06.09.2023 - Gesellschaft , Politik
10 Jahre Ordo Iuris in Polen. Fundamentalkatholische Juristen im Kampf um Deutungshoheit
Mit dem charakteristischen Löwen-Logo ist Ordo Iuris als Teil des Netzwerks um TFP (Tradition, Familie und Privateigentum) mit Wurzeln in Brasilien erkennbar
Eigentlich betreibt Karol Modzelewski einen erfolgreichen YouTube-Kanal mit knapp 150 Tausend Abonnenten und dem Hauptformat "Newsy bez wirusa" (Nachrichten ohne Virus). Auf seine spöttische Weise präsentiert der Stand-Up-Künstler und Satiriker dort ausgewählte Ereignisse aus Politik, Gesellschaft und Showbiz. Zu seinem neuerlichen Bekanntheitsschub hat jedoch sein Rechtsstreit mit dem einflussreichen fundamentalistisch-katholischen Juristen-Think-Tank Ordo Iuris, zu Deutsch “Rechtsordnung”, geführt. In einem vorgerichtlichen Unterlassungsschreiben, verbunden mit einer finanziellen Forderung an Modzelewski, verlangt jener die Entfernung eines YouTube-Films, der die außerehelichen Affären der Ordo Iuris-Mitarbeiter thematisiert und somit ihre Doppelmoral offenlegt.
Angesichts der legislativen Durchsetzungsfähigkeit von Ordo Iuris und des Einflusses seiner Juristen in Regierungskreisen erscheint dies wie ein ungleicher Kampf zwischen David und Goliath. Umso beeindruckender ist die Entschlossenheit des Satirikers, sich von dem Juristenverband nicht einschüchtern zu lassen, sondern in die Offensive zu gehen. Modzelewski nutzte dabei die Instrumente der sozialen Medien und antwortete öffentlichkeitswirksam, dass er nicht beabsichtige, den Film zu entfernen. Zudem kündigte er an, eine ganze Reihe von Filmen unter dem Motto “So wie bei Ordo Iuris” zu produzieren, in denen es um Heuchelei und Doppelmoral im öffentlichen Leben gehen soll. Durch dieses Vorgehen erlangte das Thema der Seitensprünge der Ordo Iuris-Mitarbeiter eine weitaus größere Bekanntheit, als es wohl ohne den Rechtsstreit der Fall gewesen wäre.
Die Strategie der Einschüchterung über den juristischen Weg, die in diesem Fall nicht ansatzweise aufgegangen ist, ist nicht neu und nur eine von vielen Methoden des fundamentalistisch-katholischen Juristen-Think-Tanks. Ob in kleinen polnischen Städten, in Warschau, Brüssel oder Genf – wo immer der Kampf zwischen einer vermeintlichen natürlichen Ordnung und gesellschaftlichem Fortschritt auftritt - die Anwälte von Ordo Iuris sind präsent. Sie beschreiben sich selbst auf ihrer Webseite als "Think Tank von Anwälten, die konservative Werte in der praktischen Rechtsanwendung verteidigen".
Es hat sich schnell gezeigt, dass Ordo Iuris, das diesen August sein 10-jähriges Gründungsjubiläum feierte, keine gewöhnliche Nichtregierungsorganisation ist. Die Ziele des Netzwerks sind zu ehrgeizig: Es geht um nicht weniger als um Deutungshoheit und kulturelle Hegemonie im Namen der vermeintlichen Mehrheit, die das Netzwerk zu repräsentieren beansprucht – das national-katholische Polen mit einem traditionellen Rollenverständnis innerhalb der Familie als Bund zwischen Mann und Frau mit mehreren Kindern. Um diese im Kern antipluralistische Agenda durchzusetzen, bedient sich das Netzwerk bewusst einer Kombination aus rechtlichen, politischen, medialen und gesellschaftlichen Aktivitäten.
