11.06.2021 - Geschichte, Gesellschaft , Politik

Von Versöhnung und Interessengemeinschaft. Die Wahrnehmung des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrags

Nachbarschaftsvertrag Titelbild

Der Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit wurde vor 30 Jahren, am 17. Juni 1991, in Bonn unterschrieben.[1] Nachbarschaft und Freundschaft trägt der Vertrag in Titel und Präambel. Die dauerhafte Verständigung und Versöhnung, derer der Vertrag dient, solle, so heißt es, in einem europäischen Rahmen geschehen.

Ist der Vertrag inzwischen ein deutsch-polnischer oder europäischer Erinnerungsort – oder mehr ein historisches Arbeitsprogramm? Ohne Zweifel ist der Vertrag, und alle Entwicklungen, die eng mit ihm verknüpft sind, die Grundlage für die heutigen Beziehungen zwischen Deutschland und Polen. Der Vertrag, der vom Wunsch nach Frieden, Versöhnung und guter Zusammenarbeit geprägt war, stellt einen wirkmächtigen Rahmen zur Gestaltung des bilateralen Verhältnisses in einem europäischen Kontext zur Verfügung.

Doch trotzdem würde sicher keine der Expert:innen, die sich in der Vergangenheit damit auseinandergesetzt haben oder die sich anlässlich des 30jährigen Jubiläums um die Reflexion und die künftige Entwicklung der Beziehungen bemühen, behaupten, man könne den Vertrag als europäischen Erinnerungsort bezeichnen. Aber von welchen Erwartungen wurde der Vertrag 1991 begleitet, welche Wahrnehmungen gab es von deutscher und polnischer Seite?

 

Der Inhalt des Vertrags

Das oberste Ziel des Vertrags ist die Wahrung des Friedens. Totalitarismus, Rassismus, Antisemitismus, Fremdenhass und die Verfolgung von Menschen aus religiösen oder ideologischen Gründen werden verurteilt. Beide Staaten bekennen sich außerdem zu einem geeinten Europa, das auf der Grundlage von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit basiert.

Vorausgegangen war am 14. November 1990 der deutsch-polnische Grenzvertrag, der die Oder-Neiße-Grenze als deutsch-polnische Grenze endgültig anerkannte.[2]

Der Nachbarschaftsvertrag widmet sich vielen denkbaren Kooperationsfeldern: Intensivierung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, Partnerschaften zwischen Regionen, Städten und Gemeinden, Arbeits- und Sozialpolitik, Justiz, wissenschaftliche und technische Zusammenarbeit, Katastrophenhilfe, Gesundheitsvorsorge, Verkehrs- und Infrastruktur, Landwirtschaft, Kriegsgräberpflege. Besondere Betonung liegt auf der Kooperation im Bereich Schule und Bildung. Der kulturelle Austausch soll auf allen Ebenen intensiviert werden „und damit zur europäischen kulturellen Identität beitragen“ (Art. 23).

Ein viel beachteter Punkt von Beginn an ist die Gründung des Deutsch-Polnischen Jugendwerks im Rahmen des Vertrags. Sie wurde ebenso gesondert geregelt wie die Einrichtung einer Regierungskommission für regionale und grenznahe Zusammenarbeit und die Vereinbarung über einen deutsch-polnischen Umweltrat.

Der europäische Bezug ist allgegenwärtig, er ordnet das Verhältnis beider Länder in allen Facetten im Kontext Europa ein, ihre gute Nachbarschaft soll den europäischen Gedanken voranbringen, ihr kulturelles Erbe in und durch Europa ein gemeinsames Gut werden. Starker Bezugspunkt sowohl normativer Art als auch durch die explizite Nennung von Förderinstrumenten, ist naturgemäß die Europäische Union. Die Bundesrepublik verpflichtete sich, die Heranführung Polens an die Europäische Union zu unterstützen. Und auch die Hinwirkung auf die Entwicklung Polens im Rahmen einer voll entwickelten sozialen Marktwirtschaft wird zugesichert. „Damit sollen auch die Bedingungen für eine wesentliche Verringerung der Entwicklungsunterschiede geschaffen werden“ (Art. 9, Abs. 2).

