04.06.2020 - Gesellschaft , Kultur, Geschichte, Erinnerungskultur

„Der letzte Walzer“ – Polenoperette ohne Polen

10 Notenbeispiel zugeschnitten2

Die Geschichte Polens in der deutschen Operette ist eine Geschichte voller Überraschungen und mit einigen Welterfolgen, zu denen vor allem Carl Millöckers Der Bettelstudent gehört.[1] Aber auch Oscar Straus (1870-1954) landete einen „polnischen“ Operettenerfolg, vor genau 100 Jahren. Nachdem er vor dem Ersten Weltkrieg in Wien bekannt geworden war, vergab er die Premiere seines neuen Werks 1920 nach Berlin: Der letzte Walzer ist eine wirksame Operette mit Schlagern und Walzern, deren Handlung 1910 in Russisch-Polen spielt, auf einem Schloss bei Warschau sowie in Warschau selbst. Graf Dimitry Wladimir Sarrasow ist zum Tode verurteilt, weil er Vera Lisaweta Opalinski vor den Nachstellungen des Prinzen Paul, eines Vetters des Zaren, beschützt hat. Zur Strafe soll diese mit dem alten General Miecu Krasinski verheiratet werden. Beim Verlobungsball im Schloss des Prinzen beteiligt sich Sarrasow, dessen letzter Wunsch dies war, am Ball, und tanzt den „letzten Walzer“, bei dem er und Vera Lisaweta sich verlieben, lehnt jedoch die mögliche Flucht ab und kehrt zurück in den Kerker. Vera Lisaweta bezirzt aber den Prinzen und erreicht mit einer List – und dem berühmt gewordenen „O-la-la-Chancon“ https://www.youtube.com/watch?v=CLdi3eGHO7c – die Freilassung ihres Geliebten.

Das Textbuch von Julius Brammer und Alfred Grünwald wartet mit einem vagen Setting auf: Wer in der Operette Pole und wer Russe ist, bleibt unklar, schon alleine aufgrund der merkwürdigen Kombinationen von russisch klingenden Vornamen und meist polnisch klingenden Nachnamen. So heißt der Neffe von General Krasinski „Baron Ippolith Mrkowitsch Baschmaischkin“, Veras Mutter „Alexandrowna Nastasja Opalinski“ und ihre Schwestern tragen die putzigen Namen Annuschka, Hannuschka, Petruschka und – sieh an! – sogar Babuschka. Daraus ist zu schließen, dass es letztlich in dieser Operette nicht um ein stimmiges Bild polnischer und russischer nationaler Charaktere geht, sondern um ein operettenhaft verfremdetes, oft auch nur lachhaft unsinniges Sujet. Und so vermischen sich denn Polkatänze („Bin euer Polkakavalier, / O kommt, o kommt und tanzt mit mir“ https://www.youtube.com/watch?v=wFpfTL31P48) mit Reminiszenzen an Russland („Ja, am schönen Newastrand“, „Es klingt die Balalaika, / So schmachtend süß und hold, / Es leuchtet in den Gläsern / Der Tschay wie rotes Gold!“ https://www.youtube.com/watch?v=qXy_i1G8INM), während Polen weder auf textlicher noch auf musikalischer Ebene sonderlich deutlich auftaucht. Denn der Spiegeltanz aus dem 2. Akt, den Volker Klotz in seinem monumentalen Operettenbuch als „aufpeitschenden polnischen Nationaltanz“[2] bezeichnet, ist in Wirklichkeit eine Kreuzung aus Walzer und Tango, und der von Vera Lisaweta gesungene Refrain endet mit dem pseudorussischen Ausruf „Stavoy!“

Insofern handelt es sich bei Der letzte Walzer um einen doppelt kolonialen Blick – aus den postimperialen Zentren der deutschen Operettenwelt nach Polen, das jedoch in Wirklichkeit als Abbild russischer Lebens- und Salonwelten dargestellt wird. Es ließ sich übrigens je nach Inszenierung auch gar nicht mehr als Polen erkennen, dann nämlich, wenn die „polnischen Nationalkostüme“ als prächtiger Operettenschmuck fortfielen.

Diese mögliche Auslöschung Polens in Oscar Straus’ „polnischer“ Operette kam in Berlin gut an, wohin die Uraufführung stattfand. Jedenfalls erkannten einige Berliner Zeitungen nach der umjubelten Erstaufführung am 12. Februar 1920 im „Berliner Theater“ an der Charlottenstraße in dem Werk nichts Polnisches, sondern meinten, das Stück spiele im „zarischen Russland“, andere verwiesen auf das „alte Russisch-Polen“, verwiesen auf die „nationalgefärbte Balalaika-Musik des Ballfestes“, die „Berliner Volkszeitung“ wiederum sah in Vera Lisaweta ein „Polenmädchen“, in Dimitry Wladimir Sarrasow einen „polnischen Grafen“ und wollte schließlich einen „polnischen Ball“ erkannt haben. Insgesamt gefiel die Operette außerordentlich: Es sei, so die „Berliner Börsenzeitung“, die erste Operette, „die man seit langer Zeit ohne Brechreiz anhören kann“, vor allem „die Königin der deutschen Operette“ Fritzi Massary feierte in dem Stück Triumphe.

10 Filmpostkarte 1927

Nachdem sie bereits vielfach nachgespielt wurde, erreichte Der letzte Walzer am 27. Oktober 1921 auch Wien, wo die Operette im „Theater an der Wien“ aufgeführt wurde, mit einem anderen Operettenstar in der männlichen Hauptrolle, dem Tenor Hubert Marischka. Möglicherweise war es der Inszenierung zu verdanken, an der auch die russische Tanztruppe Eltzoff mitwirkte, jedenfalls stand für die Wiener Presse außer Frage, dass sich die Handlung in Russland abspiele: „Die Handlung spielt in Rußland“, „Schauplatz Rußland von anno dazumal“, „Die Musik hält das russische Kolorit fest“ – dies nur einige der Kommentare. Wie in Berlin so entwickelte sich das Werk auch in Wien zum Zugstück – bereits im April 1922 stand die 200. Aufführung an. 1926 war weltweit bereits eine Aufführungszahl von 1.961 erreicht.  In Polen kam es zumindest 1935 im Wilnaer Musiktheater „Lutnia“ zu einer Einstudierung.

Die Operette wurde dreimal verfilmt – 1927 als Stummfilm (hieraus das Szenenfoto oben) und mit einer auf den Balkan verlegten Handlung, 1934 mit Schauplatz St. Petersburg und 1953 endlich mit Handlungsort Warschau – hier nennt sich die von Eva Bartok gespielte Gräfin auch korrekt „Opalinska“ mit einem „a“ und lässt sich von Curd Jürgens als Sarassow verführen. Und so demonstriert Der letzte Walzer, wie beliebig Schauplätze und „nationale“ Einbettungen von Operetten sein können.

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[1] Auszug aus einem umfangreicheren Text zu diesem Thema, der demnächst mit wissenschaftlichem Apparat erscheinen wird.

[2] Klotz, Volker: Operette. Porträt und Handbuch einer unerhörten Kunst. München, Zürich 1991.