Der Direktor und Anwalt Jerzy Kwaśniewski, gerade einmal 40 Jahre alt, wurde bereits 2021 im Ranking des US-amerikanischen Magazins Politico zu den 28 einflussreichsten Menschen in Europa gezählt. Er, sein Team und mit Ordo Iuris verbundene Experten haben sich in den letzten Jahren erfolgreich Machtpositionen in Regierungskreisen erarbeitet. So sind aus ihren Reihen bereits zwei Richter des Obersten Gerichtshofs hervorgegangen - darunter der Erste Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs und zugleich der Gründer des Think-Tanks und dessen erster Direktor Aleksander Stępkowski -, außerdem ein stellvertretender Außenminister, ein Mitglied des Beirates des Nationalen Instituts für Freiheit (Narodowy Instytut Wolności) und ein Mitglied des Nationalen Entwicklungsbeirats beim Präsidenten der Republik Polen.
Ordo Iuris hatte einen wesentlichen Anteil an der Durchsetzung einer der strengsten Abtreibungsregelungen in Europa. Im Jahr 2020 führte politischer Druck von Ordo Iuris und anderen konservativen Gruppen zur Verabschiedung eines Gesetzes, das Abtreibungen nahezu vollständig verbot, selbst in Fällen schwerwiegender fetaler Anomalien. Auch die Verbreitung der sogenannten "LGBT-freien Zonen" geht auf das Konto der Organisation. Die Anwälte von Ordo Iuris tourten monatelang durch die Kreis- und Gemeinderäte des Landes, um den ehrenamtlichen Kommunalpolitikern in Workshops den fertigen Antrag “Kommunale Charta der Polnischen Familien” schmackhaft zu machen. Sie verfassen kommunale Verordnungsentwürfe und verteidigen diese vor Gericht, falls es zu Konflikten mit nationalem und europäischem Recht kommt. Mittlerweile ziehen immer mehr Gemeinden und Landkreise ihre "Anti-LGBT"-Beschlüsse zurück. Dabei spielte die Perspektive des Entzugs von EU-Geldern eine entscheidende Rolle. Die Herausgeber des "Atlas des Hasses" (Atlas nienawiści) zählen derzeit über 30 solcher Orte, wo explizite Anti-LGBT-Beschlüsse oder die von Ordo Iuris entwickelte Kommunale Charta der Polnischen Familien gelten. Noch vor Kurzem waren es über 100.
Trotz einiger verlorener Schlachten, wozu der Rückzug der kommunalen Selbstverwaltung aus Anti-LGBT-Beschlüssen oder die aktuelle Kündigung des Mietvertrags durch den Vermieter in der Hauptgeschäftsstelle in Warschau zählt[1], spielen die Juristen rund um Ordo Iuris aufgrund ihres juristischen Fachwissens und ihrer Positionen im politischen Gefüge weiterhin eine wichtige Rolle. Der deutsche Politikwissenschaftler Karl Rohe hat den Begriff der "Deutungseliten" geprägt. Darunter verstand er bestimmte Gruppen von Personen, die über besondere Fähigkeiten, Wissen oder Autorität verfügen, um die Bedeutung von sozialen Ereignissen, Phänomenen und Veränderungen zu interpretieren und zu erklären.[2] Rohe argumentierte, dass die Komplexität der sozialen Strukturen und Prozesse in modernen Gesellschaften dazu führt, dass nicht jeder Einzelne in der Lage ist, alle Ereignisse und Entwicklungen zu verstehen und zu interpretieren. Daher bilden sich Gruppen von Deutungseliten heraus, denen man die Kompetenz zuspricht, Bedeutungen zu vermitteln. Dabei seien besonders Anwälte und Juristenverbände befähigt, eine Deutungskultur zu formen, indem sie Diskussionen über rechtliche Leerstellen, Grauzonen und Konflikte anstoßen und so die Rechtsprechung beeinflussen. Dies könne sowohl durch schriftliche Abhandlungen, Kommentare zu aktuellen Fällen als auch durch die Teilnahme an öffentlichen Diskussionen und Medien geschehen.
2020 protestierten Tausende gegen das verschärfte Abtreibungsverbot vor dem Hauptsitze von Ordo Iuris in der Zielna-Straße 39 in Warschau. Das Symbol der polnischen Widerstandsbewegung, der vergoldete P-Anker, mit den Buchstaben P und W für Polska Walcząca („Kämpfendes Polen“) erinnert an den Warschauer Aufstand. Letzten Monat wurden Ordo Iuris die Räumlichkeiten gekündigt.
