14.06.2023 - Politik, Gesellschaft

Die Polonia vor der Wahl – Entscheiden die Auslandspolen über die künftige Regierung?

Neues Botschaftsgebaeude Entwurf 2018

[Aktualisierungen sind fett markiert; letzte Aktualisierung: 12.10.2023]

Der Wahlkampf hat das politische Polen bereits fest im Griff und ist geprägt von der starken Polarisierung zwischen Anhängern des Regierungslagers und Unterstützern der Oppositionsparteien. Auch unter den Polen im Ausland, der Polonia, werden die für Herbst dieses Jahres anstehenden Wahlen zum Sejm und zum Senat heiß diskutiert. Doch neben der politischen Polarisierung sind es vor allem die Änderungen der Anfang 2023 Wahlrechtsreform, die die Polonia umtreiben und Fragen nach der Fairness der Wahlen aufkommen lassen.

Wer ist wahlberechtigt und welchen Einfluss haben die Stimmen der Polonia auf das Endergebnis?

Jeder polnische Staatsbürger ab 18 Jahren besitzt bei den polnischen Parlamentswahlen, ebenso wie bei den Präsidentschafts- und Europawahlen, das aktive Wahlrecht. Neben den rund 30 Millionen Wahlberechtigten im Inland leben Schätzungen zufolge gut 20 Millionen Polen weltweit jenseits der Grenzen der Republik Polen. Gleichwohl handelt sich hierbei nicht um 20 Millionen potenzielle Wahlberechtigte. Nur Personen mit polnischer Staatsbürgerschaft sind bei den Wahlen zum polnischen Parlament (ebenso zu den Präsidentschaftswahlen) zur Stimmabgabe berechtigt. Dies trifft auf die rund 2,2 Millionen Auslandspolen  zu, die im Besitz der polnischen Staatsbürgerschaft und damit potenziell wahlberechtigt sind. Voraussetzung für die tatsächliche Stimmabgabe ist die Eintragung ins Wählerverzeichnis beim jeweils zuständigen polnischen Konsul.

Bei den Sejm-Wahlen, die nach Verhältniswahlrecht stattfinden, werden die Stimmen der Auslandspolen dem Wahlbezirk Nr. 19 Warszawa I, dem größten der 41 polnischen Inlandswahlbezirke, zugerechnet, in dem derzeit 20 Abgeordnete[1] gewählt werden. In der Praxis bedeutet dies, dass die Stimme bei den Parlamentswahlen für Kandidaten dieses speziellen Wahlkreises abgegeben wird. [2] Dieses Verfahren wird seit Beginn der Dritten Republik 1989 angewendet. Während anfangs die geringe Wahlbeteiligung seitens der Polonia (bei den Parlamentswahlen 1991 und 1993 wurden jeweils rund 40.000 Stimmen im Ausland abgegeben) diese Regelung als unproblematisch erscheinen ließ, stellt sich mittlerweile die Frage der Wahlgerechtigkeit. Die Anzahl der Mandate pro Wahlkreis berechnet sich nach Anzahl der im jeweiligen Wahlkreis lebenden Einwohner. So entfallen nach dem Wahlgesetz aus dem Jahr 2011 auf die rund 600.000 Einwohner des kleinsten Wahlkreises Częstochowa (Nr. 28) 7 Mandate, während beim größten polnischen Wahlkreis Warszawa I (Nr. 19) auf gut 1,6 Millionen Einwohner 20 Mandate entfallen. Problematisch ist, dass die wahlberechtigten Auslandspolen hierbei nicht mitgezählt werden, also keinerlei Einfluss auf die Anzahl der zu vergebenden Mandate haben. Dabei wurden etwa bei den Parlamentswahlen 2019 ganze 314.261 Stimmen im Ausland abgegeben. Diese Zahl liegt höher als die Zahl der jeweils abgegebenen Stimmen in den Wahlkreisen Elbląg, Koszalin, Wałbrzych und Częstochowa, in denen jeweils 7 bis 8 Mandate vergeben werden. Das Problem dürfte sich dieses Jahr noch weiter verschärfen, da sich eine Rekordzahl von über 600.000 Wählerinnen und Wählern für den Urnengang registriert hat. Erfahrungsgemäß werden gut 550.000 der Registrierten dann auch tatsächlich an der Abstimmung teilnehmen.

