23.09.2021 - Geschichte, Kultur, Gesellschaft , Erinnerungskultur

Das Oberschlesien meines Vaters (2)

Zu Besuch in Oberschlesien vor dem Haus meiner Tante 1995 2

                                                      Zu Besuch in Oberschlesien vor dem Haus meiner Tante 1995

Vorab:  Zum Teil 1

Bildungsaufstieg durch Schule- und Hochschule

Die Bedingungen, unter denen mein Vater aufwuchs, waren prekär. Der Weg zum beruflichen und späteren sozialen Aufstieg lag in der Bildung, der ihm seiner Aussage nach nur gelang, da er – durch dessen psychische Krankheit – keinen Vater hatte, der auf einer Berufsausbildung bestanden hätte, wie sonst in Oberschlesien üblich.

Die Schule hatte für Kinder wie damals meinen Vater allein schon aufgrund ihres erzieherischen Beitrags eine äußerst wichtige Rolle gespielt:

„Wir haben so gut wie kostenlos Mittagessen bekommen, uns überhaupt mal sattessen können. Sie hat zudem sehr viele Erziehungsaufgaben übernommen und Freizeitbeschäftigung angeboten.“

Durch sie gelang die sprachliche Sozialisation im Polnischen, denn zu Hause wurde Oberschlesisch und unter den Eltern mit Vorliebe klammheimlich Deutsch gesprochen. Deutsch als öffentliche Alltagssprache zu verwenden war nach 1945 und den deutschen Verbrechen an Polen nicht möglich – das hätte Nachteile und Repressionen bis hin zur Aussiedlung nach sich ziehen können.

„Wir hatten keine Ahnung und dachten ja, wir können schon Polnisch. Polnisch habe ich aber erst durch die polnische Schule gelernt. [...] Unser Oberschlesisch wurde fast schon verfolgt. […]

Erst auf Polnisch habe ich gelernt, mich literarisch auszudrücken.“

Im Gymnasium bekam er dann sogar ein kleines Stipendium für Schüler:innen aus sozial schwachen Familien und half in der Bibliothek aus. Dort wurden die Trennlinien zwischen den Autochthonen und den Zugezogenen v. a. im Geschichtsunterricht sichtbar, als ein großer Teil der Ansässigen für ihre Väter und Onkel in der Wehrmacht[1] gehänselt wurde:

„Alle Kinder, die zugezogen waren, konnten in der Schule mit Eltern in der [bürgerlichen] Heimatarmee oder [kommunistischen] Volksarmee glänzen – und wir Oberschlesier nicht. Uns war es unangenehm, da die meisten unserer Eltern [auf der deutschen Seite] quasi gegen ihre Familien kämpften. Man hat in der Schule natürlich versucht, diese Grenzen zu verwischen – das ist sogar nicht schlecht gelungen. Ich hatte später viele polnische Freunde und wir waren richtig eng miteinander.“

Der Traum zu fliegen, mündet in der Migration

Mein Vater merkte bald, dass ihm Oberschlesien wenig Attraktives bot:

„Ich wollte da weg, von dem Dreck – jede Woche Fensterputzen – und von dieser schrecklichen Armut... Diese ganzen industriellen Berufe – vor denen habe ich mich gefürchtet.“

Nach dem Abitur machte er zunächst zwar eine bodenständige Fachausbildung in der Gastronomie, interessierte sich jedoch vor allem für Flugzeuge und Fliegerei. Er versuchte, an der polnischen Militärpiloten-Akademie in der Nähe von Warschau aufgenommen zu werden. Die Aufnahmeanforderungen waren aber sehr anspruchsvoll, so dass er wie die meisten abgelehnt wurde. Beim Militärdienst verfolgte mein Vater einen realistischeren Plan, er wollte das neuartige Touristikmanagement-Studium in Poznań aufnehmen, was ihm auch gelang. Heimlich plante er dann die Ausreise nach England zu seinem dort nach dem Krieg gebliebenen Onkel, bekam aber letztlich kein Besuchsvisum – sein Wunsch, aus Polen zu flüchten, war zu offensichtlich.

8 Vater Flugplatz Moeckmuehl 2019
Mein Vater an einem Flugplatz in Südwestdeutschland, 2019.

Das Leben hatte anderes mit ihm vor, wie das Kennenlernen seiner künftigen Frau und meiner Mutter. Als einer der Jahrgangsbesten seines Studiengangs wurde er von der Präsenzpflicht der Hochschule freigestellt, profitierte von einer verkürzten Wartezeit auf eine staatliche Wohnung und konnte nebenbei arbeiten, um den dafür benötigten finanziellen Eigenbeitrag zu verdienen. Zum Ende des Studiums ergab sich für ihn die Gelegenheit, in einer Ost-Berliner Glashütte zu jobben, um seiner jungen Familie – in der Zeit war ich nämlich geboren worden – einen besseren Start zu ermöglichen. Für die Reise in den „DDR-Bruderstaat“ brauchte man keinen Pass, sondern es genügte ein polnisches Ausweisdokument.

