29.01.2021 - Politik

Der Parteivorsitzende spricht. Ein neues Interview mit Jarosław Kaczyński versetzt Polen in Aufregung

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Immer, wenn der PiS-Parteivorsitzende und seit Herbst auch stellvertretende Ministerpräsident Jarosław Kaczyński ein Interview gibt – und das kommt nicht so oft vor –, hört die politisch interessierte Öffentlichkeit in Polen sehr genau hin. Denn daraus, welche Themen er aufwirft, welche Namen er nennt, lässt sich in der Regel viel über die Entwicklung der polnischen Politik in den nächsten Wochen und Monaten schließen.

Im Internet-Fernsehsender wpolsce.pl, der zum Medienhaus der Brüder Karnowski gehört, einem wichtigen Sprachrohr und Unterstützer regierungsnaher Kreise, hat sich Kaczyński nun von Michał Karnowski interviewen lassen. Das Gespräch, bei dem der Journalist nur als Stichwortgeber fungiert, wurde am 28. Januar ausgestrahlt und sofort von allen wichtigen Medien in Polen aufgegriffen. Im Folgenden werden wichtige Aussagen vorgestellt und kommentiert. Die langen Zitate aus dem originalen Wortlaut sollen auch eine Möglichkeit bieten, die Denkweise Kaczyński nachzuvollziehen.

Anlass für das Interview war der Preis „Mensch der Freiheit“ der Karnowski-Zeitschrift Sieci, der für das Jahr 2020 Daniel Obajtek verliehen wird, dem Vorstandsvorsitzenden des staatlichen Energiekonzerns Orlen. Die Preisträger der vergangenen Jahre spiegelten die jeweiligen Hoffnungsträger des Regierungslagers wider – für 2019 erhielt der heutige Ministerpräsident Mateusz Morawiecki den Preis, für 2018 Kulturminister Piotr Gliński, im Jahr davor war es die Verfassungsgerichtspräsidentin Julia Przyłębska, 2016 Jarosław Kaczyński selbst und 2015 der frisch gewählte Staatspräsident Andrzej Duda.

 

Die gefährdete Freiheit

Die erste Frage gilt – dem Preis geschuldet – der Freiheit in Polen. „Es gibt sehr viele Beispiele für eine Einschränkung der Freiheit“, beginnt Kaczyński und verweist auf die USA und die Tatsache, dass „dem amtierenden Präsidenten die Stimme entzogen worden ist“. Trumps Verlust seines Twitter-Kontos stellt Kaczyński dann in den Kontext „verschiedener Vorgehensweisen, die darauf abzielen, dass Menschen mit konservativen Ansichten (…) sich nicht sicher äußern können, dass sie negative Konsequenzen (…) ihrer Äußerungen, ihrer Ansichten erfahren.“ Und dann erläutert er, vor welchen Herausforderungen auch Polen stehe:

„Die Begriffe, derer sich hier die Gegner, die Feinde der Freiheit – denn so muss man das bezeichnen – bedienen, sind meist irreführend. Das ist eine gezielt eingesetzte Soziotechnik. Hier steht ‚Hassrede‘ an der Spitze dieser Begriffe und ‚Toleranz‘ an zweiter Stelle. Wobei das Wort ‚Toleranz‘ auf eine Weise verwendet wird, die die ursprüngliche und eigentliche Bedeutung dieses Ausdrucks völlig verdreht. Das hat vielerorts nicht mehr nur den Charakter von Praktiken, besonders Praktiken der Massenmedien, sondern das wird auch in Rechtsnormen mit repressivem Charakter gefasst, und diese Repressionen werden schon angewendet.“

Kaczyński greift hier eine weithin gebräuchliche Denkfigur rechtspopulistischer Kreise auf, dass nämlich die mediale Vorherrschaft „linksliberaler“ Meinungsführer den Raum des Sagbaren unzulässig einschränke. Das ist also kein origineller Gedanke, aber er gewinnt im Kontext der folgenden Passagen des Interviews eine deutlich auf die politische Situation in Polen gemünzte Aussage. Kaczyński erinnert daran, dass er schon vor langem Polen als „eine Art Oase der Freiheit“ in Europa bezeichnet habe, was heute umso wahrer sei. 

