23.02.2023 - Geschichte, Gesellschaft , Politik, Ukraine

Polen, Ukraine und die Kriege in unseren Köpfen. Gedanken zum 24. Februar

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Jeden Tag, wenn ich zum wunderbaren Sitz des Deutschen Polen-Instituts im Darmstädter Residenzschloss gehe, sehe ich es seitlich am Schlossgraben stehen: Das Leibgardistendenkmal mit seinem markanten, lanzendurchbohrten Löwen, errichtet am Ende der 1920er Jahre zu Ehren der im Ersten Weltkrieg gefallenen Angehörigen des Darmstädter Leibgardistenregiments. Es ist eines jener Denkmäler, um deren Existenz man weiß in der Stadt, das man aber als festen Bestandteil der Stadtlandschaft nur selten beachtet. Manchmal sollte man jedoch bewusst prüfende Blicke auf das Vertraute werfen, so auch hier: Das Denkmal wurde nach dem Zweiten Weltkrieg durch Tafeln ergänzt, die an die zwischen 1939 und 1945 Gefallenen der Nachfolgeregimenter der „Leibgardisten“ erinnern – unter Angabe der Einsatzorte. Und so liest man hier neben nordafrikanischen oder italienischen Städtenamen wie „Tunis“ oder „Messina“ auch „Białystok“, „Smolensk“ – aber eben auch Orte wie „Odessa“ und „Kiew“. Namen, in Stein gemeißelt, die uns seit einem Jahr seltsam vertraut geworden sind, die einem aber, wenn man sich für das östliche Europa interessiert, auch zuvor schon viel gesagt hatten, die Bilder aufscheinen lassen. Aus dem multiethnischen Białystok stammte der Erfinder der Kunstsprache Esperanto, Ludwik Zamenhof. Nahe Smolensk wurden bei Katyn auf Stalins Befehl tausende polnischer Offiziere erschossen. Odessa – die weltoffene Hafenstadt. Und Kiew – Herz der Rus, Herz der Ukraine. Alle waren Schauplätze von deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg. Kiew und Odessa sind seit dem 24. Februar 2022 Angriffsziele Russlands.

Seit zwei Jahren erforscht eine Projektgruppe der Technischen Universität Darmstadt in Kooperation mit dem Deutschen Polen-Institut dieses Denkmal und die dahinter stehende Ereignisgeschichte – wobei es auch darum geht, zu klären, was die Regimenter, an die hier erinnert wird, denn während des Kriegs tatsächlich getan haben und ob sie vielleicht auch an Kriegsverbrechen beteiligt waren. (Diese Projektseite berichtet davon.) Die Soldaten dieser Regimenter mit ihrem Alltag an der Front und in der Etappe sind das eine. Aber der Krieg spielte sich nicht nur in den Schützengräben und Panzern ab, sondern er griff auch in den Alltag der Zivilbevölkerung im Reichsgebiet ein: Durch Luftangriffe, durch Zwangsarbeiter, durch Versorgungsschwierigkeiten – aber auch durch die Vorstellungen vom Krieg, die sich die Menschen zurechtlegten. Denn die Soldaten an der Front stammten aus konkreten Häusern und Familien, aus Städten wie Darmstadt. Sie gaben den Menschen „daheim“ immer wieder Anlass, sich den Krieg vorzustellen, wobei vieles im Ungefähren blieb: Soldaten berichteten in ihren Feldpostbriefen oder auf Heimaturlaub nur bruchstückhaft, wenn überhaupt; die Propaganda von Wochenschau und Tageszeitung setzte ebenso bruchstückhaft andere Bilder frei. Und nach dem Krieg wurde oft ein Mantel des Schweigens oder des Verschweigens über das Geschehene gebreitet; Namen wie „Kiew“ oder „Smolensk“ ragten merkwürdig erratisch in die Gegenwart. Sie begleiteten Städte wie Darmstadt mit ihren Bevölkerungen über Jahrzehnte, ohne das große Ganze verständlich werden zu lassen, Krieg und Besatzungsalltag in all seinen schrecklichen Facetten. Und die großen historischen Narrative vom Krieg versperren oft den Blick in entlegene Gegenden und vergessene Geschichten.

IMG 1707 3Der reale Krieg und der imaginierte Krieg – diese beiden Ebenen begleiten Kriege seit eh und je: Kriege in den Schützengräben – und Kriege in den Köpfen. So begann der Zweite Weltkrieg am 1. September 1939 nicht nur auf den Schlachtfeldern, sondern auch in den Vorstellungswelten. Nicht anders verhält es sich mit Russlands Krieg in der Ukraine, der am 24. Februar 2022 begann, real durch Raketenangriffe und Panzerkolonnen, und in den Köpfen durch medial vermittelte Bilder, durch Mails und Whatsapp-Nachrichten von Freunden und Bekannten.

