18.03.2022 - Gesellschaft , Politik, Kultur, Ukraine

Wissenschaftliche Solidarität und das Dilemma der Kooperation im Angesicht des Kriegs in der Ukraine

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Die Meldungen über das zivilgesellschaftliche Engagement der Bürger:innen in Polen und Deutschland angesichts des russischen Angriffskriegs in der Ukraine und der Hilfeleistungen für Schutzsuchende Ukrainer:innen sind zahlreich. Die Hilfsbereitschaft in den unmittelbaren Nachbarstaaten ist überwältigend und in ganz Europa groß. In verschiedensten Bereichen der Gesellschaft führen die vorhandenen Verflechtungen zu unterschiedlichen Ausprägungen von Solidarisierung. Wie positionieren sich die maßgeblichen wissenschaftlichen Akteure und Organisationen? Der nachfolgende Beitrag richtet seinen Blick auf die Anteilnahme und Reaktionen der wissenschaftlicher communities in Polen und Deutschland.

Polnisch-ukrainische Verflechtungen

Die polnisch-ukrainischen Beziehungen entwickelten sich nach der politischen und wirtschaftlichen Transformationsphase beider Staaten überwiegend positiv. Als Beispiel dafür gilt unter anderem der Personaltransfer polnischer Wirtschaftseliten in die Ukraine.[1] Auch die zunehmende Erwerbsmigration aus der Ukraine in die Republik Polen wird oft als Zeugnis harmonisch verlaufender Nachbarschaftsbeziehungen und Motor sich intensivierender zwischengesellschaftlicher Verflechtungen gesehen. Tatsächlich kommen die meisten Arbeitsmigrant:innen in Polen aus der Ukraine – auf sie entfallen etwa 70 Prozent aller erteilten Arbeitsgenehmigungen. Viele Hochschulen bemühen sich erfolgreich um junge Ukrainer:innen als Studierende, denen der anschließende Eintritt in den Arbeitsmarkt oft nicht schwerfällt. Doch so, wie die fehlende Integrationspolitik zu gesamtgesellschaftlichen Problemen und vereinzelt auch zu Gewalt gegen Migrant:innen führt, so gibt es auch in Bildung und Wissenschaft kaum verhohlene Ressentiments, etwa bei der Konkurrenz um gute Ergebnisse bei den Aufnahmeprüfungen für die Hochschulen.[2] Insgesamt gesehen profitieren aber bisher beide Seiten von der Wissenschaftsbeziehung, im Lauf der Jahre wurden eine Vielzahl von bilateralen Initiativen und Projekten gestartet, Stipendien- sowie studentische Austauschprogramme aufgelegt.[3]

Zwischen Boykott für die einen und Unterstützung für die anderen: Stellungnahmen und Hilfsangebote der Wissenschaft in Polen …

Die russische Invasion in die Ukraine am 24. Februar 2022 wird als historische Zäsur betrachtet. In der Folge des Angriffs positionierten sich zahlreiche polnische wissenschaftliche Institutionen mit und ohne Ukrainebezug. Neben dem grundlegenden Solidaritätsaufruf der Polnischen Akademie der Wissenschaften verfassten am 2. März 2022 Wissenschaftler:innen aus der Zweigstelle der Akademie in Kiew einen Appell an die „akademischen Kreise und intellektuelle Eliten“[4] Polens. Darin forderten sie den Adressat:innenkreis auf „alle Maßnahmen zu ergreifen, um die eskalierende militärische Aggression in der Ukraine friedlich zu beenden.“[5] Die Unterzeichner rufen zum Boykott staatstreuer Wissenschaftsinstitutionen auf, die den Angriffskrieg befürworten. Zugleich zollen sie denjenigen, die innerhalb Russlands Widerstand gegen die Aggression leisten und für den Frieden demonstrieren, ihren Respekt, und sagen ihnen Unterstützung zu. Immerhin waren es sehr schnell mehr als 7.500 russische Wissenschaftler:innen, die in einem öffentlichen Appell den Krieg verurteilt hatten, bevor das Schreiben online unzugänglich gemacht wurde. Das von der Polnischen Akademie der Wissenschaften umgehend eingerichtete Förderinstrument zur Unterstützung von gefährdeten ukrainischen Wissenschaftler:innen wurde so gut angenommen, dass es bereits Anfang März erschöpft war. Während an neuen Möglichkeiten gearbeitet wird, bemüht sich die Akademie auch darum, weitere Informationen zu Hilfsprogramm aus anderen Ländern verfügbar zu machen, von der Central European University über die österreichische Akademie der Wissenschaften bis hin zur Academia Sinica aus Taiwan.[6]