Bild: Adam Borkowski über Unsplash
All dies sind Strategien, die Mitarbeiter von Ordo Iuris in Polen, einem Land mit vergleichsweise schwächeren Institutionen als im Westen, bewusst und recht erfolgreich anwenden. Deutlich sichtbar war dies bei den Angriffen auf den Bürgerrechtsbeauftragten Adam Bodnar während und auch nach seiner Amtszeit. Die Organisation kann Gesetzesentwürfe erarbeiten, wie das im Sejm nach den Schwarzen Protesten 2016 im ersten Anlauf gescheiterte Abtreibungsverbot, oder Änderungen an bestehenden Gesetzen vorschlagen, um fundamentalistisch-katholische Werte zu fördern. Durch Lobbyarbeit und direkte Zusammenarbeit mit politischen Parteien wie PiS, aber auch Konfederacja, versucht die Organisation, ihre Prioritäten gezielt in die politische Agenda einzubringen. Die Anwälte von Ordo Iuris übernehmen zudem strategisch wichtige Rechtsverfahren, etwa bei der disziplinarischen Entlassung einer Professorin aufgrund von homophoben Äußerungen oder im Fall einer rechtsradikalen jungen Aktivistin, die zusammen mit drei jungen Männern eine Frau mit einer Tasche in Regenbogenfarben überfallen hat. Solche Verfahren bieten nicht zuletzt eine Plattform, um die eigene Sichtweise der Gesellschaft zu präsentieren und die öffentliche Debatte zu beeinflussen.
Ein wichtiger Bestandteil des kulturhegemonialen Projekts ist die ideologische Prägung einer nächsten Generation von konservativen Juristen und Journalisten an der 2021 eigens durch Ordo Iuris in Warschau gegründeten Hochschule Collegium Intermarium. Hierbei ist jedoch anzumerken, dass die Anzahl der Studienbewerber beim Studienfach Rechtswissenschaften an dieser Hochschule sehr gering ausfällt. Das Netzwerk um Ordo Iuris erweitert kontinuierlich seine Aktivitäten und hat zuletzt ein Fact-Checking-Portal und eine Petitionsplattform gegründet. Es intensiviert die Zusammenarbeit mit rechten und katholisch-fundamentalistischen Journalisten in Polen und im Ausland. Auf ihren Internetseiten bewirbt Ordo Iuris den neuen Studiengang „Journalismus“ am Collegium Intermarium mit mehreren Prominenten des rechten polnischen Journalismus: Paweł Lisicki, Rafał Ziemkiewicz und Łukasz Warzecha.
Die außerhalb Polens wenig bekannte Organisation Ordo Iuris ist auch auf internationaler Ebene durchaus aktiv: Ähnlich wie andere Gruppen dieses Typus, die sich dem Kampf gegen die liberale Gesellschaft verschrieben haben, engagiert sie sich als Lobby- und Beraterorganisation bei den Vereinten Nationen, der EU, dem Europarat und der OSZE.
Unterstützt vom polnischen Justizminister Zbigniew Ziobro hat die Organisation eine Kampagne angeführt, um die EU-Ratifizierung der Istanbul-Konvention zur Bekämpfung von häuslicher Gewalt zu blockieren. An ihrer Stelle sollte ein Abkommen über "Familienrechte" verabschiedet werden, das heterosexuelle Ehen und traditionelle Geschlechterrollen fördern würde, für die sie in Brüssel Lobbying betrieben hat. Die EU-Kommissarin Vera Jourova thematisierte, dass sie gerade von polnischen Protesten überhäuft wurde, was im Wesentlichen auf das Wirken von Ordo Iuris und seines Umfeldes zurückgeführt wurde. Die Organisation nutzt die in Teilen der Gesellschaft Anklang findende Anti-Gender-Rhetorik, um das politische Klima weiter zu formen und eine politische Agenda zu radikalisieren.
