05.04.2022 - Ukraine, Gesellschaft , Politik, Kultur

„Man müsste jeden Tag zwei neue Schulen gründen, um alle Kinder aufzunehmen“

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Seit dem 24. Februar 2022, dem ersten Tag des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine sind rund 283.000 Menschen nach Deutschland gekommen, von denen 80 Prozent Frauen und Kinder sind, darunter zahlreiche Schüler:innen. In Polen hingegen stellt sich die Situation weitaus dramatischer dar. Auch hier sind rund 80 Prozent der bislang gut 2,5 Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine Frauen und Kinder, darunter rund 700.000 im schulpflichtigen bzw. Kindergartenalter. Wie es um deren Integration in das polnische Bildungssystem steht, damit habe ich mit Dorota Obidniak gesprochen, die Koordinatorin für Internationale Zusammenarbeit der Gewerkschaft der Polnischen Lehrerschaft (Związek Nauczycielstwa Polskiego, ZNP) ist.

Polen schreibt derzeit viele positive Schlagzeilen. Die große Hilfsbereitschaft der polnischen Gesellschaft, der Regierung und der kommunalen Politik bei der Aufnahme von bislang über zwei Millionen Flüchtlingen findet in Deutschland große Anerkennung. Gleichzeitig mehren sich aber auch hierzulande Berichte über die enormen Herausforderungen, die sich hieraus bereits heute ergeben. Wir wollen heute über die Integration geflüchteter Schüler:innen in das polnische Bildungssystem sprechen. Wo siehst Du hier die größten Herausforderungen?

Geflüchtete Kinder haben das gleiche Recht auf Bildung wie polnische Kinder. Die Erziehungsberechtigten, in der Regel die Mütter, aber auch Tanten, Großeltern oder sogar Freunde, wenn die Eltern der Kinder in der Ukraine bleiben mussten, können das Kind in der Schule anmelden. Das Problem sind nicht die Vorschriften, sondern der physische Mangel an Plätzen und auch an Lehrer:innen. Trotz der Unterbringungsprobleme und des Lehrermangels nehmen die Schulen und Kindergärten Kinder auf. Schätzungen zufolge gibt es allein in Warschau derzeit etwa 100.000 geflüchtete Kinder im Schulalter, von denen bislang ca. 12.000 bereits die Schule besuchen. Eine durchschnittliche polnische Schule hat 500 Schüler. Man kann sich also vorstellen, dass man jeden Tag zwei neue Schulen gründen müsste, um alle Kinder aufzunehmen.

Das bedeutet aber im Umkehrschluss, dass bislang erst ein kleiner Teil der ukrainischen Flüchtlingskinder am Unterricht einer polnischen Schule teilnimmt. Woran liegt das? Hängt das vor allem mit begrenzten Aufnahmekapazitäten zusammen, braucht die Entwicklung einfach mehr Zeit oder gibt es noch andere Gründe?

Tatsächlich vermeidet es derzeit eine große Zahl an Erziehungsberechtigten, die in ihrer Obhut stehenden Kinder an polnischen Schulen anzumelden. Hierfür gibt es mehrere Gründe. Die meisten Flüchtlinge glauben, dass der Krieg bald zu Ende sein wird und sie in ihre Heimat zurückkehren werden. Erziehungsberechtigte, die ihren Lebensunterhalt verdienen müssen oder ein Familienmitglied haben, das arbeitet, sind der Meinung, dass es keinen Grund gibt, die Kinder unter Stress zu setzen, da gerade einmal noch etwa zwei Monate bis zu den ukrainischen Sommerferien verbleiben und die drei bis vier Monate verpasster Unterricht nachgeholt werden können, wenn sie in ihre eigene Schule in der Ukraine zurückkehren. Ein weiterer Grund ist, dass einige Flüchtlinge noch nicht entschieden haben, ob sie in Polen bleiben werden, und wenn ja, in welcher Stadt. Einige Schüler:innen nutzen die Vorteile des Online-Fernunterrichts, der von ukrainischen Schulen in Gebieten angeboten wird, in denen die aktuelle Kriegssituation dies zulässt. Auch das ukrainische Bildungsministerium hat Fernunterricht organisiert. Diese Möglichkeit nutzen vor allem die Schüler:innen älterer Jahrgänge, da sie damit möglicherweise Zeugnisse erhalten, die es ihnen ermöglichen, nach dem Krieg ihre Abschlussprüfung (Abitur) abzulegen.

