11.10.2021 - Gesellschaft , Politik

Polen – eine EU-enthusiastische Gesellschaft mit einer EU-kritischen Regierung – geht das gut?

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Hunderttausend Menschen haben in Warschau ihre proeuropäische Einstellung manifestiert, über 80 Prozent der Polinnen und Polen unterstützen die Mitgliedschaft Polens in der EU und der Anteil derer, die sich als EU-Bürger fühlen, ist höher als im EU-Durchschnitt. Trotzdem regiert schon die zweite Regierungszeit in Polen eine Partei, die die europäische Demokratie in Frage stellt. Das Verfassungstribunal, besetzt mit von der PiS nominierten Richtern, beschließt, dass das polnische Recht Vorrang vor dem EU-Recht habe. Diese Zusammenstellung erscheint in der Tat fast mysteriös. Wie steht es angesichts dessen denn überhaupt mit dem polnischen Europaenthusiasmus?

 

Überwältigende Mehrheit der Polen für die EU-Mitgliedschaft

Die Umfragen, die 2021 publiziert wurden, zeigen deutlich, dass die Polen sich eindeutig für die EU-Mitgliedschaft ihres Landes aussprechen. Im Eurobarometer 2021 gaben im Frühjahr 81 Prozent der Befragten an, sich voll und ganz oder teilweise als Bürger der Europäischen Union zu fühlen. Andererseits gaben 18 Prozent an, der Identifikation als EU-Bürger eher oder überhaupt nicht zuzustimmen. Der Durchschnittswert für alle europäischen Staaten lag damals bei 72 Prozent Zustimmung. In der gleichen Zeit meinten 55 Prozent der polnischen Befragten, sie würden der Europäischen Union vertrauen. Auch wenn die Zahl auf den ersten Blick nicht besonders hoch erscheint, so erscheint sie doch in einem anderen Licht, wenn man sie mit dem EU-Mittelwert von 49 Prozent vergleicht oder den Ergebnissen für Deutschland (47 Prozent), Luxemburg (48 Prozent) oder Frankreich (36 Prozent) – denn Polen ist hier in der oberen Hälfte der europäischen Skala platziert. Das gleiche gilt für die Antworten auf die Frage, welches Bild die EU bei den Befragten hervorruft. Im Frühjahr 2021 meinten 53 Prozent der Polen, dieses Bild sei positiv (der EU-Durschnitt lag bei 45 Prozent, in Deutschland waren es 49 Prozent und in Frankreich 41 Prozent).

Das war nicht die einzige Umfrage, die eine so proeuropäische Meinung der Polen bestätigte. Laut einer Befragung von United Surveys im Auftrag der Zeitung „Dziennik Gazeta Prawna“ und des Radiosenders RMF vom 10. September 2021 wollen gut 88 Prozent der Polen an der EU-Mitgliedschaft ihres Landes festhalten. Nur 7 Prozent finden, dass Polen die EU verlassen sollte. In der gleichen Analyse halten 57 Prozent der Befragten einen Austritt Polens für unwahrscheinlich, knapp 30 Prozent sehen dies als realistisches Szenario.

Eine proeuropäische Einstellung der Gesellschaft findet man auch in Untersuchungen, die nicht nur die Stimmung für oder gegen die EU-Mitgliedschaft messen, sondern auch nach der erwünschten Art der Integration fragen. Laut einer Studie des Umfrageinstituts IPSOS für die Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“ und das Nachrichtenportal Oko.press Ende September 2021 befürwortet die Hälfte der polnischen Befragten eine engere Zusammenarbeit in der EU und eine größere Rolle für die Europäische Kommission, während 37  Prozent dafür sind, die Zusammenarbeit auf wirtschaftliche Fragen zu beschränken und den einzelnen Ländern mehr Autonomie zu gewähren. Nur 5 Prozent wählen die Antwort „Austritt Polens aus der Europäischen Union" und 8 Prozent haben keine Meinung.

