27.01.2022

Nachbarn auf 64 Feldern: Schach in Polen und Deutschland

Bogdan Sliwa Urkunde 3

„Kto grze rozumie, może śmiele sadzić,

A kto nie świadom, lepiej się poradzić.

Tablica naprzód malowana będzie,

Tę pól sześćdziesiąt i cztery zasiędzie.

Pola się czarne z białymi mieszają,

Te się owymi wzajem przesadzają.

W tym placu wojska położą się obie,

A po dwu rzędu wezmą przeciw sobie.”

 

„Der Kenner möge kühn am Spieltisch sitzen,

Der Laie aber soll die Ohren spitzen.

Zuerst das Spielbrett: Scheckig aufgebracht,

Sind vierundsechzig Felder, acht mal acht.

Die schwarzen Felder mühn sich mit den weißen,

Gleichfarbne fremde Paare zu zerreißen. Und diesen Platz beziehen Armeen,

Die sich in Doppelreihen entgegenstehn.“[1]

Als der große polnische Dichter Jan Kochanowski im 16. Jahrhundert diese Zeilen für sein Werk „Das Schachspiel“ (Szachy) dichtete, ahnte er sicherlich nicht, dass gut 450 Jahre später einer seiner Landsmänner seine Armeen auf den 64 Feldern so gut führen würde, dass er um die Krone des Schachs mitspielen kann. Jan-Krzysztof Duda, 23 Jahre jung, Schachgroßmeister aus Wieliczka im Süden Polens, gelang es jedoch nicht nur, im vergangenen Jahr den FIDE World Cup zu gewinnen, ein vom Weltschachverband FIDE organisiertes und äußerst hochkarätig besetztes Turnier. Er sicherte sich durch diesen Erfolg auch als erster Pole überhaupt einen Platz im Kandidatenturnier 2022, dem Wettkampf, bei dem der Herausforderer des aktuellen Weltmeisters, Magnus Carlsen, ermittelt wird. Ebenjenen Carlsen konnte Duda im Halbfinale des World Cups besiegen und erntete dafür viel Bewunderung in der Schachwelt. Seitdem genießt er auch in Polen große Popularität, bekam einen Orden von Staatspräsident Andrzej Duda verliehen und wurde zum Sportler des Jahres 2021 gewählt.

 

Jan-Krzysztof Duda, 2018

Duda und Giri 2018 Dortmund croppedDer Erfolg Dudas markiert den bisher größten Erfolg des polnischen Schachs seit dem Zweiten Weltkrieg, das nach vielen Jahren wieder in der Weltspitze angekommen ist. Dabei liegt die Betonung bewusst auf ‚wieder‘, denn Polen gehörte in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg zu den stärksten Schachnationen der Welt. Im Jahre 1930 gewann die polnische „Bombenmannschaft“, wie sie von der deutschen Presse bezeichnet wurde, die Schacholympiade in Hamburg und ließ große Schachnationen wie Ungarn, Deutschland oder Österreich hinter sich. Nur 15 Jahre später, am Ende des Zweiten Weltkriegs, lag das polnische Schach am Boden, seine Strukturen durch die deutsche Besatzung zerstört, seine besten Köpfe entweder ermordet oder aus Polen vertrieben.

 Das Schachspiel, das aus Indien stammt, fand im frühen Mittelalter seinen Weg über die Iberische Halbinsel sowie Russland nach Europa. In Deutschland ist es bereits im 11. Jahrhundert bekannt und wird z.B. schon im Versepos Ruodlieb erwähnt.[2] Für Polen nimmt man an, dass Schach in der Regierungszeit von Bolesław III. Krzywousty seinen Weg ins Land fand.[3]