Mit der Einrichtung einer Hotline für Geflüchtete, die sich über die Möglichkeiten der Fortsetzung ihres Studiums informieren möchten, leistet die polnische Nationale Agentur für Akademischen Austausch des Ministeriums für Wissenschaft und Hochschulbildung einen helfenden Beitrag (Telefon +48 508 188 189). Das reguläre Angebot der Agentur stellt ohnehin einen großen Teil der Informationen nicht nur auf Englisch, sondern auch auf Ukrainisch bereit und richtet sich explizit an Ukrainer:innen, was den Geflüchteten zugutekommt.[7]

Das Adam Mickiewicz-Institut, das vom polnischen Kulturministerium für die Förderung der polnischen Kultur im Ausland gegründet wurde, informiert auf seiner breit rezipierten Plattform Culture.pl über die Auswirkungen, die der Krieg in der Ukraine auf die Kultur hat. Eine fotografische Dokumentation der Lage in Kiew, Augenzeugenberichte und Kommentare von Kulturschaffenden aus der Ukraine sowie Berichte über die Zerstörung kulturellen Erbes sind genauso Thema wie literarische und szenische Annäherungen an das Thema Krieg allgemein. Das Portal ist dreisprachig Polnisch-Englisch-Russisch konzipiert. Die russische Redaktion wendet sich an die Leser:innen mit einem deutlichen Bekenntnis zum Brückenbau „zwischen Ländern und Nationen“ und plädiert für den Widerstand gegen die russische Staatsführung.[8]

Auch die Universitäten Polens bieten Unterstützung an und können oft die diesbezüglichen Informationen auf Ukrainisch bereitstellen: Der eigens eingerichtete Krisenstab der Warschauer Universität hat auf der Universitätsseite ein Maßnahmenprogramm für ukrainische Studierende und Doktoranden veröffentlicht, u. a. mit finanziellen Hilfen in Form von Gebührenbefreiung, Soforthilfen und Übernahme von Wohnkosten.[9]  Die Krakauer Jagiellonen-Universität gewährt ukrainischen Studierenden und Doktoranden umfassende Finanzhilfe und ruft zu Spenden auf.[10] Ähnliche Programme gibt es an vielen polnischen Hochschulen wie in Gleiwitz, Thorn oder Lodz, auch gibt es teilweise kostenlose Polnisch-Sprachkurse und psychologische Hilfen.

Einen Überblick über einen Teil der Programme und Einzelangebote bietet die internationale Plattform Science for Ukraine,[11] die von ehrenamtlichen Studierenden und Wissenschaftler:innen betrieben wird. Es finden sich zahlreiche Offerten in Polen, Deutschland und vielen anderen Ländern – u. a. Stipendien, aber auch viele bezahlte Langzeitpraktika in Projekten oder Laboren. In Polen gibt es viele Ausschreibungen für reguläre längerfristige Mitarbeiter:innenstellen, die auch und besonders für ukrainische Bewerber:innen geeignet sind und jetzt inseriert werden. Institutionen, die selbst noch weitere Unterstützung bieten oder ihr Hilfsangebot bekannter machen möchten, finden hier ebenfalls Informationen.