IMG 3415Die Antworten korrelieren, wie immer in Polen, wenn es um politische Meinungen geht, stark mit den Parteipräferenzen der Befragten. So sind 14 Prozent der Wähler der rechten, europaskeptischen Partei Konföderation (Konfederacja) für einen Polexit, aber auch hier sprechen sich 69 Prozent für eine Zusammenarbeit mit der EU aus, wenn auch nur in wirtschaftlichen Fragen und mit einer größeren Unabhängigkeit der Mitgliedstaaten. In der Wählerschaft der PiS gibt es ebenfalls die meisten Befürworter der zweiten Option, aber die Proportionen sind anders. Ein Polexit wird von 4 Prozent angegeben, 65 Prozent sind für eine begrenzte Zusammenarbeit und 25 Prozent für eine noch engere Anbindung an die EU. In den übrigen Wählergruppen sind diejenigen am stärksten vertreten, die eine noch größere Rolle für die Europäische Kommission erwarten.

 

PiS und die EU

Das Land mit dieser pro-europäischen Bevölkerung wird jedoch von einer Regierung geführt, die mehrmals in den letzten sechs Jahren gegen die EU-Regeln verstoßen hat.

Der Streit zwischen der Europäischen Kommission und der polnischen Regierung hat im September 2021 eine neue Stufe erreicht, als die Kommission beim Europäischen  Gerichtshof (EuGH) Strafzahlungen gegen Polen beantragt hat, weil Polen einem EuGH-Urteil zu der neu geschaffenen Disziplinarkammer am Obersten Gericht nicht Folge leistet. Laut dem Urteil des EuGH müsste diese Kammer, die nur mit von der PiS nominierten Richtern besetzt ist, ihre Arbeit einstellen, was nicht geschehen ist. Und die Europäische Kommission hat Polen bislang noch keine Fördergelder aus dem Corona-Hilfstopf überwiesen, womit sie Druck auf Warschau ausüben will, das EU-Recht zu befolgen. Insgesamt sollte Polen Corona-Zuschüsse von fast 24 Milliarden Euro erhalten.

Auch die mit den Stimmen lokaler PiS-Politiker verabschiedeten Resolutionen verschiedener Städte und Gemeinden in Polen, die verkünden, sie seien frei von der, wie sie es nennen, „LGBTQ-Ideologie“, stehen im Gegensatz zu den in der EU verankerten Werten (mehr dazu lesen Sie in einem anderen DPI-Blogbeitrag). Die Beschlüsse sagen, dass die jeweilige Kommune, Stadt oder Region nicht von der „LGBT-Ideologie“ beeinflusst werden dürfe, damit Kinder in der Schule vor der aufgezwungenen politischen Korrektheit und der „Frühsexualisierung“ nach den Standards der Weltgesundheitsorganisation (wie die Sexualaufklärung von ihren Gegnern genannt wird) geschützt werden. Als die Europäische Kommission drohte, diesen Kommunen keine EU-Mittel mehr auszuzahlen, haben jedoch einige Kommunen die Entscheidungen revidiert.

Die Partei Recht und Gerechtigkeit selbst hat offiziell Schritte unternommen, um ihre eigene proeuropäische Position darzustellen. Am 15. September 2021 verabschiedete die Partei eine Resolution, in der sie erklärt, dass es nicht ihr Ziel sei, dass Polen die EU verlässt. „Angesichts der Tatsache, dass in letzter Zeit lügnerische Informationen über die Position der Partei Recht und Gerechtigkeit zum EU-Beitritt Polens aufgetaucht sind, haben wir durch eine Entschließung des Politischen Ausschusses beschlossen, uns damit zu befassen.“, sagte die Pressesprecherin der Partei. Sie erklärte: „Wir binden die Zukunft Polens eindeutig an die Zugehörigkeit zur Europäischen Union, aber das bedeutet nicht, dass wir den fortschreitenden, außervertraglichen Prozess der Einschränkung der Souveränität der Mitgliedstaaten akzeptieren müssen." Die Entschließung stellt fest, dass Polens Platz in der Europäischen Union und im Nordatlantischen Bündnis ist. „Unsere Heimat muss in den euro-atlantischen Strukturen verankert sein. Das ist die polnische Staatsraison und das nationale Interesse Polens", hieß es weiter. „Polen ist seit über tausend Jahren ein europäischer Staat, und heute ist die Europäische Union die Realität unseres Kontinents".

