24.07.2020

Der Berg ruft. "Schneekoppe" von Izabela Liwacz

2020 20 Sniezka

Die Ferien 2020 haben in Deutschland begonnen und viele fragen sich, wohin sie in diesem Sommer fahren werden. Über die Hälfte der Deutschen verzichtet in diesem Jahr sogar auf eine Auslandsreise und hat vor, Urlaub in Deutschland zu machen oder gar zu Hause zu bleiben. Das muss nicht sein!

Glaubt man dem Büchlein von Izabela Liwacz über die Schneekoppe, bietet eine Reise ins Riesengebirge beides: Auch wenn der Berg heute im nicht weit entfernten Niederschlesien liegt, bietet er gerade den Deutschen einen Mythos- und Sehnsuchtsort, den die Polen in den letzten Jahrzehnten gekonnt weiter pflegen. Im Schlepptau der Corona-Krise kann eins versprochen werden, der einst „meist besuchte Gipfel Europas“ wird in diesem Jahr keinesfalls überfüllt sein.

Aber was ist das – ein Sehnsuchtsort? Und warum ein Sehnsuchtsort der Deutschen? Und was ist das eigentlich – die Schneekoppe, abgesehen von einer alltäglichen Frühstücks-Müslimarke? Liwacz geht auf die Geschichte ein und verortet den höchsten Berg der Sudeten in der deutschsprachigen Kulturgeschichte Schlesiens (und somit auch Österreichs und Preußens), deren große Persönlichkeiten dem Berg schon seit der Aufklärung Einiges an Aufmerksamkeit schenkten (Alexander von Humboldt), um ihn dann in der Romantik mit übernatürlichen Kräften und vor allem ästhetischen Attributen auszustatten, so wie dies zum Beispiel Caspar David Friedrich („Wanderer über dem Nebelmeer“) tat. Das erwähnte Bild wie auch Hunderte andere Berglandschaftsmotive zahlreicher niederschlesischer Verlage trugen zur Verbreitung des Mythos des Riesengebirges unter der aufkeimenden Natur- und Fremdenverkehrsbewegung des 19. Jahrhunderts bei. Zahlreiche Bergsteiger bevölkerten die neu ausgebauten Wanderwege zur Schneekoppe, darunter prominente Künstler und Schriftsteller wie Theodor Fontane und Heinrich von Kleist, die touristische Infrastruktur erlebte mit dem Errichten immer modernerer und geräumigerer Bauden einen Wandel: Während am Anfang des 19. Jahrhunderts Bergwanderer einem romantischen Ruf folgten und die Kraft der Natur auf dem Gipfel zu spüren suchten, kamen Hundert Jahre später dann schon „die Massen“.

Der Berg, wie die gesamte Gegend, wurde im ausgehenden Mittelalter von meist deutschsprachigen Bergleuten, Handwerkern und Bauern besiedelt und … bewandert, die erste nachgewiesene Gipfelbesteigung datiert aus dem Jahr 1465. Im 17. Jahrhundert errichtete Graf Leopold von Schaffgotsch, kaiserlicher Kammerherr und Landeshauptmann von Schweidnitz-Jauer, eine erste Kapelle auf der Schneekoppe als Zeichen seines Machtanspruchs auf das Land und Symbol der habsburgischen Gegenreformation in Schlesien. Immer wieder wurde die Kapelle des Hl. Laurentius zerstört oder niedergebrannt, nach der Säkularisierung in Preußen machte sie 1806 Platz für die erste Wandererbaude. Bis heute aber erfüllt den Gipfelstürmer oben das Gefühl der Freiheit, viele spüren die Himmelsnähe, besondere magnetische Kräfte, ja sogar kosmische Strahlung, wenn sie die Naturgewalten von oben aus betrachten und mit den entfachten Elementen geistig verschmelzen.

Und viele wollten ganz in der Nähe dieses besonderen Ortes sein. Das benachbarte Hirschberger Tal wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts zum Ferien- und Zufluchtsort bedeutender preußischer und schlesischer Familiengeschlechter, die allesamt dort ihre Landsitze erbaut haben. Darunter waren die herrschenden Hohenzollern und bedeutende Adelsfamilien wie die Grafen von Reden, von Hoyms, von Zedlitz, von Richthofen, Kohle- und Industriebarone wie die Schaffgotschs. Das Tal wurde mit seinen zahlreichen Schlössern und Parkanlagen zum „Schlesischen Elysium“. Nach Jahrzehnten des Verfalls erwachen heute viele dieser einstigen Perlen aus ihrem Dornröschenschlaf und bieten mit aufwendigen Restaurierungsarbeiten nicht nur einen wunderschönen Anblick, sondern tragen als Restaurants oder Herbergen zur Vergrößerung der touristischen Infrastruktur bei. Nicht alle Zeugen jener Glanzzeit hatten Glück, für viele ist es heute zu spät.

Zurück zum Buch: Es ist kein Fremdenführer mit Wanderkarten und Veranstaltungstipps, das sollte sich jeder Fremdengast selbst besorgen. Das Buch von Liwacz, selbst in Hirschberg aufgewachsen und jahrzehntelang als Bergführerin tätig, gleicht dagegen einem kleinen Essay zur Kulturgeschichte eines der wichtigsten Berges der deutschen Geistes- und Märchengeschichte, vergleichbar vielleicht nur mit der Sagenwelt eines Brockens oder den Legenden um den Watzmann. Die wichtigsten Erzählstränge seien hier noch einmal erwähnt: Die touristische Erschließung des Berges, die Geschichte der Gipfelkapelle, die Geistes- und Kulturgeschichte der umgebenden Landschaft und die Geschichte der Segelflugschule, die 1924 im benachbarten Grunau gegründet und bis heute tätig ist.

Das Beste kommt wie immer zum Schluss: Über der Schneekoppe wacht immer noch der Rübezahl, ein uriger Berggeist, dem Eigenschaften wie „launisch, ungestüm, sonderbar“ in vielen künstlerischen, literarischen und musikalischen Werken zugeschrieben wurden, dessen Metamorphosen, so Liwacz, mit dem menschlichen Lebenswandel vergleichbar sind: „Zuerst ist er ein kleines Wickelkind an der Brust der Mutter, dann ein ehrgeiziger Knabe oder ungehorsamer Bursche, danach fürsorglicher Familienvater und zuletzt ein rüstiger, launischer Greis.“ Heute thront er zum Beispiel am Eingang zur Gaststätte „Beim Geist der Berge“ in Karpacz (Krummhübel) und an zahlreichen touristischen Orten. Die Polen haben ihn „adoptiert“, er ist es, der die Gäste ins Riesengebirge immer noch ruft und begleitet. In der erwähnten Gaststätte, so Liwacz, wird alles „in Portionen serviert, die nur ein Rübezahl schaffen könnte. Sollten sich die Speisen im Magen nicht richtig vertragen, hilft danach ein Gebirgskräuter-Likör wie Stonsdorfer oder Żubrówka, eine polnische Medizin“.

Also auf zur Schneekoppe, Rübezahl ruft!

 

Izabela Liwacz: Schneekoppe – Mythos und Sehnsuchtsort, Görlitz 2020, 46 Seiten, geb., Abbildungen s/w, A5. Preis: 5,79 Euro [zur Verlagsseite]