28.04.2020 - Über Bücher, Erinnerungskultur

Karolina Kuszyk: Poniemieckie - Pflichtlektüre über das deutsche Kulturerbe im Westen Polens

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Ein echt schwieriges Wort, dieses „poniemieckie“, was so viel wie „ehemals deutsch“ oder „post-deutsch“ bedeutet, bei weitem aber nicht so vertraut und unauffällig klingt wie im Polnischen. Es ist etwas merkwürdig, dass dieses Buch erst jetzt oder gerade jetzt erscheint, nachdem die großen deutsch-polnischen Geschichtsdebatten etwa über die polnische Aneignung der Oder-Neiße-Gebiete, die Vertreibung der Deutschen, die Ansprüche der Preußischen Treuhand oder das Sichtbare Zeichen schon etwas zurückliegen. Gleichzeitig ist „Poniemieckie“ von Karolina Kuszyk (Czarne 2019) ein wichtiges Buch, eine Pflichtlektüre sozusagen, für alle, die auf beiden Seiten der Grenze sich mit den ehemals deutschen Gebieten nicht nur wissenschaftlich oder journalistisch, sondern auch familiär und gefühlsmäßig verbunden fühlen.

Die Autorin Karolina Kuszyk, großgeworden in den 1980er und 1990er Jahren in Liegnitz/Legnica und heute wohnhaft in Berlin, schreibt in ihrem Vorwort von der Erfahrung des Lebens als Kind in der „nicht ganz vertrauten Landschaft“ der sog. Wiedergewonnenen Gebiete, wo sie mit einem dumpfen Gefühl aufwuchs, „dass die Geschichte der eigenen Stadt und Umgebung mit einem schamhaften Geheimnis“ belegt sei. Die Autorin sucht nach Antworten auf die Frage, auf welche Weise nun die zweite und dritte Generation der „(ost)polnischen Siedler“ sich mit der post-deutschen Umwelt vertraut machte und gleichzeitig lernte, ihr mit der Zeit zu vertrauen.

Und Kuszyk hält  Wort: Sie schreibt von den Siedlern selbst – von ihrer Unsicherheit, Angst und Wut, vom blinden Zerstören all dessen, was poniemieckie war, vom großen Kehraus und ständigen Reinemachen, das bis in die 1970er Jahre andauerte. Sie richtet ihren Blick darauf, was nach 1945 von den Deutschen geblieben ist. Poniemieckie Gegenstände, die trotz der Zerstörungswut übrig waren. Gefühle, die mit poniemieckie zusammenhängen: Hass, Wut, Angst, Schuld, aber auch Interesse und Faszination. Kuszyk zeigt, wie sie die Ungereimtheiten als Kind und Jugendliche Stück für Stück für sich entdeckte, denn wie war es eigentlich möglich, in Polen aufzuwachsen und von so vielem poniemieckie umgeben zu sein? Von Piasten-Legenden zu hören, die den Anspruch auf ein polnisches Schlesien begründeten, und den Tee aus deutschen Bechern zu trinken? Den polnischen Unterricht in ehemals deutschen Schulen zu absolvieren, später Arbeit in ehemaligen deutschen Betrieben zu verrichten? Denn poniemieckie Gegenstände prägten sie wie viele andere junge Polen ihrer Generation durch die Form, den Inhalt und die oft ungeliebte Sprache.

All das verlangte nach Anstrengung, Auseinandersetzung, Bewältigung der vorgefundenen Tatsachen und Öffnung gegenüber dem Fremden, auch wenn es so klein wie eine Zuckerdose war. So zeigt die Autorin, wie aus ehemals deutschen Häusern nun polnische wurden. Wie Gegenstände, die aus dem Osten mitgebracht wurden, sich mit den ehemals deutschen Artefakten verständigen mussten.

Präzise, bildliche Sprache

Mit einer präzisen, bildlichen Sprache nähert sich die Autorin zunächst dem Schicksal ehemals deutscher Häuser: Landschlösser ebenso wie großbürgerlicher Stadtpaläste, Arbeiter-Mietskasernen und Dorfgebäude. Der Leser bekommt einen Eindruck von einer langen Beziehung, ja einer intimen Vertrautheit, mit der vermeintlich unbelebten und doch so lebendigen Materie bürgerlicher Salons, Jugendstilstucks, geheimnisvoller Flure und Keller, wo es spukt… Und nicht selten kommen in den Aussagen der Siedler Geister vor, natürlich deutsche Geister. Diese mussten vertraut gemacht werden und gelegentlich auch mit den eigenen, polnischen, in Einklang gebracht werden. Bis heute hält die Faszination am post-deutschen Unheimlichen an, und Kuszyk begleitet in ihrem Buch sogar Schatzsucher, die in alten Stollen des NS-Untergrundprojekts „Riese“ unermüdlich nach versteckten Schätzen, etwa dem „goldenen Zug der Nazis“, suchen.

