23.12.2022 - Geschichte, Kultur, Gesellschaft , Über Bücher

Kaluzas Pflichtlektüren: Nieswojość / Unheimisch. Gibt es in Niederschlesien schon wieder Niederschlesier?

Niwswojosc

„Meine Kindheit habe ich in einer Welt voller Geister verbracht. Es wäre nichts Besonderes dabei, denn das erlebten alle aus meiner Generation, Geister umkreisten uns jeden Tag“, schreibt Leszek Koczanowicz, ein nach dem Krieg in Niederschlesien geborener polnischer Philosoph. Es waren natürlich „deutsche Geister“, die die ehemaligen Bewohner von Hirschberg, Liegnitz, Schweidnitz, Breslau, Bad Warmbrunn und all den anderen niederschlesischen Orten sahen, die nach 1945 einen beinahe vollständigen Bevölkerungsaustausch erlebten. Die damals als „wiedergewonnen“ bezeichneten neuen polnischen Westgebiete fühlten sich „unheimisch“ an, als ob sich diese ständig in Versuchen übten, „Brüche und Dauerhaftigkeit“ zu vereinen, so Koczanowicz. Dass die Dauerhaftigkeit nun gebrochen war, diese Erfahrung wurde jetzt schon zwei oder gar drei Generationen in Niederschlesien zuteil, die sich erst einmal der Andersartigkeit ihrer „unheimischen“ Heimat bewusst werden mussten, um sie heute, nach beinahe 70 Jahren polnischer Präsenz, „heimisch“ nennen zu können. Dieses „Heimisch-Werden“ mit der mittlerweile vertrauten Landschaft und Architektur, die jedoch ihren Eltern und Großeltern nicht gehörten, bezeugen neben Koczanowicz auch andere Essayautorinnen und -autoren eines 2019 in Breslau von Agata Pankiewicz und Marian Przybyłko herausgegebenen Bildbandes.

NiwswojoscSo sucht der 1960 in Neurode (Nowa Ruda) geborene Lyriker und Literaturhistoriker Karol Maliszewski nach (s)einem Herkunftsort, der keine Brüche, sondern Geborgenheit im emotionalen wie intellektuellen Sinne bieten würde. Bewusst sucht er erst nach einer niederschlesisch-lokalen Verankerung, dann nach der regionalen, erst dann nennt er Polen sein Vaterland. Was sich für die Ansiedler-Generation als fremd anfühlte, blieb lange Zeit auch noch für deren Kinder und Kindeskinder „poniemieckie“ (ehemals deutsch) –ein deutsches, ungewolltes Erbe, das der Abschaffung, der Vernichtung, im besten Fall der Vergessenheit preisgegeben werden sollte. Heute suchen die neuen Generationen nach dem ideellen wie materiellen Erbe jener Deutschen, die es nicht mehr gibt. Maliszewski als polnischer Intellektueller stellt fest, dass die Menschen, die im heutigen Niederschlesien sich in der polnischen Kultur und Literatur wiederfinden (prominent vertreten durch Olga Tokarczuk, Joanna Bator, Marek Krajewski), schon früher einmal in der deutschsprachigen Dichtung ihren Niederschlag gefunden hatten. Das lehre Toleranz, Offenheit und schaffe jene Grenzvorstellungen ab, denn „unser genius loci ist von Grund auf Deutsch. Lange konnte ich das nicht begreifen“, so Maliszewski, „aber als mir das klar wurde, suchte ich nach dessen Spuren und hatte Schwierigkeiten, denn man hat diese vorher sorgfältig beseitigt“. Der Dichter Maliszewski versteht sich als Verwahrer des deutschen geistigen Erbes, ein im gewissen Sinne gebrechlicher Verwahrer, spreche er doch nicht einmal ordentlich Deutsch, trage keine regionale Tracht, kenne die lokalen Tänze nicht und habe keine Ahnung vom hiesigen Akzent. Und dennoch hat er keinen Zweifel: „Ich bin ein Niederschlesier aus dem Süden. Aus den Sudeten“. Wenn man sich allerdings den anderen Aussagen im Buch nähert, die eigentlich einen Bildband (und eine fotografische Ausstellung) begleiten, stellt man fest, dass die Identitätsfrage für das intellektuelle Selbstverständnis dieser Region immer wichtiger wird.

