28.02.2023 - Politik

Die Mitte wovon liegt ostwärts? Ambiguitätstoleranz und die deutsch-polnischen Beziehungen

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Vor rund einem Jahr, am 27. Februar 2022, konstatierte Bundeskanzler Olaf Scholz in einer Rede vor dem Bundestag „eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents.“ Die Ausweitung des seit 2014 andauernden russischen Kriegs gegen die Ukraine stellt zweifelsohne eine Zäsur dar. Es ist etwas in Bewegung geraten in Europa. Alte Konstellationen beginnen sich zu verschieben, neue Konstellationen lassen sich im Moment bestenfalls erahnen. In Deutschland fokussiert sich die Debatte, ein Jahr nach der Zeitenwende-Rede, zuvorderst auf die Vorgänge hierzulande. Da wären die anhaltende Diskussion um Waffenlieferungen ebenso zu nennen wie Fragen um den richtigen Umgang mit der großen Anzahl ukrainischer Flüchtlinge, die in den letzten zwölf Monaten nach Deutschland gelangt sind. Und selbstverständlich sind die Neuausrichtung der deutschen Energie-, Ost- sowie der Sicherheits- und Verteidigungspolitik ebenfalls Kernelemente dieser Debatte.

Zeitenwende: Europas Mitte bewegt sich ostwärts

Doch nicht nur die deutsche Politik wurde von den Auswirkungen des russischen Angriffskriegs erfasst. Auch die deutsch-polnischen Beziehungen veränderten sich während der vergangenen zwölf Monate unter dem Eindruck dieser Zeitwende. So blickt man in Polen mit wachsender Skepsis auf die schleppende Umsetzung der deutschen Politik nach der Zeitenwende-Rede: zu behäbig und nachsichtig sei Deutschlands Umgang mit Russland, zu zaghaft und unentschlossen die Unterstützung der Ukraine, zu folgenlos das vielerorts geäußerte Eingeständnis, man hätte den östlichen Nachbarn mehr Gehör schenken sollen. Umgekehrt sieht Deutschland die polnischen Forderungen nach Wiedergutmachung für die während des Zweiten Weltkriegs von deutscher Seite verursachten Schäden und Verluste als ein zur Unzeit gestartetes politisches Manöver, wie man überhaupt vieles von dem, was derzeit von Polen nach Deutschland dringt, als wahlkampftaktisch motiviert interpretiert. Gleichzeitig bemühen sich der deutsche und der polnische Verteidigungsminister gemeinsam, eine Koalition zur Lieferung von Leopard 2-Panzern an die Ukraine auf die Beine zu stellen.

Die Auswirkungen der Zeitenwende auf die politischen Kräfteverhältnisse in Europa sind ebenfalls kaum eindeutig. Deutschland sieht sich herausgefordert, seinem selbsterklärten Anspruch als Führungsmacht in Europa nachzukommen, gerade auch in militärischer Hinsicht. Zudem sind die Kräfteverhältnisse in Europa infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine in Bewegung geraten. Deutschland steht vor dem Scherbenhaufen seiner verfehlten Russland-, Ukraine-, Energie- und Sicherheitspolitik. Polen wiederum ist nun Frontstaat sowie Drehkreuz der westlichen Unterstützung für die Ukraine und erste Anlaufstelle für Millionen ukrainischer Flüchtlinge. Und auch Polens Verhältnis zu den USA hat sich wesentlich verbessert, wie die beiden Staatsbesuche des US-Präsidenten innerhalb eines Jahres belegen. Die Folge dieser Verschiebungen könnte eine neue Machtkonstellation in Europa sein. Deutschland scheint trotz des immensen Ansehens- und Vertrauensverlustes darum bemüht, weiterhin eine zentrale Rolle in der europäischen Politik zu spielen. Polen wiederum versucht, seine neue Bedeutung als Frontstaat und den damit verbundenen Imagegewinn politisch auf Dauer zu stellen. Wie diese neue Konstellation letztlich aussehen soll und ob wir es tatsächlich mit einem Nullsummenspiel zu tun haben, bei dem Polen nur das gewinnen kann, was Deutschland verliert, scheint nach wie vor offen. Aber dass wir es derzeit mit der Entstehung einer neuen Machtkonstellation in Europa zu tun haben, ist offensichtlich.