Aber auch die Konventionen des Europarats und andere werden als Orientierung herangezogen, nicht zuletzt, um die schwierige Minderheitenfrage aufzufangen und handhabbar zu machen. Die Frage des Umgangs mit der deutschen Minderheit in Polen und der polnischen Menschen in Deutschland, die im Vertrag ausführlich bedacht wird, spaltet im Vorfeld die Gemüter, vor allem in der Bundesrepublik.

 

Ein Blick ins (Presse-)Archiv

Und so wird im Jahr 1991, rund um den Vertragsabschluss, mit Superlativen der Versöhnung, mit denen der Vertrag in der Folge oft belegt wurde, meist gespart. Zunächst einmal standen für Teile der deutschen Öffentlichkeit ja auch handfeste Fragen im Raum, am kontroversesten im Bereich der Minderheitenrechte: In welcher Form werden sie schließlich Eingang in den Vertrag finden? Welche Forderungen der Vertriebenenverbände macht sich die CSU zu eigen, und schafft Helmut Kohl es, diese einzuhegen? Wie groß ist der Ärger der polnischen Seite über diese Forderungen und Störungen? Für die polnische Regierung waren die Fragen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Zusagen zur Hilfe in Sachen Entschuldung von tagesaktuell allergrößter Bedeutung. Die Behandlung von möglichen Entschädigungen für Zwangsarbeiter:innen wird schlussendlich ausgespart. Jenseits aller Debatten und Wahrnehmungen gehört in die unmittelbare Vorgeschichte des Vertrags aber auch der Tag der Umsetzung des visafreien Reiseverkehrs im April 1991: Als die ersten Polinnen und Polen von dieser Möglichkeit Gebrauch machen und die Grenze passieren, werden sie von Rechtsradikalen empfangen – die Polizei war darauf nicht vorbereitet.

Tischrede Bielecki Archiv

Fundstück aus dem DPI-Archiv

Als nach einigen Verzögerungen in Sachen Minderheit schließlich die Einigung da ist, reisen der polnische Ministerpräsident Jan Krzysztof Bielecki sowie der Außenminister Krzysztof Skubiszewski nach Bonn und unterschreiben am 17. Juni 1991 gemeinsam mit dem deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl sowie Außenminister Hans-Dietrich Genscher den Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit.

Bestandteil des Vertragskomplexes wird ein Briefwechsel mit vorab ausgehandeltem feststehendem Wortlaut zwischen den beiden Außenministern, der zusätzliche Positionen zur deutschen Minderheit in Polen und zu polnischen Menschen in Deutschland darlegt. Im Vertrag wird die Verpflichtung besiegelt, beidseitig die Entwicklung der ethnischen, kulturellen, sprachlichen und religiösen Identität der Gruppen zu fördern. Maximalforderungen der Vertriebenenverbände finden keinen Platz.

Nicht nur Helmut Kohl würdigt das Vertragswerk als wichtigen Beitrag zur Ordnung des Friedens, der Stabilität und der Zusammenarbeit in Europa, auch Jan Krzysztof Bielecki spricht über die grundlegende Bedeutung, über Verständigung und Versöhnung, und davon, dass der Vertrag dafür nicht nur neue rechtliche und politische, sondern auch „moralisch-ethische Grundlagen“ schaffe.[3]

Die Mischung aus dem Wunsch zu Verständigung und Versöhnung, die aber immer im Rahmen von geopolitischen Positionierungen und Plänen für die europäische Integration auf beiden Regierungsseiten fest verankert ist, verdeutlicht ein nüchtern formulierter Gedanke aus der Tischrede des polnischen Ministerpräsidenten: „In unseren bilateralen Beziehungen gilt als gemeinsames Ziel, ein dichtes Netz gegenseitiger Verknüpfungen in allen Bereichen zu schaffen. Das verstehe ich als praktische Verwirklichung der deutsch-polnischen Interessengemeinschaft und zugleich die beste Garantie, daß der Kurs der Verständigung und der Versöhnung stabil bleibt.“[4]