Im 19. Jahrhundert fand Schach seinen Weg vom Adel in die bürgerliche Gesellschaft. Es etablierte sich in den Kaffeehäusern Wiens, Londons oder Berlins, in denen Schach, nicht selten um Geld, gespielt und weiterentwickelt wurde. Aus diesem „Kaffeehausschach“ geht das organisierte Schach hervor. In Deutschland wurden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die ersten Vereine gegründet, in Polen geschah dies einige Jahrzehnte später. Manche der damals gegründeten Vereine bestehen bis heute, etwa die Berliner Schachgesellschaft 1827 Eckbauer, der Hamburger Schachklub von 1830 oder der Münchener Schachklub 1836. 1876 wurde im damals zu Preußen gehörenden Posen der erste Schachklub auf heute polnischem Boden gegründet. Bis zum Ende des Jahrhunderts folgten noch Krakau, Lemberg und Warschau. Wie groß und wichtig ein Verein war, hing oft von einem Meister ab, der sich dort niedergelassen hatte. In Posen war dieser Meister Johann Hermann Zukertort, der hier in den 1860er Jahren ein reges Schachleben organisierte. Zukertort, in Lublin geboren, war am Ende des 19. Jahrhunderts einer der stärksten Schachspieler. Er lebte in Polen, Deutschland und Großbritannien und spielte 1886 sogar ein WM-Match, das er jedoch verlor.[4] In Deutschland war Breslau neben Berlin das zweite große schachliche Zentrum, was an der Person Adolf Anderssen lag. Anderssen, ein Lehrer aus Breslau, war der wohl beste Schachspieler des 19. Jahrhunderts. Er gilt als der erste inoffizielle Weltmeister, da es damals noch keine organisierten WM-Kämpfe gab, er aber das erste internationale Schachturnier der Geschichte 1851 in London gewinnen konnte. Anderssen spielte während dieses Turniers eine der großartigsten Partien der Schachgeschichte, die heute als „Unsterbliche Partie“ bekannt ist. Neben seiner aktiven Karriere war ihm die Gründung eines gesamtdeutschen Schachbundes ein großes Anliegen, was 1877 schließlich gelang. Der Deutsche Schachbund besteht bis heute. Während sich polnische und deutsche Schachmeister im 19. Jahrhundert in ihrer Spielstärke nicht sonderlich unterschieden, war Schach in Deutschland weitaus stärker organisiert als in Polen. Der Grund dafür lag in der territorialen Integrität Deutschlands, während es zur gleichen Zeit aufgrund der Teilungen Polens gar keinen eigenen Staat gab. So blieb Schach in Polen lange Zeit auf Kaffeehäuser und einzelne Vereine beschränkt, während sich in Deutschland ein lebendiges Vereinsleben mit zahlreichen Mitgliedern entwickelte.[5]

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts florierte Schach in Deutschland. Die Vereine und Mitgliederzahlen wuchsen und Meister wie Fritz Sämisch, Kurt Richter oder Siegbert Tarrasch errangen Erfolge auf internationaler Ebene.[6] Über allen thronte in diesen Jahrzehnten Emanuel Lasker, Deutschlands bislang einziger Schachweltmeister. Diesen Titel hielt er jedoch länger als jeder andere in der Geschichte, nämlich stolze 27 Jahre (1894-1921). Lasker wurde 1868 in Berlinchen in der Mark Brandenburg geboren, das heute die Kleinstadt Barlinek in Polen ist. Auch für ihn begann seine Schachlaufbahn in einem Berliner Kaffeehaus, von wo aus er seinen Siegeszug in die Schachwelt startete. Doch im Zuge der Machtergreifung der Nationalsozialisten verließ er Deutschland und verbrachte die Jahre bis zu seinem Tod 1941 im Ausland.[7] Während der nationalsozialistischen Herrschaft durchlebte das Schach in Deutschland eine sehr schwierige Zeit. Es wurde zum Instrument nationalsozialistischer Ideologie umfunktioniert, wurde für Kriegspropaganda benutzt und sollte zur Erziehung einer sogenannten „Volksgemeinschaft“ dienen. Dazu wurde der Großdeutsche Schachbund gegründet und der bis dato agierende Deutsche Schachbund diesem untergeordnet. Sogleich begann die Unterdrückung jüdischer Schachspieler. Auch während des Zweiten Weltkrieges wurde Schach zu Propagandazwecken genutzt, besonders von Hans Frank, der im von ihm geleiteten Generalgouvernement zwischen 1940 und 1944 internationale Schachturniere veranstaltete.[8]

