14.08.2023 - Gesellschaft , Geschichte, Kultur, Über Bücher
Kaluzas Pflichtlektüren: Das Buch vom (Nicht)Vergessen. Die drei Leben der Irena Gelblum von Remigiusz Grzela
Im März 2023 fand ich das Buch in der Post. Der Herausgeber schrieb, dass es zum 80. Jahrestag des Warschauer Gettoaufstands von 1943 erscheint, eine Auftragsarbeit aus gegebenem Anlass vielleicht? Das Buch war dick und schwer, der Klappentext sprach von einer „geheimnisvollen und schwer zu fassenden“ Persönlichkeit. Ich legte das Buch zunächst auf meinen „zum Erledigen“-Stapel, denn die 500 Seiten schluckt man nicht an einem Nachmittag. An diesem Text habe ich also lange geschrieben, das Buch immer wieder angelesen, weggelegt, dann wieder vom Neuen angefangen. Marek Edelman, einer der Befehlshaber beim Gettoaufstand, wird im Motto des Buches zitiert – die Biografie der Protagonistin sei „Stoff genug für einen Sensationsroman“. Und tatsächlich bestätigt das Buch die geläufige Wahrheit, dass die besten Geschichten das Leben selbst schreibt, denn auch Hollywood würde dieses Drehbuch nicht spannender, widersprüchlicher, tragischer erdenken können. Drei Leben bescheinigt der renommierte Autor Remigiusz Grzela der sich als italienische Lyrikerin ausgebenden Irena Conti di Mauro, die er jahrelang persönlich kannte und als Autorin schätzte. Erst später erfuhr er von der Mystifikation, die nur wenigen Eingeweihten bekannt war, die aber Irenas Entscheidung, die Vergangenheit radikal hinter sich zu lassen, respektierten. Denn sie setzte alles daran, ihrer jüdischen Familie, den Verwandten und Bekannten zu entsagen und baute neue Identitäten auf. Grzela stellt uns die drei Gesichter von Irena vor – als jüdische Kämpferin Irena Gelblum, als polnische Journalistin Irena Waniewicz und als italienische Lyrikerin Irena Conti di Mauro. Die im Buch zu Sprache kommenden Stimmen von Irenas Freunden und Wegbegleitern vermitteln den Eindruck, dass es möglicherweise noch weitere Identitäten gab.
Entmystifizierung einer Heldin
Remigiusz Grzela, Autor mehrerer Biografien, Lyriker, Publizist und literarischer Leiter am Jüdischen Theater in Warschau, publizierte bereits 2014 die Biografie „Irenas Wahl“ (Wybór Ireny), die aber wegen eines gegen seinen Verlag angestrengten Prozesses nicht erscheinen bzw. nicht verkauft werden durfte. Der Grund waren einige dort veröffentlichen Briefe, deren Absender Simcha Rotem (Kazik) mit ihrer Publikation nicht einverstanden war. Auch das vorliegende Buch, so Grzela, sei eine Gratwanderung, denn es entlarvt Irenas zahlreiche und langjährige Versuche, über ihre Vergangenheit zu schweigen, alten Bekannten zu entsagen, ja allem zu widersprechen, was sie mit dem Krieg und mit ihrer jüdischen Herkunft in Verbindung gebracht hätte. Nur ganz wenige Freunde wussten, wer sie wirklich war. Und Grzela ist nicht der erste, der es wagte, davon öffentlich zu sprechen. Während sein Buch nicht verkauft werden durfte, erschien 2014 in einer Beilage zur „Gazeta Wyborcza“ ein Gespräch mit Marek Edelman, der die wahre Identität der damals als polnisch-italienischen Poetin wahrgenommenen Irena Conti di Mauro als jüdische Heldin enttarnte. Aber welche Identität war wirklich „wahr“? Durfte Edelmann, eine Galionsfigur des jüdischen Widerstandes, der Solidarność-Bewegung und landesweit anerkannte Autorität das tun? Auch Grzela fragt sich, ob er das Recht habe, an der Dekonstruktion von Irenas Mystifikationsversuchen mitzuwirken. Er tut es, nicht nur um zu verstehen, warum sie wann welche Entscheidungen traf, sondern um eine tragische Persönlichkeit zu porträtieren, die es verdient, nicht vergessen zu werden. Übrigens: 2019 wurde im Zentrum Warschaus eine Wandmalerei mit neun jüdischen Kämpferinnen am Eingang zu einer Metrostation angebracht, eine von ihnen ist Irena.