001So schreibt Olga Tokarczuk, dass die heutige Niederschlesierin oder der heutige Niederschlesier, die oder der in einem „uneindeutigen Raum“ groß geworden ist, ein offener Mensch sein müsse, der die Wirklichkeit differenziert betrachte, denn er würde in sich die „Augen eines Ankömmlings“ mit den Erfahrungen „eines Vertriebenen“ vereinen. Sie schlägt vor, sich heute Gedanken darüber zu machen, was dieses Land, vor allem aber seine neuen Bewohner dort ausmache und sieht darin eine „fest verankerte Gemeinschaft“, die sich immer mehr ihrer regionalen Besonderheit bewusst werde und gleichzeitig das Erbe der „alten Heimat“, also der familiären Herkunft in Ost- oder Zentralpolen, nicht vergisst. Sie stellt in ihrem Beitrag eine ganze Liste an Postulaten vor, was den Niederschlesier / die Niederschlesierin von heute kennzeichne: Gastfreundschaft, Offenheit, zivilgesellschaftliches Engagement, Selbstwertgefühl in Verbindung mit europäischer, vor allem deutscher Kulturlandschaft, damit er oder sie die materielle Kultur der Region als „heimisch“ („unsere, meine, gemeinsame“) bezeichnen könne, und viele andere.

Es wäre wünschenswert, wenn die deutsche Öffentlichkeit diese identitätsstiftende Entwicklung registrieren, anerkennen und nach Möglichkeit annehmen würde, denn nur so kann Niederschlesien zu einer echten Brücke in Europa werden. Tokarczuks, Koczanowiczs und Maliszewskis Bekenntnis ist kein Sonderfall und verlangt nach einer vertieften Auseinandersetzung und Antwort ehemaliger und gegenwärtiger, deutscher und polnischer Niederschlesier, denn das, womit wir es hier zu tun haben, ist die Entstehung einer neuen polnischen, aber mit der ehemals deutschen symbiotisch verwobenen regionalen niederschlesischen Identität. Noch ist sie auf intellektuelle Kreise beschränkt, aber sie hat jetzt schon wichtige Stützpunkte für sich eingenommen und wird immer mehr wahrgenommen. Dieser hier artikulierte Regionalismus, der Elemente deutscher Vergangenheit mit polnischer Gegenwart in sich vereint, wird möglicherweise von polnischen „Zentralisten“ in Warschau, aber auch deutschen Vertriebenen aus Niederschlesien mit Erstaunen zur Kenntnis genommen, dennoch ist er gegenwärtig und verlangt nach einer Antwort. Es wäre hilfreich, die Stimmen aus dem heutigen Niederschlesien in deutschen intellektuellen Debatten zu vernehmen. Es sind ganze Generationen, die Jahrzehnte nach der Vertreibung das deutsche Erbe vor Ort hegen und pflegen, deutsche philosophische, theologische, literarische oder einfach nur touristische Pfade für sich entdecken, sich mit ihnen auseinandersetzen, sie weiterentwickeln. Und das tun sie mit Elan und Neugier, zwei weitere niederschlesische Merkmale, denn all die lokalhistorischen und lokalkulturellen Initiativen aufzuzählen, würde den Rahmen dieser kurzen Besprechung sprengen.

large poniemieckie oklDeutsche, für die Niederschlesien heute immer noch eine faszinierende intellektuelle Heimat oder ein einfach nur ein erinnerter Herkunftsort ist, sollten sich mit dem polnischen Interesse an dieser Landschaft befassen und die ausgestreckte Hand annehmen, damit Niederschlesien zum wahren Begegnungsort wird und im Dialog weiterentwickelt wird. Bisher sind deutsche Stimmen in der Hinsicht rar, auch in dem Buch sind sie nicht zu vernehmen. In diesem Sinne ist „Nieswojość“ neben „Poniemieckie“ von Karolina Kuszyk[1] eine weitere niederschlesische Pflichtlektüre, die nach Möglichkeit schnell dem deutschen Leser zugänglich gemacht werden sollte. Und dann könnte man sich einen weiteren Band mit deutschen und polnischen Beiträgen wünschen, die ein Ergebnis dieses regionalen Dialogs sein mögen.

 

 

Marcin Przybyłko, Agata Pankiewicz: Nieswojość, Wrocław 2019
https://wydawnictwowarstwy.pl/ksiegarnia/86-nieswojosc-9788365502872.html

Ausstellung 2021: NIESWOJOść / UNHEIMISCH. Schlesien heute im Bild. Mit Fotografien von Agata Pankiewicz und Marcin Przybyłko (PL)
https://fotoforumdresden.de/archiv-2021-unheimisch-nieswojosc-agata-pankiewicz-marcin-przybylko-pl/



[1] Karolina Kuszyk: In den Häusern der anderen. Spuren deutscher Vergangenheit in Westpolen, Berlin 2022