eine gemeinsame Liste am sinnvollsten und würde auch die Nachteile einer landesweiten Koalition reduzieren.
Realistischer aber erscheint ein Szenario mit zwei Listen, das unter anderen von der Polnischen Koalition verbreitet wird: einem linksliberalen Bündnis von der Bürgerkoalition und der Linken auf der einen und einem Mitte-Rechts-Bündnis mit Polen 2050 und der Polnischen Koalition auf der anderen Seite. Wie der Anführer der Polnischen Koalition, Władysław Kosiniak-Kamysz, sagt: „Zwei Listen bringen uns Erfolg, fünf Listen bedeutet den PiS-Sieg, und eine gemeinsame Liste kann einige Parteien den Verlust von Millionen von Wähler kosten“.
Viel leichter zu erreichen ist eine Neuauflage des Senatspakts von vor vier Jahren. Alle Analysen deuten darauf hin, dass die „vereinte Opposition“ nach den Wahlen 2023 über sechzig Sitze im Senat haben wird, also zehn mehr als jetzt. Zwar sollen, wie man hört, die derzeitigen Senatorinnen und Senatoren Vorrang bei der Kandidatur haben, aber es gibt auch einige Senatoren, die z.B. für den Sejm oder 2024 für das Europäischen Parlament kandidieren wollen oder aus Altersgründen ausscheiden. Das ergibt etwa zwanzig zusätzliche Sitze in den Wahlbezirken. Hier also steht die Vereinbarung schon fast fest.
Die Diskussion darüber, ob die Opposition bei den Sejm-Wahlen mit einer, zwei oder mehreren Listen antreten soll, ist daher aus mehreren Gründen sehr wichtig. Für die Opposition, für es um eine mögliche Rückkehr an die Macht geht, ist die Frage natürlich essenziell. Sie spielt aber auch für die Regierungspartei eine Rolle, denn die PiS wird ihren Wahlkampf entsprechend anpassen müssen. Schließlich haben die Debatte und die sich aus ihr ergebenden Konstellationen eine große Bedeutung für die Wähler. Und außerdem müssen sich die Anhänger der Opposition entscheiden, ob bestimmte Parteienbündnisse ihren Präferenzen entsprechen und wie sie dann abstimmen werden. Aber auch für Teile der potenziellen Anhängerschaft der Partei Recht und Gerechtigkeit kann die Haltung der Opposition ausschlaggebend für ihr Abstimmungsverhalten am Wahltag sein, also ob sie zur Wahl gehen und falls ja, wen sie letztendlich unterstützen. Sie kann andererseits jedoch auch diejenigen Bürger mobilisieren oder entmutigen, die nicht vorhatten, sich an den Wahlen zu beteiligen, oder die zögerlich waren.
Weitere Informationen:
https://www.rp.pl/opinie-polityczno-spoleczne/art36323291-zalety-jednej-listy
https://www.pap.pl/aktualnosci/news%2C1429898%2Clisty-wyborcze-opozycji-kiedy-decyzja.html