In Polen, das nach dem Ersten Weltkrieg seine Unabhängigkeit wiedererlangt hatte, blühte das Schachspiel auf und erlebte bis 1939 die erfolgreichste Phase in seiner Geschichte. Dabei kam ihm zugute, dass es mit Kazimierz Sosnkowski, einem ranghohen General, und Józef Piłsudski, Marschall und Ikone der polnischen Unabhängigkeit, zwei Unterstützer auf oberster Staatsebene für sich gewinnen konnte. Besonders Piłsudski galt als großer Schachenthusiast und setzte sich sehr für die Entwicklung des Schachs in Polen ein.[9] Darüber hinaus betrat im 20. Jahrhundert eine Reihe großer polnischer Schachspieler die Bühne, allen voran Akiba Rubinstein. Dieser gilt als der größte Schachspieler Polens. Rubinstein wurde 1882 in der kleinen Stadt Stawiski im heutigen nordöstlichen Polen in eine arme jüdische Familie geboren. Sein Siegeszug in die höchsten Höhen des Schachs begann im Schachklub von Lodz, wo er mit 19 Jahren hingezogen war. Seine Erfolge stellten 1914 ein WM-Match Lasker-Rubinstein in Aussicht, das jedoch aufgrund des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges nicht stattfinden konnte.[10]

E Bogoljubov A Rubinstein 12th november 1925

   Akiba Rubinstein (rechts) während einer Partie mit Efim Bogoljubov, 1925

Polen war in den Jahrzehnten vor dem Zweiten Weltkrieg ein Powerhouse des Schachs und konnte 1930 seine bis dato größte Erfolge in seiner Schachgeschichte einfahren. Die goldene Generation um Akiba Rubinstein, Ksawery Tartakower, Dawid Przepiórka, Kazimierz Makarczyk und Paulin Frydman gewann die 3. Schacholympiade, die in Hamburg ausgetragen wurde. Deutschland belegte in diesem Turnier den dritten Rang. Die Schacholympiade ist der bedeutendste Mannschaftswettbewerb im Schach, an der alle namhaften Meister teilnehmen. Polens von Rubinstein angeführtes Team wurde aufgrund seiner starken Leistung von der deutschen Presse als „Bombenmannschaft“ bezeichnet. Nur fünf Jahre später durfte Polen seine erste und bisher einzige Schacholympiade ausrichten, die in Warschau mit Teilnehmerrekord ausgetragen wurde.[11]

 

Urkunde für den Krakauer Schachspieler Bogdan Śliwa

zum Sieg eines Turniers, das während der deutschen

Besatzung ausgetragen wurde

Bogdan Sliwa Urkunde Mit dem deutschen Einmarsch in Polen 1939 fand die goldene Zeit des polnischen Schachs ihr jähes Ende. Der Kriegsbeginn unterbrach die laufende Schacholympiade in Buenos Aires, was einigen polnischen Schachspielern das Leben rettete, da sie nach der Olympiade nicht nach Polen zurückkehrten. Dies bedeutete jedoch einen herben Verlust für das polnische Schach, das dadurch Spieler wie etwa Mieczysław Najdorf verlor, der als Mosze Mendel Najdorf in Polen geboren worden war und nach dem Krieg als Miguel Najdorf viele Partien für Argentinien ausfocht.[12] In Polen kam das Schach fast komplett zum Erliegen, obwohl es vereinzelte geheime Turniere während der Besatzung gab. Das Schlimmste jedoch war der Verlust etlicher Meister und Funktionäre, die während der Nazi-Herrschaft über Polen oder im Holocaust ums Leben kamen. Exemplarisch dafür steht das tragische Schicksal von Dawid Przepiórka, dem Goldmedaillengewinner von 1930, der 1940 während der Massenerschießungen von Palmiry getötet wurde.[13]