Paradoxerweise war es gerade Bundeskanzler Olaf Scholz, der in seiner Prager Rede im Sommer 2022 in Anlehnung an den Osteuropa-Historiker Karl Schlögel bekannte: „Europas Mitte bewegt sich ostwärts“. Diese Feststellung einer anhaltenden Neukonfigurierung des politischen Kräfteverhältnisses in Europa ist seitdem immer wieder getroffen worden, hat aber mit dem erneuten Polen-Besuch von US-Präsident Joe Biden am 21. Februar nochmals an Intensität gewonnen.  Nach seinem überraschenden Staatsbesuch am 20. Februar in Kyjiw reiste Biden mit der Bahn nach Polen weiter, wo er am folgenden Tag erst zu Gesprächen mit Staatspräsident Andrzej Duda zusammentraf und am Abend eine vielbeachtete Rede am Warschauer Königsschloss hielt. Am zweiten Tag seines Besuchs traf der US-Präsident mit den Präsidenten des „Bukarest Neun“-Formats zusammen, das neben Polen auch Estland, Lettland, Litauen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn, Bulgarien und Rumänien umfasst. Die polnisch-rumänische Initiative von 2015 stellte eine Reaktion auf die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 dar. Die Tatsache, dass Biden bei seinem Doppelbesuch Kyjiw und Warschau bereiste und damit gleichzeitig Partner wie Deutschland und Frankreich außen vorließ, deuten zahlreiche Beobachter:innen als weiteres Indiz für eine allmähliche Verschiebung der Kräfteverhältnisse in Europa. Waren es in der Vergangenheit vor allem Deutschland und Frankreich, die in Europa den Takt vorgaben und zu den ersten Ansprechpartnern der Vereinigten Staaten zählten, zeichne sich seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine eine neue Machtkonstellation in Europa ab, in der neben den baltischen Staaten vor allem Polen eine zentrale Rolle einnimmt. So erklärt etwa die Welt, „dass sich die Machtgewichte in der EU seit dem 24. Februar 2022 von Westen nach Osten hin verschoben haben“. Und auch die Zeit konstatiert: „Das geopolitische Zentrum Europas liegt nicht mehr irgendwo zwischen Berlin, Paris und London. Die Impulse für die westliche Unterstützung der Ukraine werden in Tallinn, Riga und vor allem in Warschau gesetzt.“

Neue Kräfteverhältnisse, neue Machtkonstellationen

Aber sind die Dinge wirklich derart offensichtlich? Die Machtverschiebung gen Osten wird zwar immer häufiger postuliert, doch worauf sich dieses neue Kräfteverhältnis tatsächlich gründet, wird weitaus weniger präzise benannt. Meist wird dann eben auf das Verhältnis zu den USA verwiesen, das sich verbessert habe, auf die moralische Überlegenheit gegenüber Deutschland, weil Polen eben Recht gehabt habe, auf die Bedeutung Polens für den Westen als Drehkreuz für Flüchtlingsbewegungen, die Lieferung von Waffen und humanitären Gütern, aber auch die immer zahlreicher werdenden Politikerbesuche. Schließlich wird verwiesen auf die enormen Verteidigungsausgaben, die zuletzt auf über vier Prozent des polnischen BIP geschätzt wurden und durch den Kauf neuer Panzer aus den USA und Südkorea, wonach die polnische Armee zur größten Landstreitmacht Europas aufsteigen würde, untermauert. Aber liegt hierin bereits ein neues Kräfteverhältnis begründet? In puncto Sicherheit ist jedes europäische Land – vielleicht mit Ausnahme der Atommächte Frankreich und Großbritannien – letztlich auf den Beistand der NATO-Partner, d.h. allen voran der Vereinigten Staaten angewiesen. Dies gilt auch für Polen. Doch es ist absehbar, dass Polen in dem nordatlantischen Verteidigungsbündnis fortan mehr sicherheitspolitisches Gewicht erlangen wird. In eigentlich allen anderen politischen Bereichen ist Macht für europäische Staaten wie Polen jedoch eng mit den Gestaltungsmöglichkeiten als Mitglied der Europäischen Union verbunden. Hier befindet sich die polnische Regierung weiterhin in einer Auseinandersetzung mit den europäischen Institutionen über den Zustand der Rechtsstaatlichkeit in Polen, einer Auseinandersetzung, deren Ausgang Stand heute noch nicht abzusehen ist. Zwar gibt es Anzeichen, wonach man in Brüssel, anders als im Falle Ungarns, an einer Kompromisslösung mit Polen interessiert ist, aber eine baldige Auszahlung der zurückgehaltenen EU-Gelder zeichnet sich derzeit noch nicht ab. Deutschland wiederum scheint bestrebt, frühere Verfehlungen durch einen umfassenden politischen Kurswechsel schnell vergessen zu machen und seinen Führungsanspruch in Europa zu behaupten. Und bei aller Kritikwürdigkeit an der Halbherzigkeit, mit der die Bundesregierung diesen Kurswechsel bisweilen betreibt, lässt sich festhalten, dass auch Deutschland weiterhin eine zentrale Rolle bei der Unterstützung der Ukraine einnimmt.  