„Es gibt Kräfte, die völlig offen danach streben, dass es keine solche Oase mehr ist, dass auch in Polen diese Beschränkungen gelten, und zwar immer offensiver. (…) Das wird direkt durch die Linken erklärt. Wobei heute die ‚Linke‘ ein Begriff ist, der nicht nur die umfasst, die sich selbst so bezeichnen, sondern auch diejenigen, die sich nicht so bezeichnen, die aber in Wahrheit schon so stark auf diese linke Seite übergelaufen sind, dass man nicht mehr von ‚Linken‘ sprechen kann, sondern von (…) extremen Linken. Ich meine die Bürgerplattform.“

 Auch hier bedient Kaczyński eine verbreitete Sichtweise nationalkonservativer Kreise in Polen, die das Land als Bollwerk der wahren europäischen Werte bezeichnet, während ein großer Teil des Kontinents sich von Christentum oder nationalen Identitäten abkehre. Gleichzeitig argumentiert er wie schon häufig in der Vergangenheit: Wer seine (rechte) Meinung nicht teilt, steht im Lager der Bösen (Linken), zu denen er hier auch die größte Oppositionspartei zählt. Dabei lässt sich die Bürgerplattform gewiss nicht als linksradikal bezeichnen – sie versteht sich als gemäßigt liberal und besitzt einen konservativen wie auch einen progressiven Flügel.

 

Einschränkung von Autonomie

„Ich möchte daran erinnern, dass die Bürgerplattform, entgegen dem, was sie über die Unterdrückung erzählt, die sie erleide, in Polen einen sehr erheblichen Teil der Macht hat. Ich spreche nicht von ihrem Einfluss auf die Judikative, ich spreche ganz klar von der [kommunalen und regionalen] Selbstverwaltung, aber auch von den selbstverwalteten Berufsständen, insbesondere von der Selbstverwaltung der Hochschulen. Hier gibt es schon sehr viele Schritte, die sich gegen die Freiheit richten.“

Der Parteivorsitzende benennt hier wesentliche Handlungsfelder, auf denen er in der nächsten Zukunft Handlungsbedarf zu sehen scheint. Während die Koalitionsregierung der PiS die öffentlich-rechtlichen Medien auf Parteilinie gebracht hat und schon seit einigen Jahren bestrebt ist, die Autonomie der gerichtlichen Institutionen zu beschneiden und die Gerichte durch von oben gesteuerte Personalpolitik, die Politisierung des Landesrichterrates, Verfahren gegen einzelne Richter oder öffentliche Verleumdung zu beschneiden, rücken die Verwaltungen der Regionen und Kommunen stärker in den Mittelpunkt: Gerade die Verwaltungen der liberalen, zumeist von der Bürgerplattform dominierten Großstädte haben sich zu den wichtigsten Zentren politischen Widerstands gegen die rechte Zentralregierung entwickelt. Diese Macht hat die PiS bislang nicht brechen können, ebenso wenig wie es ihr gelungen ist, die Universitäten mundtot zu machen. Im Gegenteil, die autonomen Organe zahlreicher Hochschulen (Senate, Fakultätsräte, Hochschulleitungen) haben sich sowohl dezidiert kritisch zu den Justizreformen der Regierung als auch zur Verschärfung der Abtreibungsgesetzgebung geäußert, was gerade in den letzten Monaten den katholisch-fundamentalistischen Gruppierungen verbundenen Bildungsminister zu der Drohung veranlasste, aufmüpfige Hochschulen finanziell zu bestrafen. 

Auch hier spiegelt sich der nicht nur in Polen, sondern etwa auch in den USA immer wieder erhobene Vorwurf wider, konservative bzw. rechte Meinungen würden vom (links-) liberalen Mainstream ausgegrenzt und marginalisiert. Kaczyński bekräftigt in seinem Interview dann noch einmal: „Es muss so sein, dass jeder, der seine Hand gegen die Freiheit erhebt, zum Beispiel an den Hochschulen, weiß, dass er die Konsequenzen dafür tragen muss“. Die Meinungsfreiheit, so Kaczyński weiter, müsse ganz besonders verteidigt werden. Wenn man berücksichtigt, dass Polen auf der Rangliste der Pressefreiheit in den vergangenen Jahren von Platz 18 (2015) auf Platz 62 (2020) gefallen ist, wird offensichtlich, dass der Freiheitsbegriff vom polnischen Regierungslager völlig anders interpretiert wird als von der Organisation „Reporter ohne Grenzen“, die diese Rangliste erstellt – Freiheit scheint als die Möglichkeit verstanden zu werden, marginale, kontrafaktische oder ideologisch motivierte Äußerungen ungefiltert und ungebremst veröffentlichen zu können.

