15.11.2020 - Geschichte, Politik

Gdańsk, ein Lehrstück in Sachen Freiheit. Zum 100. Gründungstag der Freien Stadt Danzig

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Stadtluft macht frei? Gdańsk kann ein Lied davon singen, eine Stadt, die sich heute gerne mit der Bezeichnung „Stadt der Freiheit“ schmückt. Ein Lied davon singen kann aber auch Danzig, das einst „Freie Stadt“ war. Vor 100 Jahren, am 15. November 1920, wurde dieses eigenartige Staatswesen offiziell gegründet. Damals wie heute ist die Freiheit umstritten, wird sie bestritten, war sie Schlagwort, aber nicht immer Realität. Von ihr zu sprechen, war und ist eine Provokation.

Sir Edward Strutt, der Vertreter des Völkerbundes, hatte sich an diesem 15. November vor 100 Jahren in den großen, mit schwerem Holzgestühl und Historiengemälden ausgestatteten Sitzungssaal des einstigen Landeshauses begeben, das die mittlerweile aufgelöste Provinz Westpreußen sich Jahrzehnte zuvor im Neo-Renaissancestil errichtet hatte. Er trat ans Pult und sprach nach kurzer Rede die geschichtsträchtigen Worte: „Hiermit erkläre ich feierlichst die Stadt Danzig und das sie umgebende Gebiet mit dem heutigen Tage zur Freien Stadt.“

Seit Monaten hatte hier im Saal die Verfassunggebende Versammlung getagt, die eine von den wenigsten Mitgliedern des Hauses erwünschte Aufgabe hatte: Zur Umsetzung der Bestimmungen des Versailler Vertrags beizutragen, der den Zank zwischen Polen und Deutschland um die staatliche Zugehörigkeit Danzigs mit einem, wie es schien, salomonischen Urteil entschieden hatte. Doch weder Deutsche noch Polen waren mit der Schaffung einer „Freien Stadt“  glücklich, denn das zu weit mehr als 90 Prozent von deutschsprachigen Menschen bewohnte Staatsgebiet war künstlich aus Westpreußen herausgeschnitten worden und selbst die Sozialdemokraten konnten sich eine Existenz außerhalb Deutschlands kaum vorstellen. In ihrer lokalen Tageszeitung hieß es, nunmehr sei Danzig der „Willkür“ der Macht Polen überantwortet, „mit deren Staatsdasein, Wirtschaftsleben, Kultur und Sprache sich Danzigs Bevölkerung nicht verbunden fühlt“. 

Tatsächlich, man wusste schlicht nichts über das Land, das Ende 1918 neu entstanden war, ja man interessierte sich noch nicht einmal dafür. Damit standen die Eliten Danzigs nicht alleine, denn so verhielt es sich mit nahezu der gesamten deutschen Öffentlichkeit. Und nun sollte dieses lange geringgeschätzte Polen also mitbestimmen über Danzig, seine Außenpolitik vertreten, seinen Hafen mitverwalten, seine Eisenbahn betreiben? Aber auch für Polen war das alles andere als befriedigend, denn warum sich für eine Stadt und ihr bäuerliches Umland einsetzen, die ihm so fremd gegenüberstand? Für eine Stadt, die man eigentlich gerne ganz für sich gewonnen hätte?

 

Stolz auf Danzig?

 „Freie Stadt“ – schlecht klang das nicht. Ja wirklich, man konnte schon ein wenig stolz sein auf das neue Staatswesen mit eigener Flagge – zwei weiße Kreuze und eine goldene Krone auf rotem Feld –, mit Regierung, Briefmarken, Staatsempfängen, einer eigenen Währung und feierlichen Besuchen fremder Kriegsschiffe. Und schließlich auch mit einer eigenen Hymne, denn irgendetwas musste die Kapelle der Schutzpolizei – übernommen von den abgezogenen preußischen Regimentern – ja spielen, wenn fremde Kreuzer in den Hafen einliefen. Der Text dieser Hymne zeigt sehr gut, wie unfrei die Freie Stadt in Wahrheit war. In ihrer dritten Strophe heißt es: „Das ist die Stadt, wo deutsche Art / Voll Kraft und Mut ihr Gut bewahrt. / Wo deutsch die Glocken werben, / Und deutsch ein jeder Stein.“ Von dieser trotzigen Bekundung ihrer deutschen Identität konnte sich die lokale Gesellschaft kaum lösen. Die gedanklichen Mauern zu Polen waren hoch, sehr hoch.

