20.05.2021 - Kultur, Gesellschaft , Erinnerungskultur, Geschichte, Politik

Karl Dedecius und Darmstadt

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Wenn wir Gäste im Deutschen Polen-Institut empfangen und ihnen die Geschichte des Instituts erzählen, gibt es am Ende fast immer die gleiche Frage: Wie ist es eigentlich dazu gekommen, dass das Deutsche Polen-Institut ausgerechnet in Darmstadt gegründet wurde. Die Antwort auf diese Frage ist nicht ganz einfach. Zunächst muss man erklären, welche Gründe es nicht waren: Es gab an der Technischen Hochschule Darmstadt keine Polonistik/Slavistik und es gab damals auch keine Partnerschaft mit einer Stadt oder einer Universität in Polen. Es gab eine Chopin-Gesellschaft, die 1970 als erste in der Bundesrepublik ihre Tätigkeit aufnahm, es gab polnische Komponisten, die an den Darmstädter Ferienkursen der Neuen Musik teilnahmen, es gab auch gemeinsame Ausstellungen polnischer und deutscher Künstler im Rahmen der Darmstädter Sezession. Aber all dies hätte wohl nicht ausgereicht, um ausgerechnet in Darmstadt ein Deutsches Polen-Institut zu gründen.

Feierliche Eroeffnung DPI

Feierliche Eröffnung des Deutschen Polen-Instituts am 11.3.1980 im Staatsarchiv Darmstadt. Karl Dedecius (2 v. l.) und Heinz Winfried Sabais (ganz rechts) (Quelle: DE)

 Es war etwas anderes, nämlich die persönliche Bekanntschaft und gegenseitige künstlerische Achtung zwischen dem Institutsgründer Karl Dedecius und dem damaligen Oberbürgermeister von Darmstadt Winfried Sabais. Die beiden hatten sich Anfang der 1950er Jahre in Weimar kennengelernt. Sabais war Thomas Mann nach Weimar gefolgt und arbeitete für ihn, Dedecius arbeitete als Übersetzer am dortigen Theaterinstitut. Beide gingen kurze Zeit später in den Westen, während Sabais eine steile kulturpolitische Karriere anstrebte, widmete sich Dedecius dem Übersetzen polnischer Literatur, beide verloren sich in dieser Zeit aber nicht aus den Augen.

Schon seit den späten 1960er Jahren hatte Karl Dedecius die Idee, in West-Deutschland ein Zentrum für Polenstudien zu gründen. Als 1977 das erste Deutsch-Polnische Forum in Bonn tagte, war auch Dedecius eingeladen. Dort stellte er sein Projekt der Gründung eines Polen-Instituts vor. Seine in vielen Jahren gereifte, gut ausgearbeitete Projektidee fand die Zustimmung der Teilnehmer dieses Forums. Immer wieder, zuletzt in seiner Biografie, verwies Dedecius mit spürbarem Stolz darauf, dass es das einzige Projekt dieses Forums war, das auch tatsächlich umgesetzt wurde. Es betraf konkret „die Gründung eines Instituts oder eines Lehrstuhls, der sich mit der Verbreitung der polnischen Literatur und der polnischen Gegenwartskunde befassen würde“. [1]

Dass es in Darmstadt seinen Sitz finden sollte, daran hat damals niemand gedacht. Zunächst dachte man eher an Mainz. Dort gab es an der Universität eine renommierte Slavistik mit polonistischen  Kompetenzen und es gab den nicht nur wissenschaftlich, sondern auch organisatorisch ausgewiesenen Ordinarius für Osteuropäische Geschichte mit dem Schwerpunkt Polen, Prof. Dr. Gotthold Rhode, der das Institut gerne nach Mainz geholt hätte. Aber es kam anders. Das lag an zwei Umständen. Erstens an der Darmstädter Tradition der Künstlerkolonie (1901), der es zu verdanken war, nach dem Motto „In Darmstadt wohnen die Künste“ bedeutende Schriftsteller in die Stadt zu holen. Karl Krolow, Arno Schmidt, Gabriele Wohmann und Renate Axt lebten hier um nur einige zu nennen. Zweitens an dem Umstand, dass just zu dieser Zeit die Ärztin Dr. Richtzenhain, die Eigentümerin des ehemalige Wohnhauses des Chefarchitekten der Darmstädter Jugendstilkolonie, Joseph Maria Olbrich, das sie seit der Nachkriegszeit bewohnte, der Stadt unter der Bedingung anbot, dass es für „wissenschaftlich-kulturellen und der Friedensarbeit dienendem Zweck“ genutzt würde. Also rief der Oberbürgermeister Sabais seinen Bekannten aus Weimarer Zeit und mittlerweile erfolgreichen Übersetzer und Herausgeber Karl Dedecius an und versuchte ihn zu einem Umzug nach Darmstadt zu überreden und somit das Darmstädter Kulturleben zu bereichern. Dedecius lehnte zunächst mit der Begründung ab, er hätte bereits im benachbarten Frankfurt ein Haus gekauft. Sogleich fügte er hinzu, dass er nach einem Domizil für ein neu zu begründendes Polen-Institut suche. Er kannte die Bedingungen der Spenderin und versicherte, dass alles, was ihr vorschwebe, in seinem Institut idealtypisch verwirklicht werden könne. Nach Verhandlungen mit der Stadt Darmstadt und den beiden Bundesländern Hessen und Rheinland-Pfalz, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll, konnte im Dezember 1979 der Verein „Deutsches Polen-Institut“ gegründet und am 11. März 1980 das Institut im Haus Olbrich feierlich eröffnet werden.[2] Sabais und die Stadt leisteten dabei auch wertvolle Unterstützung bei der Erarbeitung der Satzung, bei der Gründung des Vereins und bei der Einwerbung anderer Träger.[3]