Zycie Warszawy Archiv

 

 

 

 

 

 

 

 

Kommentar der Tageszeitung Życie Warszawy vom 15./16. Juni 1991 im DPI-Archiv

Die Losung von der Interessengemeinschaft hatte sich in Polen in den Monaten vor Vertragsabschluss bereits manifestiert. Aus Anlass der Unterzeichnung lesen die Polinnen und Polen in der polnischen Tageszeitung. Życie Warszawy den Appell: „Nachbarn müssen einander nicht mögen, sondern respektieren.“[5]. Die Klage des Kommentars über die fehlende Orientierung auf Deutschland mündet in der Forderung, diese innere psychologische Barriere zu überwinden. In der Gazeta Wyborcza bewertet Artur Hajnicz, ein führender außenpolitischer Berater des Parlaments, den Vertrag als wichtigstes außenpolitisches Dokument seit dem polnisch-sowjetischen Vertrag von 1921.[6] Auf einer Konferenz formuliert er das später vielzitierte Bild des Vertrags als „Grundgesetz der deutsch-polnischen Beziehungen“, die Gegenthese lautet, es handele sich lediglich um eine „Bereinigung des Vorfeldes“ der Beziehungen.[7]

Die Süddeutsche Zeitung referiert die polnischen Reaktionen, entdeckt darin „Große Erwartungen“.[8] Auch in der deutschen Presse wird zum Teil funktional kommentiert, das Thema Minderheit bleibt. „Die Deutschen können nichts anderes wollen, als daß es den Nationen an ihrer Seite gutgehe. Wohlstand senkt den Abwanderungsdruck, öffnet neue Märkte, fördert die Demokratie, den inneren Frieden und die Toleranz gegenüber Minderheiten.“ – so der Kommentar in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am Tag der Vertragsunterzeichnung. Die Auszüge aus dem Vertrag, die am Folgetag im Blatt abgedruckt werden, sind nicht aus Präambel oder den ersten Artikeln, sondern wiederum diejenigen mit Bezug zu Minderheitenrechten sowie zur Kultur (Art. 21 bis 24).[9] Es wird wenig glamourös getitelt von der „Verpflichtung“ zu nachbarschaftlichem Zusammenwirken.[10] In der Zeit gibt Adam Krzemiński dem Vertragswerk gute Wünsche mit auf den Weg, zumal im Vergleich zu dem vorausgegangenen deutsch-polnischen Grenzvertrag vom 14. November 1990: „Daß dieselbe Grenze gleich dreimal – 1950, ‘70, ’90 – vertraglich besiegelt werden mußte, spricht Bände. Wollen wir hoffen, daß der just in Warschau paraphierte Vertrag über gute Nachbarschaft in zwanzig Jahren mit größerer Selbstverständlichkeit verlängert wird, als die Begleitmusik bei seinem Zustandekommen vermuten läßt.“[11]

Krzeminski Zeit Archiv

Illustration zum Zeit-Artikel von Adam Krzemiński „Neue Brücken über Oder & Neiße“ vom 6. September 1991 im DPI-Archiv

Der Blick von 2021 aus

So ganz mag die von Adam Krzemiński erwähnte Begleitmusik lange nicht verstummen. Immer noch gibt es Kritik von polnischen Stellen, dass die Förderung von Menschen mit polnischer Abstammung in Deutschland nicht vertragsgemäß umgesetzt werde, insbesondere, was die Förderung von Polnisch als Muttersprache angeht. Und noch 2016 brachte ein Streit über die historische Einordnung der Versöhnungsbereitschaft der Heimatvertriebenen im deutschen Bundestag einen Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD über „Versöhnung, Partnerschaft, Zusammenarbeit – 25 Jahre deutsch-polnischer Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit“ beinahe zum Scheitern.[12] Zugleich wird in der dann doch stattfindenden Bundestagsdebatte die grundlegende Bedeutung des Vertrags eingehend gewürdigt. Besonders herausgestellt wird die gelungene Integration Polens in Europa auf allen Ebenen, für die Deutschland, wie vertraglich vereinbart, stets der aktive Fürsprecher war.