Briefmarke Danzig

Briefmarke der Freien Stadt Danzig

Eine Chance darauf, hieran etwas zu ändern, hätte es nur dann gegeben, wenn sich die Freie Stadt wirtschaftlich und kulturell bombastisch entwickelt hätte, wenn man sich nicht nur auf seine Flagge, sondern auch auf Wohlstand und internationale Anziehungskraft etwas hätte einbilden können. Doch weder das eine noch das andere war der Fall. Nach einem kurzen Strohfeuer in der Inflationszeit, als Danzig zum Mekka von Devisenschiebern und Währungsspekulanten wurde, musste sich das Staatswesen durchweg mit großen wirtschaftlichen Problemen herumschlagen. Das deutsche Militär war als Standortfaktor – und Auftraggeber für die Werften – entfallen, Industrie und Handel waren durch eine Zollgrenze von Deutschland und durch viel zu hohe Löhne von Polen getrennt. Ohne offene und versteckte Subventionen aus dem Reich und Anleihen an den internationalen Kapitalmärkten wäre der Danziger Staatshaushalt mehrmals zusammengebrochen.

Auch künstlerisch hatte Danzig, außer seinem altertümlichen Stadtbild und dem Ruhm längst vergangener Zeiten, nicht viel zu bieten. Gut, nördlich von Warschau, westlich von Königsberg und östlich von Berlin, Posen und Stettin gab es kein vergleichbares Zentrum, mit einem Stadttheater, mit den sommerlichen Wagner-Festspielen im Wald bei Zoppot, mit vielen Vereinen, wie sie die Bürgerstadt der Zeit eben so kannte. Aber kaum ein künstlerisches Talent hielt es in der Stadt. Sie kamen nur zu Besuch, wenn man sie rief, und schrieben Gelegenheitsgedichte über die Stadt am Ostseestrand, geigten in den mäßig besuchten Symphoniekonzerten, warfen den Backsteinkoloss der Marienkirche oder das pittoreske Krantor mit Ölfarben auf die Leinwand. Die einzige Funktion, die Danzig im kulturellen Kosmos Deutschlands noch einnahm, war jene der „Trutzburg des Deutschtums im Osten“. Und in Polen glomm nur ein schwacher Hoffnungsschimmer, vielleicht doch noch einmal Fuß fassen zu können in dieser letztlich fremden Stadt.

 

Danzig und Gdańsk – die unfreie Stadt

Es kam der Würgegriff der Nazi-Zeit, wegen des Völkerbundes zwar einige Jahre lang weniger brutal als im Reich, aber das Adjektiv „frei“ im Namen der Stadt musste Juden, Polen oder Sozialdemokraten zunehmend wie ein Hohn vorkommen. Dann folgte der 1. September 1939, Hitler-Deutschland brach mit dem Angriff auf das polnische Munitionsdurchgangslager auf der Westerplatte den Zweiten Weltkrieg vom Zaun und Danzig kam „heim ins Reich“. Fünf Jahre später wurde Danzig polnisch, die deutschen Einwohner flohen oder wurden vertrieben, Polinnen und Polen zogen in die zerstörte Stadt. Sie wussten meist nicht viel von Gdańsk, nur dass es zwar lange deutsch war, historisch aber zu Polen gehörte und nun zu Recht wieder polnisch war. 

Frei war Gdańsk noch lange nicht. Während sich in Deutschland Günter Grass Danzig von der Seele schrieb und in seinen literarischen Berichten aus den proletarischen Vororten die Stadt von der Patina jahrhundertelanger Bürgerlichkeit befreite, richtete sich in Gdańsk eine neue Bevölkerung ein: Mühsam, weil Menschen aus allen Gegenden Polens erst langsam eine Stadtgesellschaft bildeten, aber mit wachsendem Stolz, weil die Werften florierten, die Umgebung so wunderschön war und es gelang, die historische Innenstadt phänomenal wieder aufzubauen.