Zur gleichen Zeit – sowohl vor als auch nach dem Beschluss – hatten hochrangige Vertreter der PiS auf einen möglichen „Polexit" angespielt. „Wir müssen darüber nachdenken, wie viel weiter, wie viel mehr wir noch zusammenarbeiten können, damit wir alle in der EU bleiben, und damit diese EU für uns annehmbar ist", hatte PiS-Fraktionschef Ryszard Terlecki gesagt und auf den Brexit verwiesen. Ihm zufolge müsse Polen müsse auch über „drastische Schritte" nachdenken. Eine ehemalige PiS Politikerin, Krytsyna Pawłowicz, die heute als Richterin im Verfassungstribunal sitzt, hat die EU-Fahne mit dem Wort „Fetzen“ bezeichnet.

Solche Stimmen konkurrieren mit der Partei Konföderation, aber auch Solidarisches Polen (Solidarna Polska) um die konservativste Wählerschaft. Letztere ist eine Partei, die mit der PiS eine Fraktionsgemeinschaft bildet und die gemeinsam mit der PiS bei den Wahlen angetreten ist (alleine hätte sie die 5-Prozent-Hürde bei den Wahlen kaum geschafft). Ihr Chef, Zbigniew Ziobro, ist als Justizminister Urheber der umgestrittenen Justizreformen. Der Unterschied in der Rhetorik gegenüber der EU zwischen PiS und Solidarna Polska, die weiter vom Polexit spricht, liegt darin begründet, dass es der PiS vor allem um die EU-Finanzmittel geht, während Ziobros Partei die vollständige Kontrolle der Justiz anstrebt. Auch Jarosław Kaczyński würde gerne die Justiz endgültig unter der eigenen Regie sehen, muss aber auch berücksichtigen, wie wichtig die EU-Mittel für Polen sind und wie viele Wähler die Mitgliedschaft in der EU befürworten.

 

Polexit - eine ernste Gefahr?

So bekommt die Frage nach der Möglichkeit des Polexits eine besondere Bedeutung. Beide, die polnische Gesellschaft und die Expertenkreise, sind hier sehr gespalten. Die Antworten der vom Meinungsforschungsinstitut Ipsos im September 2021 befragten Polen auf die Frage: „Kann die Politik der Regierung von Recht und Gerechtigkeit zum Austritt Polens aus der EU führen?“ waren gleichmäßig verteilt: je 48  Prozent für "Ja" und "Nein". Dass es eine rein politische Frage ist, wird deutlich, wenn man diese Antworten mit den Parteipräferenzen zusammenstellt. Nicht weniger als 89 Prozent der PiS-Wähler (50 Prozent von ihnen mit Sicherheit) antworteten auf diese Frage mit "Nein". Nur einer von zehn befürchtet, dass die PiS einen Polexit herbeiführen könnte. Das heißt, die PiS-Wähler glauben Jarosław Kaczyński, der in einem Interview erklärte: „Es wird keinen Polexit geben, das ist eine Propagandaerfindung, die schon oft gegen uns verwendet wurde, wir wollen in der EU sein, aber gleichzeitig wollen wir ein souveräner Staat bleiben". So haben es auch öffentlich-rechtlichen Medien, die von der Regierungspartei abhängig sind, immer wieder betont.