Ordo Iuris betont, dass man bewusst auf staatliche Fördergelder verzichtet, um sich die Unabhängigkeit zu wahren. Die Organisation stützt sich vor allem auf einen sogenannten "Freundeskreis", der durch monatliche Spenden den Haushalt über einige Jahre finanziell stabilisiert hat. Doch bereits 2022 war in dieser Hinsicht ein außergewöhnlich schwieriges Jahr für Kwaśniewskis Think-Tank. Journalisten wiesen darauf hin, dass Ordo Iuris gerade in dem Moment in finanzielle Schwierigkeiten geraten sei, als die Sanktionen gegen Russland in Kraft traten. Dies nährte zusätzlich Spekulationen über Verbindungen nach Moskau (was von Ordo Iuris bisher stets scharf bestritten wird). Im Jahr 2013 unterzeichnete Ordo Iuris zusammen mit sechs anderen polnischen Organisationen eine Unterstützungsliste für das russische Gesetz zum Verbot der Propaganda von Homosexualität. Ordo Iuris arbeitete auch mit dem World Congress of Families zusammen, der von dem russischen Oligarchen und ehemaligen Präsidenten der Russischen Eisenbahnen, Wladimir Jakunin, gegründet worden ist.
Um die Wurzeln von Ordo Iuris zu verstehen, muss man bis ins Jahr 1960 nach Brasilien zurückschauen. Dort gründete der katholische Publizist und Politiker Plinio Corrêa de Oliveira die TFP (Tradition, Familie und Privateigentum), die sich für eine antiegalitäre, antiliberale und fundamentalkatholische Kultur und Politik einsetzte. Die TFP war sowohl eine religiöse als auch eine soziale Bewegung und pflegte Verbindungen zu südamerikanischen Diktaturen und rechtsextremen Akteuren. Ihr Name steht gleichzeitig für eine bestimmte Lehre: Sie strebt eine idealisierte Rückkehr zur mittelalterlichen Ordnung an.
In dem katholisch geprägten Polen fand das TFP-Netzwerk Ende der 90er Jahre ideale Bedingungen für seine Aktivitäten. Berichten zufolge war das Fundraising der Non-Profit-Organisation, das auf Massenversand religiöser Medaillons, Marienbilder und christlicher Publikationen basierte, so erfolgreich, dass es die Einrichtung weiterer Filialen ermöglichte. Im Jahr 2013 gründete einer der beiden polnischen TFP-Ableger die Denkfabrik Ordo Iuris. Das europäische Netzwerk der TFP, das NGOs in mindestens zehn europäischen Ländern umfasst, wird derzeit weiter ausgebaut. Die unterschiedlichen Filialen sind nicht immer durch denselben Namen oder das charakteristische Löwen-Logo als Teil desselben Verbands erkennbar. Recherchen eines internationalen Journalistennetzwerks legen nahe, dass Polen längst zum regionalen Zentrum dieser internationalen Bewegung geworden ist. Angesichts dieses Sachverhalts erscheint es durchaus berechtigt zu hinterfragen, wie viel nationale Souveränität und genuin polnische Willensbildungsprozesse nun wirklich hinter der betont polnisch-nationalpopulistischen und wertkonservativen Regierungsagenda stecken – da wird der Bock zum Gärtner.
[1] Erst letzten Monat wurden Ordo Iuris die Räumlichkeiten in der Zielna-Straße 39 gekündigt. Das Haus, in dem die Organisation Einzug gehalten hatte, ist ein geschichtsträchtiger Ort: Während des Warschauer Aufstands im Jahr 1944 wurde der Bau Austragungsort von Kämpfen. Das Symbol der polnischen Widerstandsbewegung - vergoldete P-Anker, mit den Buchstaben P und W für Polska Walcząca („Kämpfendes Polen“) ziert bis heute das Dach des Gebäudes.
[2] Rohe, K. (1987). Politische Kultur und der kulturelle Aspekt von politischer Wirklichkeit, in: Politische Vierteljahresschrift Politische Kultur in Deutschland Bilanz und Perspektiven der Forschung, S. 39 47.