Die Unzufriedenheit mit der schwierigen wirtschaftlichen Situation in Volkspolen, die als ungerecht empfundenen Verhältnisse sowie sicher daneben der Vergleich mit bereits in den Westen ausgereisten Aussiedler:innen im Familien- und Freundeskreis brachten ihn schließlich dazu, die in der Bundesrepublik vielen eingeräumte Möglichkeit der Aussiedlung nach Deutschland wahrzunehmen. Ganze Zwei Drittel der aus Polen eingewanderten ca. 1,5 Mio. Aussiedlerinnen und Aussiedler in die Bundesrepublik von 1950 bis heute kamen wohl aus Oberschlesien.[2]

„Man kann sich später fragen: Wozu bist Du in den Westen gefahren, wenn der Westen zu Dir kam? Doch der Systemwechsel und diese ganzen positiven Veränderungen in Oberschlesien, sie waren damals nicht vorhersehbar. […]

Selbst ich als Leiter einer großen Ferienerholungsanlage musste bei den Bauern in der Gegend um Kartoffeln betteln. Das schlug aufs Gemüt. So was wollte ich meinen Kindern ersparen.“

In der Bundesrepublik Deutschland haben meine Eltern dann leider einige desillusionierende Erfahrungen gemacht. Allen voran wurden ihre Studienabschlüsse nicht anerkannt, was eine adäquate Integration erheblich erschwerte. Sie haben außerdem nicht immer nur Offenheit und Freundlichkeit erfahren. Das kam meinem Vater aber schon aus Polen bekannt vor:

„Das immerwährende Dilemma des Oberschlesiers: Ist man deutsch oder polnisch? Für die Deutschen ist man polnisch, für die Polen deutsch.“

Viele Sprachkurse, berufliche Stationen und ein Umzug in den Süden folgten, bis sie Fuß gefasst haben in Deutschland. Mein Vater wurde Großhandelskaufmann mit Mittel- und Osteuropafokus und meine Mutter baute sich letztlich ein kleines Gewerbe auf.

Aufgrund der Erfahrung meines Vaters, den muttersprachlichen Zugang zum Deutschen verwehrt bekommen zu haben, und ähnlicher Erfahrungen meiner Mutter stand für meine Eltern fest, dass sie mit uns Kindern möglichst in ihrer Muttersprache Polnisch sprechen. Das gebe ich nun an meinen Nachwuchs weiter – in der Berliner Metropole wird dies allerdings nicht so kritisch beäugt wie vor Jahren in der deutschen Provinz.

Unser Oberschlesien wirkt nach

Die berichtete Geschichte meines Vaters mit Aufstiegs- und Migrationserfahrungen – so individuell sie ist – beschreibt exemplarisch ein oberschlesisches Schicksal nach dem Krieg. Mein Vater nennt sich heute selbst „oberschlesischer Europäer“.

Wie sehr bin ich aber nicht nur deutsch, polnisch oder europäisch, sondern auch oberschlesisch – und wozu ist das gut? Was ich während der Arbeit an diesem Artikel herausfand, ist am Ende nicht überraschend: Selbst heute trage ich einige Aspekte oberschlesischer Mentalität und oberschlesische Prägungen im Gepäck – vor allem wohl das Multiethnische und die interkulturelle Offenheit. Ich merkte aber sonst: Mein mentales Oberschlesien ist nicht exakt das gleiche wie das meines Vaters. Ähnlich wie einige andere aus meiner Generation[3], bin wohl flexibler, wo Oberschlesien anfängt und wo es aufhört und wer sich zu Oberschlesier:innen zählen darf.

 

Ich in der Nikiszowiec-Arbeitersiedlung (UNESCO-Weltkulturerbe), 2014.

9 Nikiszowiec 2014Zufällig lebe ich derzeit unweit der ehemaligen Glashütte am Ostkreuz, in der mein Vater als Student jobbte. In meinem Berliner Altbauhaus erlebe ich gute Nachbarschaft, gerade weil die vielen zugezogenen Berliner:innen vor Ort keine Familie haben. Hier spielen die Kinder ebenfalls im Hinterhof zusammen. Ab und an besuche ich Oberschlesien, manchmal besuchen meine oberschlesische Familie und Freunde mich. Es verbindet uns viel, nicht zuletzt das Interesse an Familienforschung.

Seit einigen Jahren arbeite ich beim Deutschen Polen-Institut am Projekt des entstehenden „Ort des Erinnerns und der Begegnung mit Polen“[4] in Berlin, das Deutsche und Polen durch die Auseinandersetzung mit der deutschen Besatzung Polens einander näherbringen und das Wissen und Empathie fördern soll. Dies gilt auch über das Thema des Zweiten Weltkriegs hinaus, denn der neue Ort soll zukunftsorientiert zur deutsch-polnischen Versöhnung und Verständigung beitragen. Heutzutage wird immer wieder berichtet, dass Kriegserfahrungen wie Traumata intergenerationell auch bei den sog. Kriegsenkel:innen nachwirken können – für mich waren die hybriden oberschlesischen Erfahrungen meiner Familie allen voran sinnstiftend. Insofern bin ich Oberschlesien dankbar, denn es motiviert mich in meinem verbindenden, deutsch-polnischen Engagement.



[1] Vgl. Ebd. Schätzungen zufolge wurden auf polnischem Gebiet während des Zweiten Weltkriegs – bei Weitem nicht immer freiwillig – fast eine halbe Million ehemaliger Bürger der Zweiten Republik Polen, darunter ca. 200 Tsd. Oberschlesier, aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Deutschen Volksliste in die Wehrmacht eingegliedert.

[2] Vgl. Michalczyk, Andrzej: Migrationen aus Oberschlesien, in: Deutsches Polen-Institut (Hrsg.), Jahrbuch Polen 2021, Bd. 32 / Oberschlesien, Wiesbaden 2021.

[3] Vgl. Rokita, Zbigniew (2020): „Kajś. Opowieść o Górnym Śląsku“, bisher nur in Polnisch erschienen [Irgendwo. Eine Erzählung über Oberschlesien].