Während in den letzten Jahrzehnten viele wissenschaftliche Beiträge den ehemals deutschen Ostgebieten, den dortigen öffentlichen Gebäuden und Architekturzeugnissen, den Meilensteinen des technischen Fortschritts, auch bedeutenden deutschen Familien und Persönlichkeiten wie etwa den schlesischen Nobelpreisträgern gewidmet wurden, nimmt sich Kuszyk den eher unterbelichteten Aspekten und Gegenständen post-deutscher Realität an, denen man bis heute nur im privaten Raum begegnet. Die Autorin widmet einzelne Kapitel den ehemals deutschen Möbeln, dem Weck-Glas-Eingemachtem und den Konserven, Biedermeier-Gemälden und einfachen Heiligenbildern, schließlich Post- und Ansichtskarten, mit denen heute jede Stadt und jede Gemeinde in den Wiedergewonnenen Gebieten mithilfe von zweisprachigen Alben, die Postkarten „vor und nach“ dem Krieg zeigen, prahlt.

Das Buch ist komplex angelegt und umfangreich, doch es erschlägt den Leser nicht mit der Komplexität. Es beinhaltet auch u.a. eine Liste polnischer Rechtsvorschriften der frühen Nachkriegszeit, mit denen der neue Staat das poniemieckie Hab und Gut enteignet, sich aneignet und es den neuen polnischen Siedlern für einen Obolus zur Verfügung gestellt hat. Sie zeigt die Reaktionen der Siedler auf die in den neuen Gebieten vorgefundenen Verhältnisse, wo nicht selten das Gesetz des Stärkeren herrschte. Sie beschreibt die Wildwest-Methoden des Staates, aber auch die der Rotarmisten und der Parteifunktionäre, der gewieften Schmuggler und der sog. einfachen Menschen, die nicht selten die deutsche Bevölkerung brutal anpackten und alles, was ihr gehörte, wegnahmen. Kuszyk sieht darin die Methoden der deutschen Besatzung in Polen á rebours. Sie spart auch nicht mit deutschen Reaktionen auf die polnische Vorherrschaft, zeigt die Versklavung der Deutschen und ihre Ohnmacht in dem Moment, als sie alles zurücklassen müssen: die Wohnung, die vertraute Umgebung, den Kleiderschrank, die Familienandenken, manchmal die Würde selbst.

Beklemmend: Der Umgang mit den Friedhöfen

Der vielleicht beklemmendste Teil des Buches betrifft den Umgang mit ehemaligen deutschen Friedhöfen in Nachkriegspolen. Es gab mehr als 3.000 davon, nur wenige blieben bis heute bestehen, z.B. in Breslau kein einziger, wenn man von den zwei jüdischen Friedhöfen absieht. In Kuszyks Augen bleibt das ein Zeugnis, das am schwersten wiegt, da sich die Polen nicht einmal gegenüber den Toten der früheren Jahrhunderte gütig erwiesen haben. Ihre Gräber wurden eingestampft, in Grünanlagen umgewandelt, sogar in Freizeitparks mit Gaststätten und Stundenhotels, wie in Słubice. Und dies sind nicht die schlimmsten Beispiele für die Störung der Totenruhe und die Entwürdigung der ehemaligen Bewohner.

Und doch geschah, bei aller Unsicherheit, Feindschaft und Distanz zu der Vergangenheit dieser Gebiete, ein gewisses Wunder, ein Wunder der „Verständigung durch poniemieckie Gegenstände“, die alte und neue Bewohner verbinden. Dort, wo das Polentum noch lange als bedroht empfunden wurde, gerade dort – in Breslau, Grünberg, Stettin – verloren die Kinder und Enkel der Ansiedler nicht nur die Angst vor den Deutschen, sondern luden diese in deren ehemalige Wohnungen ein, boten ihnen Kaffee und Kuchen an, verweigerten nicht das Gespräch. Im Gegenteil – sie suchen das Gespräch mit den Deutschen, sogar über die schon erwähnten „schamhaften Geheimnisse“, die ihre Städte und Umgebung umhüllten, versuchten zu verstehen, zeigten Empathie, stellten sich offen und ohne Vorurteile der ehemals deutschen Realität. Ein großer Teil von ihnen spricht heute die Sprache des Nachbarn, denn (wie paradox!) gerade Deutsch wurde in ganz Niederschlesien in weiterführenden Schulen als 2. Fremdsprache unterrichtet, eine gute Voraussetzung für den Dialog. Aber sie bringen noch mehr – Interesse und Engagement für die deutsche Vergangenheit der neuen Heimat, es entstehen nun polnische „Heimat“-Vereine, die den Polen die Geschichte ihrer ehemals deutschen Gegend erzählen, und deutsch-polnische Gesellschaften, Kontakte mit ehemaligen Bewohnern werden geknüpft und gepflegt, sogar mit den (west)deutschen Vertriebenenverbänden.

