10.03.2022 - Geschichte, Kultur, Gesellschaft , Politik

WM-Sammelbilder, Bravo-Plakate, Bonanza-Fahrrad & Co. Wovon Jugendliche in Oberschlesien träumten

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Jugendliche, egal wann und wo auf der Welt, gestalten ihre Persönlichkeit durch Schule, Hobbys, Freunde. Sie haben neben Leidenschaften, die auf persönliche Interessen zurückgehen, auch ganz normale materielle Träume. Heute betreffen diese meistens Markenklamotten, Smartphone, Kopfhörer. Egal ob Ost und West streben viele nach Gegenständen, die ihren „Status“ unter Gleichaltrigen erhöhen. Meistens handelt es sich dabei um Gegenstände, die Geld kosten. Manchmal auch um Dinge, die anders beschafft werden müssen.

Oberschlesien, Anfang und Mitte der 1970er Jahre. Nach Willy Brandts Warschau-Besuch im Dezember 1970 wurde bei vielen oberschlesischen Familien die Hoffnung geweckt, legal in die Bundesrepublik ausreisen zu können. In einem Zusatzprotokoll zum Warschauer Vertrag hielten beide Regierungen fest, etwa 125 000 Deutsche, zu denen sich viele Oberschlesier zählten, ausreisen zu lassen. Das magische Wort, das damals der kommunistischen Führung erlaubte, Zugeständnisse in der heiklen Angelegenheit zu machen, hieß „Familienzusammenführung“. Woher hatten die betroffenen Oberschlesier nun Familienangehörige in Westdeutschland? Zum Teil sind Familienväter als Wehrmachtssoldaten nach 1945 im Westen geblieben, zum Teil wurden nach dem Krieg auch Oberschlesier aus Polen vertrieben, die zweisprachig waren und Verwandte zurückgelassen hatten, zum Teil auch welche, die nach 1956 im Rahmen einer ersten „Aussiedler-Welle“ das Land verlassen durften.

Die im Westen lebenden Oberschlesier suchten bis 1970 meistes Kontakt zu Verwandten über das Deutsche Rote Kreuz und bemühten sich über humanitäre Kanäle ihre Familienmitglieder ausreisen zu lassen, was zu einem gewissen Grad – nur bei engen Verwandten – möglich war. Bestimmte Kontakte zwischen Ost und West waren damals aber auch trotz des „Eisernen Vorhangs“ möglich – zumindest die Post funktionierte und mit ihr auch der Paketversand. Jedes Jahr schickten die Westverwandten Pakete nach Polen, wo sich, neben Nutella, Dominosteinen und Cremeseife auch Dinge verbargen, die zu begehrten „Status“-Symbolen unter Jugendlichen wurden: Jeans unterschiedlicher Marken, Alltagsutensilien wie Schwimmflügel, Pelikan-Füller oder ganze Mäppchen mit bunten Filzstiften. Aber so richtig begehrt waren Zeitschriften, die mit Fußball und Popmusik zu tun hatten, darunter das Fußballmagazin Kicker und die Jugendschrift Bravo mit begehrten Plakaten damals bekannter Bands wie ABBA oder Smokie. Nicht selten verirrten sich in den Paketen auch echte Schallplatten, meistens mit deutschen Schlagern von Heino & Co., aber dann auch hin und wieder wurden manch „richtige“ Jugendträume wahr: LPs von Susi Quattro, Boney M., den Bee Gees gehörten zu den heißbegehrten Gütern, die man eifrig auf Kassettenrecorder kopierte. Der Besitzer wurde allgemein bewundert und beneidet. Noch mehr, wenn er mit einem Recorder oder gar einer ganzen Stereoanlage deutscher oder japanischer Produktion aufwarten konnte.