Bei den Wahlen zum Senat, bei denen das Mehrheitswahlrecht gilt, werden die Stimmen der im Ausland wählenden polnsichen Staatsbürger dem Wahlbezirk Nr. 44 zugerechnet, der die Warschauer Bezirke Białołeka, Bielany, Śródmieście und Żoliborz umfasst, und wo, wie in allen anderen Wahlbezirken, genau ein Senator gewählt wird. Auch hier wird die Anzahl der wahlberechtigten Auslandspolen bei der Einteilung der Wahlkreise nicht miteinbezogen.

2011 wurde die Möglichkeit der Briefwahl für im Ausland lebende und dort wählende polnische Staatsbürger eingeführt. Anfang 2018 wurde diese Möglichkeit per Gesetz auf Personen mit Behinderung beschränkt. Dies schließt wahlberechtigte Polen in Flächenstaaten wie etwa Kanada effektiv von der Stimmabgabe aus, wenn das nächstgelegene Wahllokal mehr als 1000 km vom Wohnort entfernt liegt. Bereits 2018 erhob der polnische Ombudsmann Adam Bodnar Bedenken gegen diese Neuerung, da sie die Allgemeinheit der Wahl in Frage stelle.

Für die Wahlen am bedeutendsten  sind die polnischen Wähler in Großbritannien (88.700 Wähler im Jahr 2019),  Deutschland (46.000), den Niederlanden (13.800), Irland (13.100), Belgien (13.100) und Frankreich (11.700). Allein in diesen sechs Staaten wurden 2019 rund 60 Prozent aller Stimmen im Ausland abgegeben. 2019 gab es 320 Wahllokale im Ausland. Bei den anstehenden Parlamentswahlen im Herbst dieses Jahres werden es weltweit genau 410 Bezirkswahlkommissionen sein, bei denen die Auslandspolen am Wahltag ihre Stimme abgeben können. In Polen geht man von einer höheren Wahlbeteiligung im Ausland aus als dies noch bei den Wahlen zuvor der Fall war.

Insgesamt ist ein signifikanter Anstieg der Anzahl der Wahlberechtigten im Ausland (d.h. der registrierten Wähler) bei den Wahlen zu Sejm und Senat nach 1989 in der Dritten Polnischen Republik festzustellen. Sie reichen von 41.817 registrierten Wählern bei 26.749 abgegebenen Stimmen im Jahr 2001 (dies entsprach 0,19 Prozent aller abgegebenen Stimmen) bis zu 199.451  registrierten Wählern bei 174.805 abgegebenen Stimmen im Jahr 2015  (dies entsprach 1,12 Prozent aller abgegebenen Stimmen).[3] Im Jahr 2019 stimmten 314.000 polnische Staatsbürger im Ausland bei den Wahlen zu Sejm und Senat ab, davon 46.000 in Deutschland.  Anders als im Inland, wo die Regierungspartei PiS mit 43,6 Prozent der Stimmen vor der Bürgerplattform mit 27,4 Prozent lag, hatte im Ausland die Bürgerplattform mit 38,95 Prozent die Nase vorn. Die PiS kam lediglich auf 24,85 Prozent.

Die Auswirkungen der Wahlrechtsreform auf die Polonia

Ende Januar dieses Jahres verabschiedete das polnische Parlament eine Gesetzesnovelle zur Reform des Wahlgesetzes,  die sich tendenziell auch auf die Stimmabgabe im Ausland auswirken wird. Abgegebene Stimmen müssen laut Wahlordnung binnen einer Frist von 24 Stunden nach Schließung der Wahllokale ausgezählt worden sein, andernfalls werden die in dem betreffenden Wahllokal abgegebenen Stimmen in ihrer Gesamtheit nicht mitgezählt. Diese Regelung bleibt auch nach der Gesetzesnovelle weiterhin bestehen. Was die Gesetzesänderung hingegen vorsieht, ist eine Änderung des Modus der Stimmauszählung. Fortan muss jedes Mitglied der Bezirkswahlkommission jeden Stimmzettel bei der Auszählung in Augenschein nehmen. Diese Regelung soll der Transparenz der Auszählung dienen, verlängert aber auch den Auszählungsprozess. Diese Neuerung droht vor allem für diejenigen Wahlkommissionen zum Problem zu werden, die eine besonders große Anzahl von Stimmen auszuzählen haben. In einer in London durchgeführten simulierten Auszählung kam man auf etwa 1600 Wahlzettel, die innerhalb der gesetzlichen Frist ausgezählt werden konnten. Gleichzeitig gibt es in London Bezirkswahlkommissionen, die bis zu 5.500 Stimmen auszuzählen haben. In einem solchen Szenario würden die in dieser Wahlkommission abgegebenen Stimmen in ihrer Gesamtheit verfallen. Zusätzliche erschärft wird dieses Problem durch das geplante Referendum, das parallel zu den Parlamentswahlen durchgeführt werden soll. Die Auszählung des Referendums wird die Wahlkommissionen vor eine weitere zeitliche Herausforderung stellen, die gerade in Städten mit hohem Polonia-Anteil kaum zu bewältigen sein wird.