Als Wladimir Putin seinen Armeen den Befehl zum verbrecherischen Angriff auf die Ukraine gab, schrieben Waldemar Czachur und ich gerade an einem Buch über die Rolle des 1. Septembers in der Erinnerungskultur Polens und Deutschlands. An diesem Februartag vor einem Jahr tauschten wir uns sofort aus – beide hatten wir natürlich direkt an den 1. September 1939 gedacht. Denn vieles schien sich zu gleichen: Die perfide propagandistische Vorbereitung des Kriegs durch den Aggressor, die Übermacht des Angreifers, die Ohnmacht des Westens, die Angst, der Schrecken, der Mut der Verzweiflung. Der Krieg von 1939, Deutschlands Überfall auf seinen Nachbarn Polen, war die Folie für eine Projektion in unseren Köpfen. Der Verlauf schien für viele Menschen ausgemacht zu sein – nach dem „Münchener Abkommen“ der Gegenwart, den Gesprächen in Minsk, und nach dem „Anschluss“ (damals Österreich und „Tschechei“, nun Krim und Donbas) würde es nun einen „Blitzkrieg“ geben, und so wie Hitler im Oktober 1939 die Siegesparade der Wehrmacht in Warschau abnahm, so würde Putin dies alsbald in Kiew tun.

Rasch stellte sich aber heraus, dass der neue Krieg in Europa doch einen anderen Charakter hatte als jener, den Hitler mit seinen Schergen vom Zaun gebrochen hatte. Zwar trug er in seinen ersten Wochen erschreckend ähnliche Züge – schwerste Verbrechen an der Zivilbevölkerung, Verfolgung ganzer Bevölkerungsgruppen in den russisch besetzten Landesteilen –, doch die stupende und vehemente Reaktion des Westens auf den Angriff ließen die Unterschiede bald klar werden.

Wir wissen heute nicht, wie dereinst an Putins Krieg in der Ukraine erinnert werden wird, ja wir kennen heute noch nicht einmal seinen Ausgang. Wir wissen aber, wie wir an Hitlers Krieg in Polen erinnern: In Polen selbst ist er allgegenwärtig in Gedenkorten, Gedenkritualen, im Familiengedächtnis. In Deutschland ist er merkwürdig abwesend, mit Ausnahmen natürlich (die Judenvernichtung auf polnischem Boden, der Tag des Überfalls selbst mit den Bildern aus Danzig), aber die mehr als fünf Jahre harscher Besatzungsrealität mit all den damit verbundenen Verwerfungen und Ängsten, mit all dem Terror und all der Ungewissheit, sie sind in Deutschland nach wie vor kaum präsent. Doch nur wenn man dies kennt, versteht man Polen, die polnische Politik, ihre Reaktionen nach dem 24. Februar. Und wenn wir heute – ein Jahr danach – an diesen 24. Februar erinnern, so zeigt sich, was ein Krieg in unseren Köpfen auch verändern kann: Geradezu über Nacht ist nämlich nicht nur die Ukraine in den Fokus der europäischen Öffentlichkeit gerückt, sondern auch Polen, der wichtigste Umschlagplatz für jeglichen Nachschub für das um seine Freiheit kämpfende Land. Wäre es doch schon zuvor so gewesen! Hätte man jene Inschriften auf Denkmälern wie dem in Darmstadt ernst genommen, als Mahnungen an die Gegenwart, einmal genauer hinzuschauen: Kiew und Odessa und Białystok und Smolensk, sie liegen viel näher, als man das in deutschen Wohlstandswelten zu wissen glaubte. Auch heute noch sind Berlinerinnen und Berliner – zumindest in ihren Köpfen – viel schneller auf Mallorca oder in Antalya als in Słubice, Posen oder Warschau, und von den Darmstädterinnen und Darmstädtern muss man leider das Gleiche sagen.

Wir wissen – irgendwann geht jeder reale Krieg einmal zu Ende. Auch „Kriege in den Köpfen“ verblassen mit der Zeit. Sie enden aber sehr viel später als die Kämpfe an den Fronten mit ihren Schützengräben und zerschossenen Städten: Kriege in den Köpfen, imaginierte Kriege überdauern Generationen. Und so spielen sich bei Polen wie bei Deutschen immer noch Zweite Weltkriege in den Köpfen ab. So ist denn auch die Nachbarschaft beider Staaten – wie wir in einem Forschungsprojekt gezeigt haben – von jener kriegerischen Substanz unserer Geschichte geprägt, die uns bewusst und häufig unbewusst darin begleitet, wie wir übereinander denken und übereinander schreiben. Deshalb gilt es, mit Geschichte verantwortungsvoll umzugehen – und die Geschichte, die Geschichten unserer Nächsten, unserer Nachbarn immer mit zu bedenken, ohne sich über sie hinwegzusetzen. Denn Geschichte prägt Handeln in der Gegenwart.