Ambiguität in den deutsch-polnischen Beziehungen

Gerade in dieser Situation scheint ist es wichtig zu differenzieren, und das bedeutet nicht zuletzt Mehrdeutigkeit auszuhalten. Eine solche Ambiguitätstoleranz scheint gerade in den heutigen deutsch-polnischen Beziehungen dringender geboten als je zuvor. Polen hat Recht behalten mit seiner Kritik an Deutschland und seinen Warnungen vor Russland. Mit seiner Kritik an den Nord Stream-Gaspipelines, an der Anbiederung an Putin durch weite Teile der deutschen Politik, an der deutschen Weigerung, das 2-Prozent-Ziel der NATO zu erfüllen und seinem Festhalten an den USA als Garant europäischer Sicherheit. Polen hatte Recht behalten und Deutschland hatte geirrt, fatal geirrt. Daran gibt es nichts zu deuteln. Und so hilft es Deutschland kaum weiter, die polnische Kritik mit dem Hinweis abzutun, sie stamme schließlich lediglich von der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) (was nicht stimmt, die politische Opposition denkt hier ähnlich) und das Land befinde sich mitten im Parlamentswahlkampf. Und ja, zur Wahrheit gehört auch, dass die PiS natürlich versucht, aus der neuen Situation politisch Kapital zu schlagen. Vor einem Jahr stand die polnische Regierungspartei noch mit dem Rücken zur Wand. Innenpolitisch schlug ihr ob der mehr schlecht als rechten Bekämpfung der Corona-Pandemie, aufgrund der steigenden Inflation und des früh gescheiterten polnischen New Deal (Polski Ład) ein eisiger Wind entgegen. Außenpolitisch geriet die Regierung im Rechtsstaatlichkeitsstreit mit den europäischen Institutionen zunehmend unter Druck. Der russische Krieg gegen die Ukraine änderte all dies fast über Nacht. Polen wurde zur ersten Anlaufstelle und zum Zufluchstort für Millionen ukrainischer Kriegsflüchtlinge und entwickelte sich zum Drehkreuz für die Lieferung von Waffen und humanitären Hilfen an die Ukraine, wie auch für Politiker aus der westlichen Welt, die über Polen nach Kyjiw und in andere ukrainische Städte gelangten. Polen ist infolge der Zeitenwende zur unverzichtbaren Nation geworden. Was also läge in einer solchen Situation näher – so könnte man die polnische Politik verstehen –, als auch andere Konflikte, etwa den über die Rechtsstaatlichkeit, in einem neuen Licht zu betrachten? Wenn Polen in Sachen Russland richtig lag und Deutschland daneben, warum nicht auch in Sachen Rechtsstaatlichkeit? Und selbst, wenn nicht. Kann man einem Land, dass seine Arme für gut anderthalb Millionen ukrainischer Flüchtlinge geöffnet hat und moralisch auf der richtigen Seite der Geschichte steht, guten Gewissens die Auszahlung der dringend benötigten EU-Geldern verweigern?

Die Mitte wovon liegt ostwärts?

Die Antworten auf diese Fragen sind offen. Gleichzeitig werfen die fortschreitenden Veränderungen im europäischen Kräfteverhältnis weitere Fragen auf: Die Mitte wovon liegt ostwärts? Wie hat man sich eine Verschiebung des Zentrums (wovon?) in Richtung Osten konkret vorzustellen? Es scheint, dass wir derzeit Zeuge der Auflösung der gewohnten Machtkonstellation in Europa sind, ohne absehen zu können, wie die neue Konstellation genau aussehen wird. Diese Uneindeutigkeit gilt es auszuhalten, auch in den deutsch-polnischen Beziehungen. Dennoch lassen sich hier zwei Dinge festhalten. Erstens wird Deutschland auf absehbare Zeit ein schwieriger Partner für Polen bleiben. Es wird nach wie vor ein zentraler Akteur in Europa sein, der jedoch aller Voraussicht nach Staaten wie Polen mehr Mitsprache bei der zukünftigen Gestaltung der EU einräumen muss. Zweitens wird Polen auf absehbare Zeit ein schwieriger Partner für Deutschland bleiben. Selbst wenn die politische Opposition die Parlamentswahlen im Herbst gewinnen sollte, dürfte eine neue polnische Regierung sich zwar im Ton konzilianter und insgesamt kooperativer gegenüber Deutschland zeigen, in den derzeit zentralen Politikfeldern Energie-, Sicherheits-, Russland- und Ukrainepolitik jedoch weitestgehend Kontinuität wahren. Deutschland und Polen werden also trotz aller Differenzen aufeinander angewiesen bleiben, vor allem als Partner in der Europäischen Union. Dass hier häufig diametral gegensätzliche politische Vorstellungen zur weiteren Entwicklung der EU aufeinandertreffen, kann auch eine Chance sein, die Zukunft der Gemeinschaft neu zu diskutieren.