Die Unterstützer der Oppositionsparteien haben hingegen Angst vor der Politik der PiS – 84 Prozent der Wähler der Bürgerkoalition (Koalicja Obywatelska), 68 Prozent der Linken, 64 Prozent der Partei Polen 2050 von Szymon Hołownia und 50 Prozent der Bauernpartei PSL meinen, die Politik der Regierungspartei führe zu einem Polexit.

Die Wahrnehmung dieses Problems hängt auch mit dem Wohnort und Alter zusammen. In ländlichen Gebieten und Kleinstädten (bis zu 100.000 Einwohner) fürchtet etwas weniger als die Hälfte einen Polexit. Aber in größeren Städten wächst die Angst, und hier lautet die Antwort mehrheitlich „ja". Auch junge Menschen haben am häufigsten Angst vor dem, was die PiS tut – in der Gruppe der 18- bis 29-Jährigen sagen 51 Prozent, ein Polexit sei möglich. Am wenigsten stimmen damit die über 60-Jährigen überein – hier antworteten 56 Prozent mit „nein" und 42 Prozent mit „ja". Es gibt auch eine starke Korrelation mit der Bildung – diejenigen mit Volksschulbildung meinen eher, die Politik führe nicht zum Polexit (65 Prozent), während diejenigen mit Abitur und Hochschulbildung diese Gefahr für größer halten (56 bzw. 58 Prozent).

Die Meinungen der Experten, ob die PiS absichtlich in Richtung Polexit steuert, oder ob es nur eine innenpolitische Rhetorik ist, die der Wählerschaft gegenüber Stärke zeigen soll, sind gespalten. Einige glauben, ein EU-Austritt sein kein Ziel der Regierungspartei, da sie sehr gut wisse, dass die Wähler für ein Verbleiben in der Gemeinschaft sind. Manche sehr EU-kritische, sogar EU-feindliche Äußerungen würden einfach akzeptiert um die konservativsten Wähler an der eigenen Seite zu halten. Immer wieder werden aber in der Realität Zugeständnisse gemacht. Die Rücknahme der LGBTQ+ Resolutionen kann hier als Beispiel dienen. Andere Kommentatoren sind der Meinung, es reiche nicht aus, dass Kaczyński sage, es werde keinen Polexit geben, wenn gleichzeitig das Handeln der Regierung Polen immer weiter an den Ausstieg aus der EU heranführe.

Warum aber, um die Frage vom Anfang, zu beantworten, wählen die polnischen Bürger eine Partei, die so tickt? Erstens wurde die PiS 2019 von 43,6 Prozent der Wähler gewählt, bei einer Wahlbeteiligung von 61,7 Prozent. Die Regierungspartei repräsentiert also nicht die Meinung der Mehrheit der Polen. Zweitens waren die Gründe, warum die Partei Recht und Gerechtigkeit Unterstützung genossen hat und immer genießt, weit von der EU-Thematik entfernt. Der Grund waren vor allem die versprochenen und tatsächlich auch eingeführten Sozialleistungen sowie das Gefühl des gesellschaftlichen Respekts, das die PiS mit ihrer Rhetorik aber auch diesen sozialen Wohltaten geschaffen hat. Die komplizierten Regeln der Europäischen Union oder der Sinn der Justizreformen standen nicht im Mittelpunkt der Entscheidungsprozesse der meisten Wähler. Und die von der Regierungspartei beeinflussten Medien kultivierten nur das Bild der „sich um die Bürger kümmernden PiS“ und der bösen EU, die die guten Reformen stoppen will. Letztlich bleibt aber eine große Gruppe der Polen politisch eher inaktiv und unreflektiert – sie unterstützt die EU, genießt die sozialen Wohltaten der PiS und freut sich, dass sie problemlos billig Urlaub in Kroatien machen kann, doch Zusammenhänge sieht sie hier nicht. Um diese Gruppe dreht sich der unaufhörliche politische Kampf in Polen.