Erst nach der Systemtransformation, nach 1989, wurde Gdańsk frei. Es war letztlich die lange Amtszeit des seit 1998 amtierenden Stadtpräsidenten Paweł Adamowicz, die den Wandel von einer trotz aller Größe immer noch recht provinziellen Großstadt hin zu einer überraschend lebendigen Metropole sah, unterstützt auch von Danzigern wie Donald Tusk, die in Warschau große Politik betrieben. Angetrieben nicht zuletzt durch die Bewerbung zur Europäischen Kulturhauptstadt – den Zuschlag erhielt schließlich Breslau –, entstanden neue künstlerische und intellektuelle Initiativen. Das Europäische Solidarność-Zentrum, das Museum des Zweiten Weltkriegs, das Shakespeare-Theater, das im Aufbau befindliche Museum für Moderne Kunst, zahlreiche Galerien, Institute, Festivals für Musik, Literatur, Fassadenmalerei. Endlich fanden sich interessante Jobs für die Absolventen der lokalen Hochschulen, und nicht selten zogen nun Künstlerinnen, Intellektuelle, Macher des Wirtschaftslebens auch extra nach Danzig. Denn Danzig roch nach Freiheit …

 

Danzig roch nach Freiheit

Danzigs Freiheits-Erzählung hatte mit den Arbeiterprotesten von 1970 und vor allem 1980 einen immensen Schub erlebt. Die „Solidarność“ war Grundstein für die Freiheit im ganzen Ostblock. Weit genug vom Machtzentrum in Warschau entfernt, konnte es zudem immer auf jenes trügerische Bild von der „Freien Stadt“ zurückgreifen, das nahelegt, als habe Danzig in seiner Geschichte meist von der Freiheit gezehrt. Gerade nach dem Regierungsantritt der Kaczyński-Partei „Recht und Gerechtigkeit“ 2015 entwickelte sich diese Vorstellung zu einer handlungsleitenden Maxime. Während die Zentrale argwöhnisch nach Danzig – und in andere liberal regierte Städte – schaut und es in den rechten Blättern immer wieder heißt, Danzig wolle sich am liebsten von Warschau abspalten, sich als „Freie Stadt“ lieb Kind mit Deutschland machen, verstehen die liberalen Eliten Danzigs ihre Freiheit als die Verteidigung autonomer Entscheidungsgewalt der kommunalen Selbstverwaltung.

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Briefmarke mit Ansicht des Klosters Oliva

Dahinter steht ein langer, seit Jahrzehnten in Polen ausgetragener Konflikt zwischen nationalstaatlichem Zentralismus und Dezentralisierungsbestrebungen, hinter dem historische Ängste stehen. Schließlich war die alte Adelsrepublik im 18. Jahrhundert auch an internen Partikularismen zugrunde gegangen, und die Republik der Zwischenkriegszeit fürchtete die von den Nachbarmächten unterstützte Irredenta der nationalen Minderheiten. Als deshalb im Zuge der politischen Transformation in den 1990er Jahren neue Regionalbewegungen entstanden, löste dies nicht nur intellektuelle Begeisterung, sondern vielfach auch Unbehagen aus.

Bald schon stellte sich heraus, dass anders als in Deutschland nicht die Regionen, also die Länder bzw. Woiwodschaften, zu den sichtbarsten und aktivsten Akteuren jener politischen, administrativen und kulturellen Dezentralisierung wurden, sondern die Großstädte in ihrer Doppelrolle als regionale Hauptstädte und intellektuelle Zentren. Paweł Adamowicz hat es in dieser Entwicklung mit entwaffnendem Optimismus und persönlichen Engagement geschafft, Danzig im Gespräch zu halten. Seine Ermordung im Januar 2019 war deshalb ein Schock, der Motor lokaler Identitätsdynamik schien schwer beschädigt. Doch seine Nachfolgerin Aleksandra Dulkiewicz füllt seine Fußstapfen mit ebensolchem Charisma aus. Noch dazu ist sie eine der wenigen Frauen, die derzeit in Polens Politik in exekutiver Verantwortung stehen. Nichts, was sie vor der Kritik ihrer Gegner verschonen würde. Schon kurz nach ihrem Amtsantritt schrieb ein einflussreiches rechtes Blatt: „Versuche, aus dem modernen Gdańsk eine ‚freie Stadt‘ zu machen, sind abartig. Das ist eine polnische Stadt und das bleibt es auch.“ Ähnliche Unterstellungen begleiten Dulkiewicz bis heute. 

So muss die „Freie Stadt Danzig“ auch hundert Jahre nach ihrer Gründung noch für politische Auseinandersetzungen herhalten, provoziert sie immer wieder zur Stellungnahme. Und das in einer Zeit, in der das wirtschaftlich und kulturell florierende Danzig seine Freiheit so stolz behaupten kann wie nie in den letzten paar Jahrhunderten.