An der Stelle fragt man sich, wie es wohl wäre, wenn man in die andere Richtung – nach Deutschland – schauen würde: Wieviel Interesse würde man heute dort für die alte Heimat der Vorfahren bei der dritten Generation der Vertriebenen noch vorfinden? Mit ihren Großvätern, den „Hupkas und Czajas“, schreckte man polnische Kinder in Liegnitz und Breslau der Nachkriegszeit, sie wurden als „Revanchisten“ und „Kriegstreiber“ verschrien, heute gibt es sie nicht mehr und ihre Nachfahren sind nur mäßig an Niederschlesien, Pommern, Ostpreußen und dem eigenen Familienstammbaum interessiert. Wie die Polen nach 1945 die Häuser und Wohnungen von allem poniemieckie zu befreiten suchten, so fallen nun die Andenken und Mitbringsel der Großväter und Großmütter den Entrümpelungsfirmen zum Opfer, kaum einer der Nachfahren interessiert sich für die vermeintlich wertlosen Gegenstände: die kitschigen Schutzengelbilder, die Schulzeugnisse aus Glatz (wo liegt das eigentlich, Glatz?), Eichendorffs Gedichtsammlung in alter Frakturschrift (wer kann das heute noch lesen?), eine dunkle Rübezahlplastik (wer war das?).

Faszinierendes Panorama der Nachkriegsgeschichte

Kuszyks Buch ist keine systematische Arbeit mit wissenschaftlichem Anspruch, dafür erwartet den Leser ein faszinierendes Panorama polnischer und deutsch-polnischer Nachkriegsgeschichte in Polens neuem Westen. Die Autorin stützt ihre Aussagen auf Literaturbeispiele, zitiert Aussagen aus den Tagebüchern der Ansiedler, aus Umfragen und Wettbewerbsarbeiten, die regionale Zeitungen, aber auch Einrichtungen wie das Westinstitut in Posen in den ersten Nachkriegsjahrzehnten veranstalteten. Kuszyk kennt auch die schöne Literatur, die sich an dem deutsch-polnischen Gegensatz in den Westgebieten reibt, die unbequeme Fragen stellt und bisher, seien wir ehrlich, nicht wirklich viele Leser gefunden hat. Und es lohnt sich, die Autoren zu lesen: Tomasz Różycki, Tadeusz Różewicz, Inga Iwasiów, Piotr Adamczyk.

Zum Schuss zwei Bemerkungen und ein Gedichtauszug: Kuszyk macht Hoffnung bei allem Leid, das im Buch vorkommt. Unbedingt lesenswert ist dabei das Kapitel über Engelsbilder, denn Schutzengel waren wohl am Werk, als die Autorin beschloss, der Spur von poniemieckie zu folgen, die zahlreichen Einzelgeschichten zu Häusern, Möbeln oder Parkanlagen zu recherchieren und das Schicksal des verlorenen, geringgeschätzten und später vertraut gemachten und heute sogar begehrten poniemieckie nachzuzeichnen. Spätestens nach dem Umbruch 1990, so die Autorin, hat die Mittelklasse in Polen den Wert des poniemieckie erkannt und zeigte sich für all das alte offen, weil sie „nicht mehr leben wollte an Orten, deren Geschichte sie nicht kannte“, so eine Lehrerstimme aus dem bekannten Film „Schlesiens wilder Westen“ von Ute Badura.

Kuszyks Buch ist wahrlich eine Pflichtlektüre für heute, lange überfällig. Aber deutsch-polnische Pflichtlektüre verpflichtet beide Seiten zum Lesen, das polnische Buch ist schon da, das Buch auf Deutsch wartet noch auf seinen Verleger.

Und nun das versprochene Fragment aus dem Gedicht „Totemy i koraliki“ (Totems und Korallen) von Tomasz Różycki („Kolonie“, 2006), in der Übersetzung von Bernhard Hartmann:

Alles bei mir war ehemals deutsch – deutsch war die Stadt,
deutsch waren die Wälder und deutsch waren die Gräber,
deutsch war einst die Wohnung, deutsch waren die Treppen,
die Uhr, der Schrank, der Teller, deutsch waren das Auto,

die Jacke wie auch das Glas, die Bäume, das Radio,
und ich errichtete mir auf genau diesem Plunder
ein Leben, auf diesen Resten werde ich herrschen,
werd’ sie verdauen, zersetzen, ich soll aus ihnen

ein Vaterland bauen [...]

 

Andrzej Kaluza, April 2020

Karolina Kuszyk: Poniemieckie. Wołowiec: Wydawnictwo Czarne 2019. 458 S.