Es ist keine einfache Aufgabe, den roten Faden im Buch nicht zu verlieren – weder für den Leser noch für den Autor, bleibt die Protagonistin dieses Buches doch immer in Bewegung, mal in die eine, mal in die andere Richtung, mal verschwindet sie ganz, stellt sich stumm. Grzela wagt nun ein riskantes Unterfangen mit den Lebensstationen der Protagonistin. Seine Annahmen, Thesen, Rechtfertigungen untermauert er durch Aussagen von Freunden und Bekannten Irenas, manch einen Strang, der zufällig erscheinen mag, führt er gekonnt fort, vertieft, um den Kontext von Irenas Entscheidungen zu erklären. Denn über allem schwebt der Wille zum Verdrängen, zum Vergessen, zur Nichtexistenz. Nach dem Krieg bestritt Irena, die jüdische Kämpferin gewesen zu sein, die alle kannten: Mitstreiter in Getto wie Marek Edelman, Kazik Ratajzer, Cywia Lubetkin, Antek Cukierman. Sie mied Kontakte mit jedem, der sie mit Juden oder mit dem Getto in Verbindung bringen konnte. Sie ließ alles ändern, den Namen, das Geburtsjahr, die Nationalität, selbst die Stimme. Wie in einem Sensationsroman entfaltet der Autor die immer wieder neuen Bilder ihrer Identität.
Verbindungsfrau im Untergrund
Remigiusz Grzela: „Der Biograf kann nur Ärger verspüren, wenn er jahrelang keine Spuren finden kann. Ich weiß nicht, was mit Irena los war, außer, dass sie mit Eltern und Bruder ins Getto kam. Sie erscheint 1943 als eine der Jungen und Mutigen, die (…) beschlossen haben, in den Untergrund zu gehen und Widerstand zu leisten“ (91). Wer Irena vorher war – das weiß der Autor nicht genau, er kann niemand mehr fragen. Das Geburtsdatum ist nicht sicher, wahrscheinlich 1923 (in vielen Dokumenten machte sie sich jünger und gab 1925, 1931 ja sogar 1939 an!). Verbürgt ist ihre bürgerliche Herkunft, ihr Großvater Wolf Kronenberg war Kaufmann und Landbesitzer, dem u.a. ein bekanntes Mietshaus in der Złota-Str. in Warschau gehörte („Pekin“ genannt, heute „Kamienica Wolfa Kronenberga“). Grzela fragt zunächst nach der Motivation der jungen Menschen, die sich für den Kampf entschlossen haben. Er findet Irena auf einem Foto aus den späten 1930er Jahren, wo sie Ferien in einem jüdischen Sanatorium bei Warschau verbringt. Auf dem Bild ist auch der junge Marek Edelman zu sehen, es handelt sich wahrscheinlich um ein Ferienlager der sozialistischen BUND-Jugend. Viele der späteren Angehörigen der Jüdischen Kampforganisation (Żydowska Organizacja Bojowa, ŻOB) waren vor dem Krieg in linken jüdischen Jugendorganisationen sozialisiert. Es kann sein, dass diese Kontakte für Irenas Entscheidung, in den Widerstand zu gehen, daher rührten. Sie kam 1943 aus dem Getto heraus, um der ŻOB auf der anderen Mauerseite zu dienen: Geld beschaffen, Verstecke organisieren, Kontakte pflegen, Nachrichten überbringen. Edelman nannte sie „Irre Irka“ wegen ihres Mutes und wegen ihres irren Glücks bei den zahlreichen Aktionen. Kazik, ihr damaliger Freund: „Nach dem Getto-Aufstand hatten wir wenig Menschen zur Verfügung (…) Eine Frau konnte sich einfacher bewegen als ein Mann. Zu Frauen pflegte man einen anderen Umgang. Selbstverständlich zu Polinnen, darunter auch zu Jüdinnen, die sich als Polinnen ausgaben“ (103). Im November 1943 erfährt Irena vom Tod ihrer Eltern und ihres Bruders Władek, ihre Welt bricht zusammen. Auf einem Foto von Władek steht ein Datum, ein möglicher Todestag, aber es gibt keine gesicherten Daten, nicht einmal, dass Irena einen Bruder hatte. Handschrift auf der Rückseite: „Ich liebe nur euch und niemand mehr. Und wenn ich sage, dass ich zu jemand anderem Gefühle hege, lüge ich“. (181) Irena ist von nun an bereit, sich aktiv am Widerstand zu beteiligen, ja sich zu rächen.