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… und in Deutschland …

Auf der Seite bekommt man auch einen ersten Eindruck von den Möglichkeiten, die es für Verbindungen zwischen ukrainischen und deutschen Wissenschaftler:innen und Institutionen gibt. Auch hier gibt es zahlreichen Möglichkeiten zur Beantragung eigener Projekte, zur Mitarbeit oder zur Bewerbung auf ein Stipendium mit sofortigem Beginn, wie am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte in Mainz oder am Historischen Seminar der LMU München, der Forschungsstelle Osteuropa Bremen u. a.[12] Die Professur für Ukrainische Kulturwissenschaft, mit dem jährlich in Kooperation mit dem Alfried Krupp Wissenschaftskolleg stattfindenden Ukrainicum bietet neben Gastaufenthalten an der Universität Greifswald psychologische Beratung für Menschen, die durch den Krieg belastet sind. Die meisten Universitäten machen Unterstützungsangebote, teilweise wurden die Einschreibfristen für das Sommersemester verlängert. So legt auch die Uni Hamburg neben anderen Leistungen viel Wert auf psychologische Hilfen und informiert über die Möglichkeiten des Programms „Scholars at Risk“.[13] An der Universität Tübingen werden konzertiert ganz unterschiedliche Hilfen geleistet, von Forschungsstipendien über Housing bis hin zu einem eigenen Buddy-Programm für ukrainische Geflüchtete. Auch weiterführende Informationen für Geflüchtete werden hier gebündelt.[14]

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) weitet als Zeichen an diejenigen, die wegen des Angriffskriegs auf die Ukraine fliehen mussten, ihr Walter-Benjamin-Programm aus, das bei der Integration in das deutsche Wissenschaftssystem mit der Förderung eigener Forschungsvorhaben unterstützt. Zugleich sorgte die DFG für Diskussionen in den communities, weil sie am 2. März verkündete, sie setze „mit sofortiger Wirkung alle von ihr geförderten Forschungsprojekte zwischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Deutschland und Russland aus“.[15] Auch die Allianz der Wissenschaftsorganisationen, der u. a. die DFG, der Deutsche Akademische Auslandsdienst (DAAD), die Max-Planck-Gesellschaft und die Alexander-von-Humboldt-Stiftung angehören, sprach sich für Solidarität mit der Ukraine aus. Russischen Wissenschaftler:innen, die infolge der Aggression das Land verlassen mussten, wird ebenfalls generell Unterstützung zugesagt. Zugleich „wird jedoch empfohlen, dass wissenschaftliche Kooperationen mit staatlichen Institutionen und Wirtschaftsunternehmen in Russland mit sofortiger Wirkung bis auf weiteres“ einzufrieren.[16] Unter anderem der DAAD räumt ein, „dass dieser Schritt auch Ungerechtigkeiten schafft und zahlreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Studierende trifft, die sich für friedliche und rechtsstaatliche Verhältnisse sowie gutnachbarschaftliche Beziehungen einsetzen“, sieht aber im Angesicht des Angriffskriegs keine andere Möglichkeit, wobei die Maßnahmen künftig laufend angepasst werden sollen. So sollen die Zugangswege des DAAD nach Deutschland sollen allerdings geöffnet bleiben, Stipendienprogramme für Studierende und Forschende aus Russland werden fortgeführt. Die Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde argumentiert anders als die Allianz der Wissenschaftsorganisationen und bekennt sich in einem Offenen Brief explizit zur Solidarität mit ukrainischen und russischen regimekritischen Wissenschaftler:innen gleichermaßen.[17] Auch in einigen anderen Staaten wie z. B. Großbritannien raten zentrale Organisationen eher zur individuellen Beurteilung von Kooperationsprojekten durch die wissenschaftlichen Träger, während in den USA breit zur Aufkündigung jeglicher Partnerschaften aufgerufen wird.[18]

Angesichts des Leids von inzwischen Millionen Geflüchteten und den Nachrichten über Kriegsverbrechen erscheinen Wissenschaftskontakte nicht als zentrales Thema. Aber es bleibt zu hoffen, dass jede Form von Solidarität zählt und dass in möglichst naher Zukunft auch jeder Kontakt zwischen ukrainischen und anderen Wissenschaftler:innen, aber auch nach Russland, der der Zerstörung standgehalten hat, wieder weiteres Gute nach sich ziehen und die verbindende Dimension der Wissenschaft Europa bei der Bewältigung künftiger Aufgaben helfen wird.