Einen großen „Sehnsuchtsbereich“ stellte damals der Fußball dar, kräftig unterstützt durch die Erfolge der deutschen Nationalmannschaft bei Europa- und Weltmeisterschaften der die Bundesligamannschaften wie Bayern München und Borussia Mönchengladbach bei den Pokalwettbewerben. Man träumte von deutschen Fußballbildern: auf Spielkarten, Plakaten und besonderen Sammelbildern. Die oberschlesische Jugend männlichen Geschlechts sammelte alles, was kam. In Paketen kamen oft Süßigkeiten, es musste aber die Spengler-Schokolade mit Olympia-Bildern (1964, 1968, 1972) sein, später mit Bildern von den Fußballweltmeisterschaften der Jahre 1966, 1970, 1974. In jeder Schokolade steckte ein rechteckiges Bild 7 x 14 cm groß mit einem Spielermotiv der deutschen Mannschaft mit Uwe Seeler, Franz Beckenbauer oder Gerd Müller. Dazu gab es spannende Beschreibungen von Ernst Huberty, so hat manch ein Jugendlicher in Oberschlesien angefangen, Deutsch zu lernen. Wenn nähere Verwandte in Deutschland lebten, trauten sich Jugendliche auch noch die dazugehörigen Sammelalben zu erbitten, in die dann die einzelnen Bilder eingeklebt wurden. Viele fragten ihre Verwandten nach den Spengler-Schokoladen, man hörte sich unter Verwandten und Bekannten um, in der Folge waren manche Bilder doppelt und dreifach vorhanden - also hatte man die untereinander getauscht, wie es heute auch oft bei ähnlichen REWE-Sammelaktionen zugeht. Noch zu Fußball: Im Kicker gab es Einzelteile eines Fußballspielers zum Ausschneiden, man musste mehrere Ausgaben haben um dann den „ganzen“ Günter Netzer oder Paul Breitner zu haben. Manch einer erinnert sich heute noch an „Wallfahrten“ zu den Wohnungen derjenigen „Auserwählten“, die so einen Spieler in Lebensgröße an der Wand kleben hatten.

Bonanza 1

Bildquelle: Privat 

Mit der fortschreitenden Pubertät interessierte man sich mehr für Popmusik und Mode. Beide Themen lieferte Bravo, mit der Einschränkung, dass es die unter westdeutschen Jugendlichen beworbenen Teenagerprodukte in polnischen Geschäften nicht gab. Markenjeans gab es für Dollar in Pewex-Shops, echte Adidas-Schuhe waren unerreichbar (in Polen hießen übrigens alle Sportschuhe adidasy), von angesagten Kleider- und Kosmetikmarken ganz zu schweigen (die Zeitschrift Burda lieferte dafür Erwachsenen Tipps, sich selbst modisch zu kleiden). Was man noch im Bravo lesen konnte - einige hatten auch so ihr Deutsch vertieft - waren Artikel über angesagte Bands und Interpreten, neue Hollywood-Filme und natürlich die Ratschläge in Liebesangelegenheiten von Dr. Sommer.

Etwas echt großes, was nur ganz wenige in Oberschlesien hatten, war ein Bonanza-Fahrrad. Ursprünglich in den USA entwickelt, wurde es in den 1970er zum Hit in Westdeutschland. Sein Preis (um 160 DM) war so hoch, dass eigentlich nur jemand, dessen Oma oder Opa in Deutschland lebte, sich so was zur Erstkommunion vielleicht wünschen durfte. (Wünschen? Ja, einen Wunschkatalog gab es oft gratis: OTTO und Quelle sei Dank! Da konnte man die komplette Garnitur westlicher Konsumware nicht nur sichten, sondern die Preise auch im Verhältnis zum Verdienst vergleichen!) Das Bonanza-Rad war knallorange, hatte einen unbequemen länglichen Sitz und eine undefinierbare Rückenlehne, an die man nicht herankam. Vor allem aber gab man mit dem Lenker an, der an amerikanische Motorräder wie Harley Davidson erinnerte: So konnte man förmlich die Freiheit spüren und dabei auch alle anderen beeindrucken!

Erwachsene hatten sicherlich andere Träume, die aber nicht in gängige Pakete passten. Daniel Riss, einer der Darsteller in Andrzej Klamts Aussiedler-Doku „Die geteilte Klasse/Podzielona klasa“ meint, dass sich seine Eltern in Westen etwas geleistet haben, was sie in Polen der damaligen Zeit nie hätten träumen können: ein Reihenhaus, ein Auto, einen Spanien-Urlaub. Die Zeiten haben sich längst geändert: Auch in Polen sind große und kleine materielle Träume in den letzten Jahrzehnten in Erfüllung gegangen. Und was Reisen und Badeurlaub betrifft: Ausgerechnet im oberschlesischen Oppeln (Opole) sind nach dem Umbruch zwei polnische Reise-Großgewichte zu Hause: das Bus-Unternehmen Sindbad und das Reisebüro Itaka.

Und die Jugendwünsche und -träume von damals? Auch diese sind heute von Bedeutung, viele, die heute 55+ geworden sind, machen sich auf den Weg zum elterlichen Keller bzw. Speicher, um nach Spuren von damals zu suchen. Andere wiederum suchen noch zeitgemäßer: Sie loggen sich einfach auf eBay oder Allegro ein…