Ob die zuvor erwähnte Erhöhung der Anzahl der Wahllokale, die auch von Polonia-Organisationen im Ausland gefordert wurde, geeignet ist, um diesem Missstand Abhilfe zu schaffen, ist noch nicht abzusehen. Allein in Berlin sind für dieses Jahr sieben Wahlkommissionen geplant. Deutschlandweit können polnische Wahlberechtigte an insgesamt 47 Orten ihre Stimme abgeben. Der polnische Generalkonsul Marcin Król schätzt im Gespräch mit der Deutschen Welle die Gesamtzahl der in Berlin wahlberechtigten Polinnen und Polen auf über 100.000. Hiervon würden schätzungsweise bis zu 18.000 Personen im Herbst den Gang zur Wahlurne antreten. Nicht zutreffend ist die bisweilen in den Medien zu vernehmende Behauptung, dass polnische Staatsbürger im Ausland sich nach der Gesetzesnovelle nur noch auf der Basis eines gültigen polnischen Personalausweises für die Wahlen registrieren können, und zu diesem Zweck zunächst nach Polen fahren müssten, um den Ausweis zu beantragen.

Fazit

Gemessen an der Gesamtzahl der abgegebenen Stimmen bei den vergangenen Parlamentswahlen macht der Anteil der Stimmen Polonia gerade einmal 1 Prozent aus. Die Stimmen der Polonia sind damit aller Voraussicht nach nicht wahlentscheidend. Allerdings haben die Stimmen potenziell Gewicht, wenn es um die Mandatszuteilung im Wahlbezirk Nr. 19 in Warschau geht, dem die Stimmen der Auslandspolen zugerechnet werden. Hier beträgt ihr Anteil bisweilen über 15 Prozent, 2019 waren es sogar 23 Prozent. Größeren Einfluss haben die Stimmen der Auslandspolen damit auf das Abschneiden einzelner Abgeordneter in diesem Wahlbezirk. So entfielen etwa 2015 ganze 24.700 Stimmen aus dem Ausland auf Paweł Kukiz, was 48 Prozent der für ihn abgegebenen Stimmen entsprach – ohne diese Stimmen wäre er möglicherweise nicht in den Sejm eingezogen. Noch größeres Gewicht haben die Stimmen der Auslandspolen bei den Wahlen zum Senat, bei denen sie dem Wahlbezirk Nr. 44 zugerechnet werden. Hier machten die Stimmen der Auslandspolen bei den Wahlen im Jahr 2015 ganze 44 Prozent der Gesamtstimmenanzahl aus (2011: 39 Prozent). Würde, wie bisweilen gefordert, der Polonia ein eigener Wahlkreis zugeteilt, dessen Mandatszahl mit der Zahl der registrierten Wähler korrespondiert, dann würden bei den diesjährigen Wahlen in einem Wahlkreis dieser Größe etwa 7 bis 8 Mandate vergeben werden und die Stimmen der Polonia wären das berühmte Zünglein an der Waage.



[1] In den Jahren 1991 bis 1997 waren es 17, 2001 bis 2007 ganze 19, ab 2011 dann 20 Mandate.

[2] Magdalena Lesińska: Niełatwe związki. Relacje polityczne między państwem pochodzenia a diasporą: Polska i polska diaspora w okresie przełomu 1989 roku i później. Warszawa: 2019. S. 254.

[3] Lesińska: Niełatwe związki. S. 266.

Dieser  Blogbeitrag entstand im Rahmen des  aus Mitteln der Deutsch-Polnischen Wissenschaftsstiftung  geförderten Forschungsprojekts "Polen in der Welt" (https://www.deutsches-polen-institut.de/wissenschaft/neupage/polen-in-der-welt/).