Das scheinen auf den ersten Blick alles nachvollziehbare Gründe zu sein. Gleichzeitig lässt sich momentan kaum seriös abschätzen, wie lange der Krieg noch dauern wird und wann die Geflüchteten in ihre Heimat zurückkehren können. Zudem herrscht ja auch in Polen Schulpflicht. Welche Integrationsmaßnahmen sieht das polnische Schulsystem für die ukrainischen Kinder vor?

znp plakat nauczyciele sercem z ukraina scaled 1Im polnischen Bildungssystem gibt es bereits seit mehreren Jahren verschiedene Modelle für Migrant:innen bzw. Flüchtlinge:

Es gibt zum einen die Vorbereitungsklassen (Willkommensklassen), die sich aus geflüchteten Kindern ähnlichen Alters zusammensetzen. Dort haben die Kinder je nach Alter 20 bis 26 Stunden Unterricht pro Woche, davon mindestens 6 Stunden Polnisch als Fremdsprache. Der übrige Unterricht besteht aus Mathematik, Physik, Biologie mit Elementen der polnischen Sprache (Begriffe), Fremdsprachen, Sport, Kunst und dem Erlernen der eigenen ukrainischen Sprache und Kultur.

Weiterhin gibt es Schüler:innen in regulären Klassen. Wenn es in einer Schule mehrere Kinder unterschiedlichen Alters gibt, werden sie in den regulären polnischen Schulunterricht einbezogen und erhalten Einzelunterricht in Polnisch als Fremdsprache, mindestens 2 Stunden pro Woche. Diejenigen Schüler:innen, die Polnisch auf kommunikativem Niveau (ca. B1) beherrschen, werden ohnehin in den regulären Unterricht integriert.

Vom Gesetz her ist auch eine Beschäftigung von Assistenzlehrer:innen bzw. von interkulturellen Assistent:innen vorgesehen. Die assistierende Lehrkraft sollte über kommunikative Kenntnisse der polnischen Sprache verfügen und eine pädagogische Ausbildung haben. Als Kulturassistent:innen kommen auch Ukrainer:innen infrage, soweit sie Polnisch auf kommunikativen Niveau beherrschen. Sie fungieren dann als Tutor:innen, Übersetzer:innen und Ansprechpartner:innen für die Eltern bzw. die Erziehungsberechtigten der Schüler:innen.

Schüler:innen, die die Möglichkeit des ukrainischen Online-Fernunterrichts nutzen, hab die Bildungsbehörden der Stadt Warschau die notwendige technische Ausrüstung und entsprechende Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt. Außerdem wird derzeit die Einrichtung ukrainischer Schulen geprüft, die auf nach Polen geflüchtete ukrainische Lehrkräfte zurückgreifen könnten.

Erhalten die ukrainischen Schulkinder weitere Unterstützung bzw. Vergünstigungen?

Ja, das tun sie. Ukrainische Schulkinder können wie alle ukrainischen Flüchtlinge kostenlos öffentliche Verkehrsmittel nutzen, zudem erhalten sie kostenlosen Eintritt zu Sportanlagen (z. B. Schwimmbäder, Tennisplätze usw.) und kulturellen Einrichtungen (Museen, Zoos). In der Schule werden ihnen außerdem kostenlose (warme) Mahlzeiten wie Mittagessen und ein zweites Frühstück angeboten. Die ukrainischen Schulkinder bekommen des Weiteren Schreibzeug, Schulranzen und Bücher gestellt.

Das klingt nach einem durchdachten und umfassenden Integrationsmodell. Wie sieht es mit der Umsetzung des Modells in die Praxis aus? Sicher treten hier auch Probleme auf.

Allerdings. Wir müssen hier unterscheiden zwischen Problemen, die der polnische Staat mit der plötzlichen Aufnahme einer großen Zahl zusätzlicher Schüler:innen in das Bildungssystem hat, und den Problemen der ukrainischen Flüchtlinge selbst.

Die Kommunalverwaltungen, die die Schulen betreiben, aber auch die Schulen selbst warten noch auf die von den staatlichen Behörden zugesagten finanziellen Mittel, etwa um weiteres, dringend benötigtes Personal einzustellen. Zudem erwarten wir eine Änderung der gesetzlichen Vorschriften, um die Einstellung ukrainischer Lehrkräfte zu erleichtern. Hier geht es vor allem um die Anerkennung von Bildungs- und Berufsabschlüssen.

Und mit welchen Problemen haben die Flüchtlinge zu tun?

Die materielle Situation und die Lebensumstände der Flüchtlinge sind sehr unterschiedlich. Viele hatten bereits Kontakte in Polen, weil jemand aus ihrer Familie in Polen lebt und arbeitet (bereits vor dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar, gab es in Polen ca. 1 bis 1,5 Millionen Ukrainer:innen, von den viele nach dem Beginn des Kriegs im Donbas 2014 ins Land gekommen sind) oder sie selbst früher in Polen (saisonal) gearbeitet hatten. Diese Menschen kennen die Sprache, haben Bekannte, Freunde oder ehemalige Arbeitgeber. Sie kommen dann auch meist fürs erste bei Verwandten oder Freunden unter. Zudem wurden zahlreiche Flüchtlinge in Wohnungen untergebracht, die ihnen privat zur Verfügung gestellt wurden.