Man könnte damit aber auch sagen: Einige Artikel des deutsch-polnischen Vertrags sind erfolgreich abgearbeitet, wie genau dieser Prozess der europäischen Osterweiterung. Und auch die Bezüge zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformation oder zur Entschuldung Polens haben sich historisch erledigt. Wo sie es noch nicht haben sollten, sind die 30 Jahre alten Formulierungen in ihrer historisch begründeten Asymmetrie, etwa was die wirtschaftlichen Verhältnisse der Vertragspartner anging, heute nicht mehr anschlussfähig.

Und so erscheint der heutige Blick auf den deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag im Angesicht des 30jährigen Jubiläums wieder gespeist von beiden Wahrnehmungen: Der Reflexion über Versöhnung und Verständigung, die durch den Vertrag auf eine neue Ebene gehoben wurden, sowie dem Blick darauf, wie Themenfelder mit neuem Leben gefüllt werden können. Denn bereits abgearbeitete Punkte sind zugleich in der deutsch-polnischen Wirklichkeit gelebter Beziehungen durch neue Fragestellungen ersetzt worden. Also mehr eine Mischung aus Anspruch an die Zukunft und weiterentwicklungsfähige Arbeitsagenda, eine Art nützlicher Steinbruch von Themen und Erwartungen, gefasst in einen großen Rahmen? Vielleicht ein besserer Grund zum Gratulieren als ein gefeierter Erinnerungsort, der möglicherweise irgendwann erkaltet …


[2] Die Online-Ausstellung „Vom Vertrag zum Vertragen“ (mit Bezug zum Jubiläum des Warschauer Vertrages vom Dezember 1970) zeigt u. a. die Bedeutung der Grenzverhandlungen und die Entwicklung der deutsch-polnischen Beziehungen in einer Perspektive seit dem Zweiten Weltkrieg – https://www.vom-vertrag-zum-vertragen.de (8.6.2021).

[3] Die Ansprache des Ministerpräsidenten der Republik Polen Herrn Jan Krzysztof Bielecki, aus Anlass [sic] der Unterzeichnung des Vertrages zwischen der Republik Polen und der Bundesrepublik Deutschland über gute Nachbarschafft und freundschaftliche Zusammenarbeit, Bonn, 17.6.1991, in: DPI Archiv, Sig. 4.6.

[4] Tischrede des Ministerpräsidenten der Republik Polen Herrn Jan Krzysztof Bielecki, aus Anlaß des Essens gegeben vom Bundeskanzler Helmut Kohl am 17. Juni 1991 in Bonn, in: Ebda.

[5] Christoph Royen: Sąsiedzi nie muszą się lubić, lecz szanować, in: Życie Warszawy vom 15.–16. Juni 1991.

[6] Marek Rapacki: Najważniejszy od 70 lat, in: Gazeta Wyborcza vom 17. Juni 1991, S. 9.

[7] Tytus Jaskułowski, Karoline Gil (Hg.): Zwanzig Jahre danach. Gespräche über den deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag, Wrocław 2011, S. 23f.

[8] Dt.: Große Erwartungen in Warschau, in: SZ vom 18. Juni 1991.

[9] Stefan Dietrich: Nachbarschaft mit Polen, in: FAZ vom 17. Juni 1991, S. 1.

[10] Claus Gennrich: Bonn und Warschau verpflichten sich zu nachbarschaftlichem Zusammenwirken, in: FAZ vom 18. Juni 1991, S. 1.

[11] Adam Krzemiński: „Neue Brücken über Oder & Neiße“ in: Die Zeit vom 6. September 1991, S. 56.