17.05.2022 - Gesellschaft , Ukraine, Politik

Polen und die EU-Beitrittsperspektive der Ukraine - ein klares Signal ist nötig

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81 % der Polen sind für einen Beitritt der Ukraine zur Europäischen Union. Eine klare Perspektive für die EU-Mitgliedschaft ist eine Forderung, die von den wichtigsten polnischen politischen Kräften einstimmig erhoben wird, was in letzter Zeit in Polen nicht oft der Fall ist. Gleichzeitig ist man sich in Polen bewusst, dass der Weg der Ukraine in die Gemeinschaft weder einfach noch kurz sein wird.

Laut einer europaweiten Eurobarometer-Umfrage sind 85 % der Polen der Meinung, dass die Ukraine zur europäischen Familie gehört (der EU-Durchschnitt liegt bei 71 %, die gleiche Zahl gilt für Deutschland), und 81 % unterstützen den Beitritt des Landes zur Gemeinschaft (66 % EU, 61 % Deutschland). Diese allgemeine Unterstützung deckt sich mit den Ansichten aller großen polnischen politischen Parteien. Aus polnischer Sicht ist in erster Linie entscheidend, dass die EU der Ukraine eine Beitrittsperspektive bietet - einen klaren Weg und ein Szenario. Nur die Mitgliedschaft wird der Ukraine die Sicherheit garantieren und ein starkes Signal an Moskau senden, dass die Europäische Union auf der Seite der Ukraine steht. Gleichzeitig ist man sich in Polen bewusst, dass der Integrationsprozess viel Mühe und Zeit erfordert. Deshalb wird noch kein Beitrittsdatum genannt. Es wird auch keine Forderung laut, die Beitrittskriterien zu senken. Es gibt aber eine starke Erwartung einer reibungslosen Durchführung des Erweiterungsprozesses ohne unnötig langwierige Verfahren und Verzögerungen. Es wird auch notwendig sein, finanzielle und organisatorische Hilfe zu leisten und von den Ukrainern Reformen zu verlangen. Sowohl Fachleute als auch polnische Politiker verschiedener Parteien weisen darauf hin, dass der Prozess viele Herausforderungen mit sich bringt, nicht nur für die Ukraine selbst. Donald Tusk betont, dass das EU-Beitrittsverfahren ein langwieriger Prozess ist, der Einstimmigkeit innerhalb der EU erfordert, was keineswegs selbstverständlich ist.

Die Polen wissen sehr gut, dass  - wie die zitierten Studien zeigen  die Mehrheit der Europäer die Idee eines EU-Beitritts der Ukraine zwar befürwortet, dass aber auch in Ländern, die geografisch weiter von der Ukraine entfernt sind, Stimmen des Zögerns oder der Skepsis zu hören sind. Es wird an die Beispiele der derzeitigen Beitrittskandidaten (z.B. Nordmazedonien oder Montenegro) erinnert, die immer noch auf ihren Beitritt zur Gemeinschaft warten, sowie an die Blockade einiger derzeitiger Mitgliedstaaten gegen die Öffnung der EU für neue Länder. Die Frage, wie die Erweiterung genau verlaufen könnte, stellt sich umso mehr, als sich die Ukraine derzeit im Krieg befindet und nicht nur teilweise zerstört ist, sondern auch weit unter dem Entwicklungsstand der EU-Mitglieder liegt. Die Aufmerksamkeit wird auch auf die mangelnde Vorbereitung der Europäischen Union selbst gelenkt, die mit einem Vertrauensverlust (als Institution) bei ihren Bürgern zu kämpfen hat - wofür die jüngsten Wahlen in Frankreich, die fast von einer starken Gegnerin der europäischen Integration gewonnen wurden, das beste Beispiel sind - und mit der Notwendigkeit interner Reformen konfrontiert ist. Die Frage, wie und wie schnell die Ukraine integriert werden soll, erscheint in diesem Zusammenhang legitim, und die Appelle, keine Versprechungen zu machen, die wir als Union nicht halten können, erscheinen vernünftig. Vor diesem Hintergrund findet die Idee von Präsident Emmanuel Macron, der vor kurzem die Schaffung einer gewissen politischen Gemeinschaft um die EU herum vorgeschlagen hat, die aus Ländern besteht, die die europäischen Werte teilen, ohne dass eine sofortige vollständige Integration erforderlich ist, bei vielen in Westeuropa Anklang. In Polen wurde diese Initiative kühl und verständnislos aufgenommen, und die genannten Argumente werden als ein Signal dafür gewertet, die EU nicht um die Ukraine zu erweitern (was für die polnischen Ohren lautet, dass dies Russland nicht gefallen könnte). Nach polnischer Auffassung haben diese Stimmen zwar viel Gewicht, dürfen aber den Erweiterungsprozess nicht blockieren.

Für die Polen ist es offensichtlich, dass die Ukrainer für europäische Werte kämpfen, gegen die Putin einen verbrecherischen Krieg führt. Laut der polnischen Überzeugung der Ukraine eine Integration zweiter Klasse anzubieten und die Möglichkeit eines EU-Beitritts auf unbestimmte Zeit zu verschieben, ist in dieser Situation eine viel zu schwache Geste. In Polen erinnert man sich gleich an ähnliche Ideen wie die Europäische Nachbarschaftspolitik, die ebenfalls Länder, die die Werte der EU teilen, an die EU binden sollte, ohne ihnen eine Mitgliedschaft in Aussicht zu stellen. Diese Initiative erwies sich schnell als bedeutungslos, da sie weder den betroffenen Ländern noch den EU-Mitgliedern besondere Vorteile bot. Und obwohl Macrons Idee theoretisch von einer Beitrittsperspektive ausgeht, spricht er von einem langen Zeitraum, "sogar Jahrzehnten", was in polnischen Ohren wie ein Aufschieben der Angelegenheit "für immer" klingt.

Als Polen in den 1990er Jahren seine Bemühungen um den Beitritt zu den Europäischen Gemeinschaften begann, glaubten viele nicht, dass dies möglich sein würde. Die Zweifel betrafen die Fähigkeit Polens, tiefgreifende Reformen durchzuführen, und die Fähigkeit der damaligen Mitglieder der Gemeinschaft, solche Veränderungen vorzunehmen, die eine Erweiterung der Gemeinschaft ermöglichen würden. Das ist uns jedoch gelungen, dank der großen Entschlossenheit der polnischen politischen Eliten und der Bemühungen der Gesellschaft sowie des politischen Willens und der enormen Unterstützung des Westens, insbesondere Deutschlands. Betrachtet man die derzeitige Situation, so ist klar, dass die erste Bedingung, die Motivation der ukrainischen Seite, eine große Chance hat, erfüllt zu werden. Nach polnischer Auffassung muss nun die andere Seite - die Europäische Union und ihre einzelnen Mitgliedstaaten - ihre Hausaufgaben machen.