Einrichtungen wie Hotels oder Hostels haben nach einem Aufruf der Woiwodschaftsverwaltungen dem Staat Kapazitäten zur Verfügung gestellt. Der Staat hatte sich verpflichtet, die Kosten für den Aufenthalt der Flüchtlinge in diesen Einrichtungen zu übernehmen, hat jedoch den ursprünglich zugesagten Satz um zwei Drittel reduziert. Letztlich hat die Regierung einen Tagessatz pro Person angeboten, der nicht im Geringsten die Kosten für den Aufenthalt (Unterkunft und Verpflegung) deckt.

Gleichzeitig leben nach wie vor sehr viele Flüchtlinge in Turnhallen und ähnlichen Notunterkünften. Dies wirkt sich unmittelbar auf die Situation der Schüler:innen aus: Einige kommen von zu Hause in die Schule, wo manchmal eine ganze Familie in einem Zimmer wohnt, aber zumindest ein Minimum an Privatssphäre vorhanden ist, andere Kinder leben in einem Wohnheim oder in einer Turnhalle, die zu einem Schlafsaal umfunktioniert wurde, wo sie nicht einmal einen eigenen Spind haben.

Die meisten Flüchtlinge kommen mit einer Tasche oder einem Koffer an. Wenn sich das Wetter ändert, brauchen alle, vor allem die heranwachsenden Kinder, Kleidung, Schuhe usw. Die Polen haben riesige Mengen an Kleidung und anderen Dingen gesammelt. Überall, wo Flüchtlinge untergebracht sind, gibt es Kleidung und Spielzeug, in der Regel handelt es sich um gebrauchte Sachen.

Das sind in der Tat enorme Herausforderungen. Wie unterstützt Deine Gewerkschaft, der ZNP, die ukrainischen Geflüchteten und die Schulen bei der Integration?

Zunächst einmal muss ich sagen, dass in praktisch jeder polnischen Schule und jedem polnischen Kindergarten für die Unterstützung der ukrainischen Flüchtlinge Spenden gesammelt werden. Solche Spendensammlungen wurden auch von den lokalen Strukturen des ZNP in Zusammenarbeit mit den Kommunalverwaltungen organisiert, da man auf lokaler Ebene die Bedürfnisse der Flüchtlinge in einer bestimmten Gemeinde oder einem bestimmten Stadtviertel am besten kennt. Auf diese Weise gelangen Lebensmittel, Hygieneartikel, Medikamente usw. so schnell wie möglich zu den Bedürftigen.

Auf zentraler Ebene hat der ZNP Maßnahmen ergriffen, um das Bildungssystem als solches zu unterstützen sowie Flüchtlinge und polnische Lehrer und Schulverwaltungen zu fördern. Dazu gehören Online-Schulungen, die in Zusammenarbeit mit erfahrenen, hochqualifizierten Fachleuten organisiert und direkt vom ZNP oder aus von ihm aufgebrachten Mitteln finanziert werden. Das sind zum Beispiel kostenlose Webinare für Schulleiter:innen über die Einstellung und Beschäftigung von interkulturellen Assistent:innen und Lehrerassistent:innen, über die Arbeitsorganisation und die Entwicklung eines Arbeitsplans für Assistent:innen entsprechend den Bedürfnissen einer bestimmten Schule oder Bildungseinrichtung. Zu unseren Angeboten gehören auch kostenlose Kurse für interkulturelle Assistent:innen, die ihnen grundlegende Informationen über das Bildungssystem in Polen, Kenntnisse über die Aufgaben des Assistenten, mögliche Arbeitsformen, das polnische Bildungssystem und grundlegende Vorschriften, die für Schüler:innen und Erziehungsberechtigte wichtig sind, sowie Orte und Möglichkeiten der Beratung vermitteln. Schließlich gibt es kostenlose Kurse zum Unterrichten von Polnisch als Fremdsprache für aktive Grund- und Sekundarschullehrer:innen.

Außerdem hat der ZNP seit dem 1. April eine Lehrkraft aus Charkiw in seinem Warschauer Büro eingestellt, die eine regelmäßige Kolumne auf Ukrainisch für die ZNP-Homepage verfasst, aktuelle Informationen zusammenstellt, die für Flüchtlinge, Lehrkräfte, Schüler:innen und deren Erziehungsberechtigte wichtig sind und eine Datenbank arbeitssuchender ukrainischen Lehrkräften in Polen erstellt.

Zu guter Letzt unterstützt der ZNP den Aufenthalt von insgesamt 238 Flüchtlingen in den gewerkschaftseigenen Erholungsheimen in Zakopane und Krynica sowie im Hauptsitz des ZNP in Warschau.

Die Bildrechte liegen beim ZNP.