Überblicksseiten über Hilfsangebote für ukrainische Wissenschaftler:innen und Studierende:

Überblick des DAAD –Unterstützungsangebote für ukrainische Studierende, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler:

https://www.daad.de/de/der-daad/ukraine/hilfsangebote/

 

Gemeinschaft für studentischen Austausch in Mittel- und Osteuropa (GFPS) e. V. – Informationsseite, auch mit vielen nichtakademischen Infos:

https://padlet.com/svenjaros/vl0105hx3igusfic

 

„Important links for scientists from Ukraine“ – umfassende Seite der Nationale Forschungsdaten Infrastruktur nfdi:
https://www.nfdi.de/important-links-for-scientists-from-ukraine/?lang=en

 

Liste mit aktuell mehr als 300 Laboren, die Unterstützung leisten: https://twitter.com/dbasanta/status/1497769311108272131?s=20&t=yHXkTu6ocW-VUXfzRlP4Ng

 

Hilfsprogramm der PAN (Polnische Akademie der Wissenschaft) für ukrainischer Wissenschaftler:innen in polnischer und ukrainischer Sprache:

https://informacje.pan.pl/informacje/materialy-dla-prasy/3534-pobyty-naukowcow-z-ukrainy-w-pan?fbclid=IwAR0Ig-UbJKg7xS48h_FN0UFYv6n6UjJnct5OmPSfdGllXTr60EoVTfLhz-M

 

Hotline und Hilfsangebot der NAWA (Polish National Agency for Academic Exchange) hinsichtlich der Fortsetzung des Studiums in Polen:

https://nawa.gov.pl/en/ukraina

 

Informationsangebot des polnischen Ministeriums für Bildung und Wissenschaft:

https://www.gov.pl/web/edukacja-i-nauka/informacja-dla-studentow-i-naukowcow-przybywajacych-z-ukrainy

 



[1] Marek Wilczyński:  Nachbarschaft. Polnisch-ukrainische Beziehungen, in: Dialog 137 (3/2021), S. 80–82.

[2] Agata Czarnacka: Migration, Patriotismus und kollektiver Narzissmus. Polen und die Herausforderungen der Vielfalt, in: Jahrbuch Polen 2022 Widersprüche, S. 29–39, hier S. 33f.

[3] Vgl. Agnieszka Łada: Ukrainian students in Poland. Motivations, benefits, challenges (Hg.), Instytut Spraw Publicznych, Warszawa 2018 [pl, eng].

[4] Apel do środowisk akademickich i elit intelektualnych w związku z agresją Rosji na Ukrainę, URL: https://kijow.pan.pl/?p=1147 (10.3.2022).

[5] Ebenda.

[7] Program stypendialny im. Stefana Banacha: https://nawa.gov.pl/ukraina (10.3.2022).

[8] Portal culture.pl, Statement der russischen Redaktion:  https://culture.pl/pl/artykul/oswiadczenie-sekcji-rosyjskiej-culturepl (10.3.2022).

[16] Allianz der Wissenschaftsorganisationen: Solidarität mit Partnern in der Ukraine – Konsequenzen für die Wissenschaft. Stellungnahme vom 25. Februar 2022 (16.3.2022).

[17] Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde: Solidarität mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in der Ukraine und Russland. Offener Brief vom 4. März 2022, https://dgo-online.org/neuigkeiten/aktuelles/offene-briefe-gegen-den-krieg-in-der-ukraine/ (16.3.2022).

[18] Vgl. generell zu internationalen Haltungen Richard Stone: Western nations cut ties with Russian science, even as some projects try to remain neutral, in: science.org vom 8. März 2022, https://www.science.org/content/article/western-nations-cut-ties-russian-science-even-some-projects-try-remain-neutral (15.3.2022); Dennis Overbye: Russian Scientists Face Isolation Following Invasion of Ukraine, in: The New York Times vom 12. März 2022, https://www.nytimes.com/2022/03/12/science/physics-cern-russia.html (15.3.2022).