Besuch bei dem Gründungsdirektor Karl Dedecius: Gräfin Dönhoff, Helmut Schmidt; Foto: Deutsches Polen-Institut

Dass Darmstadt Sitz des Instituts wurde, überraschte zunächst viele. Die erste Präsidentin des Institut, Zeit-Herausgeberin Marion Gräfin Dönhoff, meinte bei der Eröffnung des Instituts im Staatstheater: „Wieso Darmstadt? Warum nicht Hamburg, Köln oder München? … Ich kann Ihnen versichern, es gibt keine zweite Stadt in der Bundesrepublik, die mit derartiger Großzügigkeit, mit so viel Interesse und solcher Opferbereitschaft der Idee eines Deutschen Polen-Instituts zur Verwirklichung verholfen hätte… Das besondere an Darmstadt ist, dass die Bürger dieser Stadt bereit sind, Opfer auf sich zu nehmen, die nicht ihnen unmittelbar zugutekommen, sondern die von einem uns alle betreffenden höheren moralischen und kulturellen Aspekt her notwendig sind.“[4]

Ein anderer Gründungsdirektor hätte vermutlich den notwendigen Umbau eines Jugendstilhauses den Architekten und Denkmalschützern überlassen und sich auf seine literarisch-kulturellen Programme konzentriert. Nicht so Dedecius. Er nahm die Herausforderung an, sein Polen-Institut in einer „deutschen“ Jugendstilvilla einrichten zu dürfen (auch der Jugendstil hieß in Darmstadt zunächst „deutsche Kunst“). Er entdeckte, dass Olbrich im Jahr 1898 mit dem polnischen Maler und Dichter Stanisław Wyspiański in der Wiener Zeitschrift „Ver sacrum“ zusammengearbeitet hatte. Der eine gestaltete das Titelblatt mit dem Bild „Mutterschaft“, der andere lieferte ein Bäumchen als Flächendekoration. Kurzerhand schuf Dedecius daraus ein Plakat, das beide Elemente zusammenbrachte und betrachtete es als Beleg einer deutsch-polnischen Zusammenarbeit aus der Zeit des Jugendstils. Dieses von Dedecius geschaffene Plakat hing lange Zeit im Kaminzimmer des Hauses Olbrich und es zierte die ersten Publikationen des Instituts.

DSC18Die Ausstattung des Hauses  begleitete er akribisch, das Olbrich-Blau der Außenkacheln schmückte das Treppenhaus, eine erste Publikationsreihe wurde „Blaue Reihe“ genannt, selbst um die Beleuchtung kümmerte er sich und fand auf dem Trödelmarkt für eines der Zimmer eine original Jugendstilleuchte. Auch die übrige Ausstattung des Instituts von Schreibtischen bis zur Couch-Garnitur war Maßarbeit und entsprach nicht der DIN-Norm vergleichbarer Institute. In den ersten Jahresberichten sind die Spender genannt, die dies ermöglichten: die Robert Bosch Stiftung, die Allianz-Versicherung, Stiftung Volkswagenwerk sowie zahlreiche Firmen und Privatpersonen, viele davon aus Darmstadt. Das benachbarte Institut Mathildenhöhe konnte er überzeugen, dem Institut originale Möbel, darunter einen Olbrich-Flügel und mehrere Jugendstilbilder zur Verfügung zu stellen.

Olbrichhaus Bildergalerie; Foto: Deutsches Polen-Institut



[1] Andrzej Kaluza, Manfred Mack: Karl Dedecius und Darmstadt, in: Ilona Czechowska, Ernest Kuczyński (Hrsg.): Karl Dedecius: Inter Verba – Inter Gentes, Łódź 2021, S. 79-90

https://www.deutsches-polen-institut.de/politik/archiv-deutsch-polnisches-forum/

[2] Alfred Blumenfeld, Die Vorgeschichte, in: Fünfzehn Jahre Deutsches Polen-Institut Darmstadt, 1980-1995, Darmstadt 1995, S. 54-62

[3] Andreas Lawaty, Die Form des Instituts, in: Fünf Jahre Deutsches Polen-Institut, 1980-1985, S. 37

[4] Karl Dedecius, Das Deutsche Polen-Institut, in: Fünf Jahre Deutsches Polen-Institut, 1980-1985, S. 31