Was bedeutete eigentlich „Verbindungsfrau“? Das Wort beinhaltete „Gefahrgut“-Transporte von illegalen Waffen, Menschen, Dokumenten. Edelman nannte sie irre. Im Zugteil „Nur für Deutsche“ gab sie sich mehrmals als Deutsche aus, einmal schlief an einem Offiziersarm ein. Sie ging über die grüne Grenze nach Będzin, damals im Deutschen Reich, befreite dort nach einer abenteuerlichen Aktion eine Mitstreiterin aus einem Arbeitslager. Sie hielt Kontakt zu Widerständlern in Krakau, Lublin, Tschenstochau. Im Warschauer Aufstand (1944) entkam sie um Haaresbereite dem Tod, als sie in einem Himmelfahrtskommando das Organisationsarchiv aus einem von der ŻOB aufgegebenem Versteck holen sollte. War das „irre“ genug? Aber das sind Aussagen von anderen, denn Irena spricht nicht, verdrängt, streitet ab. Grzela sagt, dass Biografien dieser Generation sich „wie Schlingen winden“. Einzelne Aussagen klären nicht auf, vielmehr verdunkeln sie das Bild, verknoten, verwirren. Irena löschte ihre eigenen Spuren. Die Zeit lief zu ihren Gunsten, als die Kriegsereignisse zurücktraten, viele Verfasser sich nur lückenhaft erinnerten und Zeugen langsam verschwanden.
Nachkriegsturbulenzen
Nach dem Krieg nähern sich Irena und Kazik zeitweise den Ansichten Aba Kowners (Partisan aus Wilna) an, des Anführers der jüdischen „Rächer“, einer Geheimorganisation, die plante, Millionen Deutsche nach dem Krieg zu vergiften. Beide wurden 1945 in Bukarest geschult, Rache an Deutschen zu üben. Kurz darauf verlassen sie jedoch Europa und begeben sich auf der „Norsyd“ von Marseille nach Haifa. Die Welt kennt die Geschichte der „Exodus“ von Uri Orlev, aber kaum jemand kennt die Geschichte der „Bria“, eines türkischen Kohlefrachters, der von verzweifelten Juden auf hoher See gekidnappt wurde. Irena war keine Zionistin, es gibt keinen Bericht, der erklärt, warum Irena die Reise auf sich nimmt und in einem Internierungslager landet. Später lebt sie in einem Pionierhaus für unverheiratete Frauen in Haifa, Kazik findet eine Bleibe in Tel Aviv. Aber da waren sie nicht mehr zusammen, Irena verliebte sich mehrere Male, noch mehr „Kandidaten“ verliebten sich in sie. Es ist eine Zeit des Aufbruchs, in der viele Familien in Palästina, später Israel, gegründet werden. Irena kann sich nicht entscheiden, 1946 geht sie überraschenderweise nach Polen zurück.
Nach der Rückkehr geht es ihr schlecht. Der englische Offizier, der ihr angeblich folgen sollte, meldet sich nicht, sie selbst wird von körperlichen Schwächen und psychischen Depressionen geplagt, gleichzeitig studiert sie Medizin und arbeitet als Stewardess. Bald darauf lernt sie Ignacy Weinberg kennen, einen Mann, der den Krieg im sowjetischen Mittelasien überlebte und der sich nun als linientreuer Journalist am Aufbau der sozialistischen Gesellschaft beteiligt. Er sah gut aus und vermochte es, Irena zeitweise aus ihren Traumata herauszuziehen. 1950 heiraten sie, aber bevor sie es tun, rät Irena Ignacy, den Nachnamen zu wechseln. Aus Vorsicht, als Schutz vor Antisemitismus? Sie selbst trägt nach der Rückkehr den gefälschten Geburtsnamen „Conti“, auch ihr Geburtsdatum lässt sie ändern, die Warschauer Standesamtsakten sind vernichtet, keiner kann das nachprüfen.