 

Der Kampf um die Medien 

Angesichts dessen gewinnen auch die jüngsten Schritte der Regierung, um größeren Einfluss auf den einheimischen Medienmarkt zu gewinnen, neue Bedeutung. Im Dezember hatte der im Staatsbesitz befindliche, politisch kontrollierte Mineralölkonzern Orlen erklärt, der Passauer Mediengruppe ein großes Netz polnischer Regionalzeitungen und regionaler Internetseiten abzukaufen. Verantwortlich hierfür war niemand anderes als der nun zum „Menschen der Freiheit“ gekürte Firmenchef Daniel Obajtek. Kaczyński hierzu:

„Ich finde, dass das eine der besten Nachrichten ist, die ich in den letzten Jahren gehört habe. Das ist der erste Schritt in die andere Richtung. Wir hatten in hohem Maße Medien zugunsten von nicht-polnischen, hauptsächlich deutschen Akteuren abgestoßen, mit einem riesigen Verlust für unsere Souveränität, nicht nur für uns als Staat, sondern als Volk“. 

Die Medien in deutschem Besitz hätten in den vergangenen Jahrzehnten „eine gewaltige Rolle bei der Demoralisierung der Jugend gespielt, einer – könnte man sagen – überaus vulgären, primitiven Demoralisierung“. Durch die Entscheidung von Obajtek sei nun eine Möglichkeit entstanden, „diese in nationalem Sinne fatale Situation“ „gesunden“ zu lassen.

Ob die von einer überalterten Leserschaft und mit sinkenden Auflagenzahlen kämpfenden Regionalzeitungen tatsächlich die polnische Jugend demoralisiert haben, ist arg zu bezweifeln. Aber schon seit vielen Jahren hat Kaczyński gegen den ausländischen Einfluss auf dem polnischen Medienmarkt gewettert, und zahlreiche Politiker der Rechten haben es ihm nachgemacht. Zuletzt hatte Andrzej Duda im Präsidentschaftswahlkampf die These aufgestellt, deutsche Zeitungen würden die politischen Entscheidungen in Polen beeinflussen wollen.

Polen, so Kaczyński weiter, brauche eigene Medien, „nichtpolnische Medien sollten in unserem Land die Ausnahme sein“. Der Weg dorthin sei nicht einfach, doch „es ist der einzige Weg zur Verteidigung unserer Freiheit, unserer Souveränität, da die Medien etwas sind, was man mit wichtigen Teilen des Gehirns und des menschlichen Nervensystems vergleichen kann. Wem dies genommen würde, wäre kein Mensch im vollen Wortsinn. Und auch ein Volk, dem dies genommen wird, ist tatsächlich in einer sehr schwierigen Situation.“

In seiner Argumentation verbindet Kaczyński dies mit der historischen Entwicklung Polens, die den Aufbau einheimischen Kapitals stark erschwert habe, und erklärt, dass Kapital durchaus eine Nationalität besitze. Wenn gesagt werde, dass Beziehungen zwischen Staaten und Nationen nicht mehr wichtig seien, „so sind das Märchen, und zwar Märchen, die ganz absichtlich von den Stärksten erzählt werden, die ganz einfach immer noch eine sehr starke Tendenz haben, die Schwächeren zu dominieren, sie zu beherrschen“. Auch wenn er in diesem Abschnitt Deutschland nicht beim Namen nennt, so deckt sich diese Bemerkung doch völlig mit den häufigen Vorwürfen von der rechten Seite in Polen, Deutschland setze als führende Macht in der Europäischen Union alles daran, Polen erneut zu kolonisieren. Angesichts dieser Dämonisierung des Nachbarn sind Schritte wie die „Repolonisierung“ der im deutschen Besitz befindlichen Zeitungen wichtige symbolische Handlungen, mit denen die PiS ihrer Wählerschaft gegenüber demonstrieren kann, wie konsequent und erfolgreich man agiert (nach dem Motto: „und wieder haben wir es den Deutschen gezeigt“). Über die „Repolonisierung“ bzw. „Dekonzentrierung“ weiterer unabhängiger Medien in Polen wird bereits seit Monaten spekuliert.

