01.06.2022 - Politik, Ukraine

Telefonieren oder nicht telefonieren? Über den richtigen Umgang mit Diktatoren – Ein Kommentar

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Ende Mai griff Bundeskanzler Olaf Scholz wieder einmal zum Hörer, um mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin zu sprechen. Natürlich über den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, begleitet von einem Appell, die Kampfhandlungen unverzüglich einzustellen. Zudem sei es darum gegangen, Möglichkeiten auszuloten, um die vielen Tonnen an ukrainischem Getreide, die seit Wochen auf ihren Export warten, auszuführen. Neben Scholz telefonieren auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und der italienische Ministerpräsident Mario Draghi mit dem Kreml-Chef. Allzu große Hoffnungen solle man mit diesen Telefonaten jedoch nicht verbinden, betonte Regierungssprecher Steffen Hebestreit bereits vor einiger Zeit nach einem Telefonat zwischen Scholz und Putin Mitte Mai. Worin liegt dann aber der Sinn dieser Telefonate?

Diese Frage stellt auch die polnische Regierung, zuletzt medienwirksam für das deutsche Fernsehpublikum in Person des stellvertretenden Außenministers Szymon Szynkowski vel Sęk im Rahmen der ARD-Talkshow „Maischberger“. Szynkowski vel Sęk zufolge seien diese Gespräche zwischen Scholz und Putin absolut sinnlos. Der Ukraine würden sie nicht helfen, dafür aber Russland neue Glaubwürdigkeit verleihen. Schließlich gebe man der russischen Propagandamaschinerie auf diese Weise die Gelegenheit, Russland als Land darzustellen, das weiterhin mit wichtigen westlichen Staaten wie Deutschland und Frankreich im Gespräch ist, und damit keineswegs international isoliert.

Die Bundesregierung hingegen betont mantraartig, wie wichtig es sei, den Dialog mit Russland aufrechtzuerhalten. So erklärte Bundeskanzler Scholz etwa im April, dass es notwendig bleibe „zu sprechen und darauf zu bestehen, dass es ein Ende dieses Krieges gibt, dass es einen Waffenstillstand gibt, dass die Truppen zurückgezogen werden und dass die Ukraine die Zukunft selbst bestimmen kann“. Vieles deutet darauf hin, dass die Bundesregierung langfristig eine Einigung am Verhandlungstisch als einzige realistische Möglichkeit sieht, den Krieg zu beenden.

Es gibt gute Gründe dafür, ein gewisses Maß an Verständnis für beide Positionen zu entwickeln, die polnische wie die deutsche.

Aus der Sicht der polnischen Regierung scheint klar, dass alles dafür getan werden muss, um der Ukraine zu einem militärischen Sieg zu verhelfen. Dies zeigen die umfangreichen Waffenlieferungen Polens an die Ukraine und die heftige polnische Kritik an Deutschlands Zögerlichkeit in dieser Frage. Der Bundeskanzler hingegen scheint bisweilen noch immer der alten Überzeugung anzuhängen, dass es auf deutscher Seite ein besonderes, von Pragmatismus und Realpolitik geprägtes Verständnis für Russland gebe und man letztlich doch zu einer Einigung gelangen könne. Diese Überzeugung scheint auch der Krieg nicht gänzlich umgestoßen zu haben. Für Polen wirkt diese Beharrlichkeit befremdlich. Hatte man Deutschland nicht bei jeder Gelegenheit – sei es Nord Stream 2 oder das Normandie-Format – davor gewarnt, dass man Putin nicht trauen könne? Vor diesem Hintergrund scheint die Empörung der polnischen Seite ob der jüngsten Gespräche zwischen Scholz und Putin durchaus verständlich.

Gleichzeitig lässt sich auch der Wandel nicht leugnen, der die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik erfasst hat. Ja, Bundeskanzler Olaf Scholz hält an Gesprächen mit dem russischen Diktator fest, aber er tut dies nicht über die Köpfe der Ukraine hinweg. Zudem besteht das deutsche Engagement für die Ukraine nicht allein im Dialog: auch Deutschland liefert Waffen, bildet ukrainische Soldaten aus, versorgt Verwundete und leistet wichtige wirtschaftliche und humanitäre Unterstützung. Richtig ist aber auch, dass Deutschland mehr und schneller auch schwere Waffen liefern muss. Denn es sind Waffenlieferungen und nicht Telefongespräche, von denen derzeit die Zukunft der Ukraine abhängt. Polens Entschlossenheit und Handlungsfähigkeit in dieser Frage könnten Deutschland ein Vorbild sein.