Nach der Heirat heißt sie Irena Waniewicz, ein Jahr später kommt ihre Tochter Janka zur Welt. Es war keine Liebesheirat, aber Irena und Ignacy sind lange ein Paar und bleiben es auch nach Scheidung und Emigration in Kontakt. Irena leidet oft an Depressionen (bleibt tagelang in stillen und dunklen Zimmern), ihre gesamte Familie bis auf eine Tante und zwei Kusinen war tot, sie pflegt mit ihnen wenig Kontakt. Sie trug in sich nicht nur die Kriegsereignisse und -traumata, auch der Palästina-Aufenthalt blieb eine Belastung, nun kam ein Leben im entbehrungsreichen stalinistischen Polen dazu. Anders als ihr Mann war Irena keine Kommunistin, sie bricht das Medizinstudium ab und arbeitet als Journalistin in der Redaktion von „Nowa Wieś“ („Das neue Dorf“), wo ihre beste Freundin Irena Rybczyńska-Holland Chefredakteurin ist. In dieser Zeit hat Irena viele Liebschaften, darf nach dem „Tauwetter“ nach Italien und Frankreich reisen, von wo sie leidenschaftlich für die polnische Presse berichtet und ersehnte Modeartikel nach Warschau bringt.
Sie arbeitet gewissenhaft an ihrem Image – hochgewachsen, elegant und eloquent (sie spricht mehrere Sprachen), von Kollegen und Mitarbeitern geschätzt, wirkt sie aber auch oft auf sich bezogen, kühl, unnahbar. Selten gibt sie etwas von sich preis und das niemals öffentlich. Nur einmal spricht sie ungezwungen im Rundfunkstudio von ihrer Tätigkeit als Verbindungsfrau, als ihre „Verwandlung“ noch nicht vollständig vollzogen war. Sie weiß bei dem Gespräch nichts von einem heimlichen Mitschnitt, die Sendung wird nicht gesendet. In dieser Zeit erscheinen Memoiren von Irenas Mitstreitern wie Marek Edelman, Władka Meed, Basia Bermanowa-Temkin, Helena Balicka-Kozłowska, aber sie distanziert sich immer mehr von diesem Milieu, nimmt nicht an ihren Treffen teil, unterhält keine Beziehungen mit Ausnahme Marek Edelmans und Kaziks. Für Tochter Janka hat sie nur wenig Zeit und Aufmerksamkeit, oft schickt sie sie zu Nachbarn und Freunden, ihre Identität verrät sie ihr spät und nicht freiwillig. Im Jahr 1968, als in Polen eine antisemitische Hetze losbricht, verliert sie ihren Job, ihr geschiedener Mann Ignacy emigriert nach Frankreich, dann nach Kanada. Viele ihrer Bekannten verlassen das Land, es herrscht Pogromstimmung. Irena hat wie so oft einen anderen Plan: Sie heiratet einen italienischen Korrespondenten Namens Antonio di Mauro und geht mit polnischem Pass nach Italien, während die meisten „März“-Emigranten rücksichtslos aus der polnischen Staatsbürgerschaft entlassen werden. Dabei verliebt sie sich kurz vor ihrer Abreise in einen polnischen Passbeamten, mit dem sie ein neues Leben plant. Das ermöglichen ihr die schnelle Scheidung vom untröstlichen Antonio und den polnischen Vorzugs-Pass, der es ihr erlaubt, Warschau regelmäßig zu besuchen. Stefan R., der Passbeamte, bleibt die nächsten 40 Jahre ihre wichtigste, aber nicht die einzige Beziehung. Auch er wagte es nicht, seine Frau und Kinder für Irena aufzugeben.