Hoogoven schaaktoernooi Wijk aan Zee nummer 7 Najdorf Bestanddeelnr 926 1759

                Mieczysław (Miguel) Najdorf

Wie schlimm das polnische Schach während der deutschen Besatzung gelitten hatte, zeigt sich auch in der Zeit, die Polen nach dem Krieg gebraucht hat, um im Schach wieder an die Weltspitze zu kommen. Erst in den letzten Jahren ist nach langen Jahren der Jugend- und Aufbauarbeit eine neue große polnische Schachgeneration im Anmarsch, welche von Jan-Krzysztof Duda angeführt wird. In der Bundesrepublik sowie in der DDR war Schach auch nach dem Krieg populär und verbreitet. Großmeister wie Wolfgang Unzicker, Robert Hübner oder Wolfgang Uhlmann spielten auf oberstem Niveau. Aktuell fehlt es in Deutschland an einem absoluten Spitzenspieler. Doch mit dem erst 17-jährigen Vincent Keymer gibt es auch hier ein junges Talent mit Chancen, nach ganz oben zu kommen. Im Frauenschach sind Polen und Deutschland gleich stark einzuschätzen und zählen zur erweiterten Weltspitze.

Im Allgemeinen erlebt Schach gerade einen Boom und erlebt besonders seit Beginn der Pandemie großen Zulauf. Es bleibt für die Zukunft nur zu hoffen, dass sich das königliche Spiel in Polen und Deutschland weiter ausbreiten und viele weitere Menschen in seinen Bann ziehen wird. Dann könnte gelten, was Jan Kochanowski schon im 16. Jahrhundert vorgeschwebt hatte:

            „Wszakoż ją przedsię radzi przeczytali,

            A dla ćwiczenia zawżdy szachy grali.”

           

            „Sogleich sitzt jeder unter seinem Dach

            An einen Tisch und spielt zur Übung Schach[.]“[14]



[1] Jan Kochanowski: Das Schachspiel. Szachy. Aus dem Polnischen von Thomas Daiber. Berlin 2011, S. 12f.

[2] Ruodlieb wurde in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts auf Latein vom Mönch Fruomund vom Tegernsee verfasst. Vgl.: Jerzy Giżycki: Z Szachami przez Wieki i Kraje. Warszawa 1984, S. 19.

[3] Ebenda. S. 29.

[4] Vgl. Władysław Litmanowicz; Jerzy Giżycki: Schachy od A do Z. N-Z. Warszawa 1987, S. 1363ff.

[5] Zu den Schachklubs Posen und Warschau siehe: Andrzej Kwilecki: Szachy w Poznaniu. Poznań 1990; Tadeusz Wolsza: Od „Honoratki” do Wierzbowej. Życie szachowe w Warszawie w latach 1829-1939. Warszawa 2020; Zu Adolf Anderssen und dem Deutschen Schachbund, siehe: Alfred Die: Schach in Deutschland. Festbuch aus Anlaß des hundertjährigen Bestehens des Deutschen Schachbundes e.V. 1877-1977. Düsseldorf 1977.

[6] Zu Tarrasch, der auch aus Breslau stammt vgl.: Diel 1977, S. 54-57.

[7] Zu Emanuel Lasker vgl. Diel 1977, S. 58-62.

[8] Zum Schach im Dritten Reich vgl.: Bernadette Edtmaier: Schach im „Dritten Reich“, in: Rainer Buland (u.a., Hrsg.): Das Gästebuch der Schachweltmeisterschaft 1934 in Deutschland. Wien 2014.

[9] Vgl. Wolsza 2020, S. 176f.

[10] Zu Akiba Rubinstein vgl.: Litmanowicz, Giżycki 1987, S. 1045-1048; Stefan Gawlikowski: Arcymistrzowie. Złota era polskich szachów. Warszawa 2016, S. 27-49.

[11] Zur Schacholympiade 1930 vgl.: Gawlikowski 2016, S. 17-26; Zur Olympiade 1930 und weiteren Olympiaden dieser Zeit vgl: Stanisław Gawlikowski: Olimpady Szachowe 1924-1974. Warszawa 1978.

[12] Zu Najdorf vgl. Gawlikowski 2016, S. 135-150.

[13] Zu Przepiórka vgl. Gawlikowski 2016, S. 75-105; zu Schachspielern, die Opfer des Holocaust wurden vgl. ebd. S. 179-184.

[14] Kochanowski 2011, S. 14f.