27.08.2020 - Politik, Gesellschaft

Der polnische Blick auf die gegenwärtigen Massenproteste in Belarus

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Bild: Artem Podrez

Zwischen dem 4. und 9. August wählten die Belarus*innen im Rahmen der Präsidentschaftswahlen ihr Staatsoberhaupt. Laut amtlichem Endergebnis konnte Amtsinhaber Aljaksandr Lukaschenka über 80 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen. Seine stärkste Kontrahentin, die Oppositionskandidatin Swjatlana Zichanouskaja, kam hingegen lediglich auf rund 10 Prozent. Bereits in der Wahlnacht nach der Verkündung des vorläufigen Wahlergebnisses kam es in zahlreichen belarusischen Städten zu Massenprotesten, die bis heute anhalten und auf die die belarusische Regierung vornehmlich mit Festnahmen und Gewalt in Form von Prügeln, Folter bis hin zur Verwendung scharfer Munition reagierte. Die Demonstrant*innen sind davon überzeugt, dass die Wahlen gefälscht worden sind. Die hierauf hinweisenden Indizien haben auch die Mitgliedstaaten der EU überzeugt, die am 19. August erklärten, das Wahlergebnis nicht anzuerkennen.

Der Beitrag konzentriert sich auf den polnischen Blick auf Belarus und befasst sich dabei vor allem mit zwei Aspekten. Erstens mit der Bedeutung von Belarus für Polen und Unterstützungsinitiativen für die belarusische Opposition. Zweitens mit den Bestrebungen der polnischen Regierung, sich als Anwältin belarusischer Interessen innerhalb der EU zu profilieren.

Polens Solidarität mit Belarus

Seit dem ersten Tag nach der Wahl, dem 10. August, beherrschen die Geschehnisse in Belarus die Berichterstattung der polnischen Medien. Die Ereignisse im Nachbarland sind zweifelsohne das außenpolitische Topthema. Ein demokratischer unabhängiger belarusischer Staat liegt im polnischen Interesse. Daher sendete die polnische Regierung auch früh Signale, dass sie die Wahl Lukaschenkas nicht anerkenne und die Oppositionskräfte um Zichanouskaja unterstütze. In seinen Verlautbarungen hat Lukaschenka Polen auch bald als einen der zentralen Widersacher ausgemacht, der angeblich aus dem Ausland die Proteste in Belarus initiiert und finanziert habe. Und wenngleich dieses rhetorische Propagandamanöver leicht durchschaubar ist und offensichtlich jeglicher Grundlage entbehrt, so dürfte es für die Zukunft der polnisch-belarussischen Beziehungen nicht folgenlos bleiben. Bliebe Lukaschenko langfristig weiterhin im Amt, ist eine Fortführung der bisherigen diplomatischen Beziehungen zwischen Polen und Belarus kaum vorstellbar.

Gleichzeitig stößt die Unterstützung der prodemokratischen Kräfte im Nachbarland durchaus auf Zustimmung innerhalb der polnischen Bevölkerung. Laut einer Umfrage im Auftrag der Tageszeitung Rzeczpospolita sind 45,6 Prozent der Befragten für eine solche Unterstützung. 18,9 Prozent sprechen sich dagegen aus, während 35,5 Prozent keine Meinung zu dem Thema haben. Und so dauerte es nur wenige Tage, bis die polnische Regierung einen konkreten Plan zur Unterstützung der belarusischen Zivilgesellschaft vorlegte. In seiner Rede vor dem Sejm am 14. August präsentierte der polnische Premierminister Mateusz Morawiecki den Plan „Solidarisch mit Belarus“ (Soldarni z Białorusią). Polen sei „die Wiege der Solidarność“, so Morawiecki, „und heute erlaubt es uns die Solidarität nicht tatenlos dazustehen gegenüber den brutalen Pazifikationen der friedlichen Demonstrationen in Belarus.“ Im laufenden Jahr sollen laut dem Plan, der ein finanzielles Volumen von umgerechnet über 11 Mio. Euro aufweist, insgesamt fünf Ziele verwirklicht werden:

  1. Unterstützung für unterdrückte Personen in Form eines Ausbaus des polnischen bzw. polnisch-amerikanischen Hilfsprogramms
  2. Auflegung des Wincenty-Konstanty-Kalinowski-Stipendienprogramms, das sich an belarusische Studierende und Lehrkräfte wendet, die im Rahmen der Repressionen der Hochschule verwiesen worden sind. Das Stipendienprogramm gibt diesen Personen die Möglichkeit zum Studium bzw. der Arbeitsaufnahme in Polen.
  3. Erleichterungen bei der Einreise nach Polen und dem Zugang zum polnischen Arbeitsmarkt für Belarus*innen; Befreiung von Visumsgebühren sowie, in Ausnahmefällen, Befreiung von der Pflicht des Besitzes entsprechender Dokumente, Erleichterungen im Zugang zum Arbeitsmarkt
  4. Hilfe für unabhängige Medien; die Unterstützung richtet sich an unabhängige Medien und Verleger*innen in und für Belarus (Belsat TV, die Webseite von Charta 97, Radio Racja)
  5. Programm für Nichtregierungsorganisationen; im Rahmen der Stiftung für Internationale Solidarität wird ein neues Programm für NGOs aufgelegt, mit dessen Hilfe die belarusische Zivilgesellschaft und unabhängige belarusische Medien unterstützt werden sollen

Daneben gibt es Unterstützungsinitiativen von weiteren Akteuren in Polen. So hat beispielsweise das staatliche Pilecki-Institut (dessen Arbeit sich gewöhnlich dem Gedenken an Personen widmet, die besondere Verdienste gegenüber der polnischen Nation erworben haben) gemeinsam mit Belsat TV und der Stiftung Solidarity Zone ein kleines Stipendienprogramm für Journalist*innen, Blogger*innen und Publizist*innen aus Belarus aufgelegt. Insgesamt 8 Stipendiat*innen werden über 5 Monate mit 600 US-Dollar pro Monat gefördert. Ein weiteres Beispiel ist die Adam-Mickiewicz-Universität in Posen. Diese bietet belarusischen Studierenden, die im Rahmen der Repressionen in Belarus von der Hochschule verwiesen worden sind, die Möglichkeit eines gebührenfreien Studiums.

Ein Konsens über Parteigrenzen hinweg

Am gestrigen Mittwoch (26.8.2020) lud Premierminister Mateusz Morawiecki die Vertreter der Parlamentsfraktionen zu einem Gespräch über die Situation in Belarus ein. Nach den feindseligen Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Opposition in den vergangenen Jahren ist dieser Schritt durchaus bemerkenswert. Von der Linken über die Bürgerkoalition und die PSL-Kukiz 15-Fraktion bis hin zur rechten Konfederacja besteht demnach weitgehendes Einvernehmen, was die Unterstützung der geplanten Hilfsmaßnahmen der polnischen Regierung für die belarusische Opposition angeht. Die Lage im Nachbarland dürfte eines der wenigen Themen sein, bei denen zwischen den politischen Parteien größtenteils Einigkeit herrscht. Dementsprechend lesen sich die ersten Verlautbarungen der Sitzungsteilnehmer. Die überparteiliche Einigkeit der polnischen Politik in Bezug auf Belarus unterstrich auch Premier Morawiecki: „Ohne Ausnahme sagten alle, dass der höchste Wert die Souveränität, Unabhängigkeit, Eigenständigkeit und Freiheit von Belarus ist.“ Der Premier lobte den Konsens über alle Parteigrenzen hinweg und kündigte weitere Treffen unter der Teilnahme von Politikern aus der Opposition im Rhythmus von zwei bis drei Wochen an. Zudem werde innerhalb der nächsten Tage ein konkreter Zeitplan zu den Unterstützungsmaßnahmen der polnischen Regierung für Belarus erstellt, so Morawiecki.