 

Ein neuer Ministerpräsident?

Sehr stark kommentiert wurde in den polnischen Medien Kaczyńskis Lob für Orlen-Chef Daniel Obajtek. Dieser langjährige Bürgermeister der kleinpolnischen Gemeinde Pcim nimmt seit Regierungsantritt der PiS 2015 wichtige Funktionen im Bereich der staatlich kontrollierten Wirtschaftsunternehmen ein. Kaczyński sagt über Obajtek, er habe „Organisationstalent”, er sei im Personenreservoir der PiS „eine hervorstechende Persönlichkeit“, er habe das Unternehmen Orlen so gut entwickelt, dass es trotz Widerstand gegen den Zusammenschluss mit der Konkurrenzfirma Lotos nun auch von der Europäischen Union ernst genommen werden müsse. „Wer dagegen war, das waren nicht nur Schwergewichte in europäischem Maßstab, sondern globale Schwergewichte”. Und schließlich folgt noch ein großes Lob: „Er [Obajtek] ist eine Hoffnung. Eine Hoffnung nicht nur unseres politischen Lagers, nicht nur einer partikularen Gruppe, sondern Polens und aller Polen, die nur das Wohl unserer Nation möchten.“

Ein unverdrossener Kämpfer gegen die Interessen des Westens, des internationalen Kapitals, ein treuer Parteisoldat – diese Hinweise veranlassten zahlreiche politische Beobachter in Polen, eine baldige Auswechslung von Ministerpräsident Mateusz Morawiecki gegen niemand anderen als Daniel Obajtek zu vermuten. Während Morawiecki im Kampf gegen die Pandemie Schwächen gezeigt hat und auch im PiS-Lager viele Gegner besitzt, die ihm zum Beispiel vorwerfen, nicht gart genug gegen die Brüsseler Bemühungen gekämpft zu haben, Polens Rechtstaatlichkeit kritisch überprüfen und gegebenenfalls sanktionieren zu lassen, ist Obajtek ein relativ junger, bislang politisch wenig profilierter, aber in der PiS ausgezeichnet vernetzter Manager. Er könnte Kaczyński auch eine große Sorge abnehmen, die ihn seit längerer Zeit umtreibt – wer nämlich nach ihm die Führung der PiS übernimmt.

 

Fazit

Es dürfte wie oft beim Handeln Kaczyńskis sein: Einige der von ihm angesprochenen Themen werden das politische Geschehen der nächsten Zeit bestimmen, andere weniger. Vieles liegt daran, was von den ihm nahestehenden Akteuren aufgegriffen und zu konkreten Projekten umgeformt wird. Auch die Unwägbarkeiten der Corona-Krise werden eine Rolle spielen. So könnte Mateusz Morawiecki, den Kaczyński Ende 2017 aus dem Ärmel zog, um der Regierung neues Leben einzuflößen, solange noch als Aushängeschild der Regierung dienen, solange die Krise nicht ausgestanden ist, um erst dann einem neuen As aus dem Ärmel Platz zu machen. Die Krise könnte aber auch dazu dienen, unpopuläre oder problematische Vorhaben umzusetzen, etwa weitere Veränderungen auf dem Medienmarkt oder die Beschränkung bestimmter Bereiche der universitären oder berufsständischen Selbstverwaltung. Festzuhalten ist jedenfalls die nach wie vor starke ideologische Fundierung von Kaczyńskis politischen Plänen, die jedoch letztlich – und das ist auch nichts Neues – in erster Linie wie eine Absicherung seines unbedingten Machterhaltungswillens wirken. 

 

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Quelle: Das Interview wurde am 28.1.2021 auf wPolsce.pl ausgestrahlt und mehrfach wiederholt. Der vorliegende Text basiert auf einem ausführlichen Bericht der staatlichen Presseagentur PAP, hier in einer vom Internetportal Onet.pl übernommenen Fassung (https://www.onet.pl/informacje/onetwiadomosci/jaroslaw-kaczynski-o-nagrodzie-czlowieka-wolnosci-dla-daniela-obajtka/08ytf65,79cfc278). Die Zitate wurden mit dem Originalinterview verglichen.