Doppelleben zwischen Sizilien und Warschau
Irena baut sich parallel – in Italien und in Warschau – eine Doppelexistenz im Bereich der Literatur auf: zunächst als italienisch-polnische Lyrikerin, dann auch als Übersetzerin und Beraterin italienischer Verlage und Politik. Für ihre Arbeit erhält sie Preise, sie lernt Schriftsteller wie Jarosław Iwaszkiewicz, Tadeusz Różewicz oder Pater Jan Twardowski kennen, deren Lyrik sie übersetzt und die sie auf Italien-Reisen begleitet, persönlich fühlt sie sich zu Sizilien hingezogen. In Polen gibt sie eigene Lyrikbände heraus und hat Erfolg, reist zu Lesungen und genießt ihren Ruhm in der polnischen Provinz. Vom vorherigen Leben keine Spur, jetzt ist sie eine „in Polen lebende italienische Lyrikerin“, bisweilen auch eine italienische „Comtesse“, mit der Zeit hält sie sich für eine waschechte Sizilianerin. Im Warschauer Nobelviertel Konstancin baut sie eine Villa, dabei übernimmt sie sich finanziell, was auf Kosten ihrer Gesundheit geht.
Grzela verliert im Laufe seiner Erzählung den Glauben, Irena fassen zu können, immer wieder trifft er auf Menschen, die Irena kannten, deren Aussagen aber wenig Licht auf die Motive werfen, die eine solche innere Verwandlung rechtfertigen würden. Tochter Janka meint, sie habe Irenas persönlichen Entscheidungen nie folgen können. Das Verhältnis zur Mutter war durch Scheidung, Emigration und „Abschiebung“ ins Internat belastet, später durch Irenas Eifersucht und Besitzergreifung. In der Folge mied Janka ihre Mutter und deren Liebhaber. Zygmunt Warman, Irenas Wegbegleiter aus dem Getto: „Kein einziges Mal begegnete ich jemandem, der seiner Geschichte vollkommen entsagte, diese verheimlichte oder seine Herkunft ganz leugnete. Niemand außer Irena. Hatte sie Angst nach dem Krieg?“ (478). Viele konnten nicht verstehen, warum Irena aus Palästina nach Polen zurückkehrte. Ihre Familie war tot, Überlebende gingen in die andere Richtung, wollten in Polen nach dem Krieg und dem Kielce-Pogrom nicht bleiben. Vielleicht ereignete sich damals etwas, wovor sie aus Palästina fliehen wollte oder gar musste?
Agnieszka Holland, Filmregisseurin und Tochter von Irena Rybczyńska-Holland: „Wollte ich einen Film über sie drehen, wäre das eine Geschichte über die Flucht vor der Wirklichkeit, die nicht zu ertragen ist. In ‘Hitlerjunge Salomon‘ passt sich der Held den Gegebenheiten an. Immer wieder neue Masken anzuziehen, das wirkt anziehend. Das ist die Geschichte eines der vielen Chamäleons im Krieg. Allerdings war Irena ganz anders, sie bewegte sich konträr zur Wirklichkeit, war mit ihr nicht einverstanden, wollte sie aufheben, um die Kontrolle über sie nicht zu verlieren. So rannte sie gegen die Wand“ (495). Hollands Schwester Magdalena Łazarkiewicz: „Sie hatte einen Mut an der Grenze zur Selbstaufgabe. Ich weiß, dass sie dazu ihre Weiblichkeit benutzte. Für mich ist es klar, dass man für so etwas den höchsten Preis zahlt. Sie zahlte es mit späteren Identitäten, das verstehe ich sogar. Aber ich verstehe nicht, warum sie einer solch rühmlichen Karte entsagte“ (498). Stefan R., der Passbeamte im Ruhestand, sagt dem Autor vor einiger Zeit, er habe Irena nie gefragt, weder nach dem Alter noch nach ihrer Herkunft, von dem Namen Gelblum erfuhr er nach ihrem Tode: „Für mich war Irena fest da, die Umstände um sie herum waren es nicht.“ (516).
Das Buch verdient es, in andere Sprachen übersetzt zu werden, gerne würde ich es in deutscher Übersetzung sehen, denn Irenas Leben entzieht sich überkommenen Lebenserzählungen vom Krieg, Okkupation und Widerstand. Ein ähnliches Schicksal von „einer Protagonistin, die die Nichtexistenz“ wählte, so der Untertitel des Buches, kenne ich nicht. Grzela hat recht: Auch wenn Irena nicht erinnern wollte, ist sie es wert, in Erinnerung zu bleiben.
Remigiusz Grzela, Trzy życia Ireny Gelblum. Mit einer Einführung von Norman Davies, Warszawa 2023, 540 S., zahlreiche Abb., siehe auch: https://www.bellona.pl/tytul/trzy-zycia-ireny-gelblum