Folgt man den Aussagen der Teilnehmer des Treffens, dann sehen Regierung wie auch Opposition die gegenwärtige Lage in Belarus nicht zuletzt als Chance für Polen, seine Führungs- und Expertenrolle in Sachen europäischer Ostpolitik zurückzuerlangen und sich innerhalb der EU als Anwalt eines freien demokratischen Belarus zu profilieren. Demnach obliege es Polen, die EU und ihre Mitgliedstaaten dahin zu bewegen, in Bezug auf Belarus mit einer Stimme zu sprechen, andernfalls werde der belarusischen Sache in Europa kein Erfolg beschieden sein. Gleichzeitig fehlte es trotz aller Unterstützung für die Maßnahmen der polnischen Regierung auch nicht an kritischen Stimmen. So gab der Europaabgeordnete und Vertreter der polnischen Linken, Robert Biedroń, zu bedenken, dass sich Polen international in den vergangenen Jahren „unglaubwürdig“ gemacht habe. Dieser seit 2015 erlittene Reputationsverlust als außen- und europapolitischer Akteur könnte der polnischen Regierung bei der Umsetzung ihrer Belarus-Politik im Wege stehen.

Polen hat großes Interesse an der Situation in Belarus, und dies gleich aus mehreren Gründen. Erstens ist das Land ein direkter Nachbar. Zweitens gibt es in Polen über 40.000 Angehörige der autochthonen belarusischen Minderheit sowie eine ähnlich hohe Zahl von Arbeitsmigrant*innen. Drittens leben in Belarus mehrere hunderttausend Angehörige der polnischen Minderheit. Aber es ist für Polen derzeit nicht einfach, sich außenpolitisch Gehör zu verschaffen. Sicher, der EU-Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs zur Situation in Belarus am 19. August geht nicht zuletzt auf Polens Initiative zurück. Gleichzeitig macht es derzeit nicht den Anschein, als ob Polen eine führende Rolle in der EU-Politik gegenüber Belarus spielen würde. Dies war 2014 im Anfangsstadium der Krise in der Ukraine noch anders. Hier konnte der damalige Außenminister Radosław Sikorski mit seinem Standing bei den Amtskollegen in Frankreich und Deutschland punkten, Polens Expertise war gefragt. 2020 stellt sich die Situation anders dar. Polen hat sich innerhalb der EU weitestgehend isoliert. Politischen Forderungen aus Warschau nach Einhaltung der Menschen- und Bürgerrechte sowie der Pressefreiheit in Belarus wird in anderen EU-Staaten mit Skepsis begegnet. War es schließlich nicht die Regierung in Warschau, die das öffentlich-rechtliche Fernsehen in Polen zu einem Sprachrohr der eigenen Politik umfunktionierte, und Präsident Duda mit einer unkritischen Jubelberichterstattung willfährig Wahlkampfhilfe leistete? War es nicht die polnische Polizei, die zuletzt mit übertriebener Härte gegen Protestierende vorging, die gegen die Verhaftung der LGBT-Aktivistin Margot demonstrierten, und sie ohne Zugang zu rechtlichem Beistand in Gewahrsam hielt? Die Rolle, die Polen einst im Rahmen der europäischen Ostpolitik innehatte, hat zahlreichen polnischen Experten zufolge mittlerweile Litauen eingenommen. Linas Linkevičius, der Außenminister des baltischen Staates, schickt sich derweil an, zum „Architekten der EU-Politik gegenüber Belarus“ (Bartosz T. Wieliński) zu werden.

Das außenpolitische Resort spielt in der aktuellen polnischen Regierung eine untergeordnete Rolle. Setzte man zunächst in Person von Witold Waszczykowski zunächst auf einen Konfrontationskurs mit den Institutionen der EU sowie Mitgliedstaaten wie Deutschland und Frankreich, so unterlag die Außenpolitik in der Folge einer zunehmenden Marginalisierung. Waszczykowskis Nachfolger Jacek Czaputowicz zeigte sich zwar als gemäßigt Konservativer wesentlich umgänglicher als sein Amtsvorgänger, als politischer Quereinsteiger verfügte der Hochschulprofessor gleich wohl nicht über die notwendige politische Hausmacht, um eine eigene außenpolitische Agenda innerhalb der Regierung durchzusetzen. Und auch von Zbigniew Rau, der am gestrigen Mittwoch als neuer Außenminister vereidigt wurde, ist dies nicht zu erwarten. Eine zusammenhänge außenpolitische Strategie gegenüber Belarus, noch dazu koordiniert mit der Außenpolitik der EU und ihrer Mitgliedstaaten, ist unter den gegenwärtigen Bedingungen kaum wahrscheinlich.