15.12.2022

Das Lesejahr 2022: Buchempfehlungen aus dem DPI

20221209 151233

Das Jahr 2022 neigt sich langsam aber sicher seinem Ende zu und so beginnt die Zeit, in der Jahresrückblicke Hochkonjunktur haben. Wir blicken an dieser Stelle durch die literarische Brille auf das vergangene Jahr und enden mit einem ganzen Karton von Büchern, die die Mitarbeiter:innen des DPI 2022 beeindruckt haben.

Prof. Dr. Peter Oliver Loew, Direktor

Jacek Dehnel, Dysharmonia czyli pięćdziesiąt apokryfów muzycznych, Narodowe Forum Muzyki 2018.

Jacek Dehnel ist in Deutschland kein Unbekannter: Mit Romanen wie Lala, Saturn oder – ganz neu – Aber mit unseren Toten hat er auf seine sensible Prosa aufmerksam gemacht. Etwas ganz Besonderes hat er aber mit seinem Buch Dysharmonia oder Fünfzig musikalische Apokryphen geschaffen: Es enthält fiktive Opernhandlungen fiktiver Komponisten, aberwitzige Texte über mit Musikinstrumenten begangene Morde sowie Biographien ausgedachter Tonschöpfer. Prädikat: Großartig absurd und stilistisch phänomenal.

Dr. Andrzej Kaluza, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit

Szczepan Twardoch: Demut, Rowohlt 2022.

Twardoch zeigt in seinem neuen Roman Demut die Ambivalenz des heutigen Mannes zwischen dem Wunsch, von ihm erwartete Rollen einzunehmen und der ihn überfordernden Realität, an der er scheitert. Diese aktuelle „Krise des Mannes“ zeigt der Autor gekonnt in einer historischen Verkleidung in Gestalt eines oberschlesischen Nobody namens Alois Pokora. Ich empfehle das Buch nicht nur denjenigen, die sich für Oberschlesien und die Kondition der dortigen Männer interessieren, sondern allen, die sich für gesellschaftliche Umbrüche in der Literatur begeistern: Krieg, Revolution, Angst, Sehnsucht, Abstieg – all das verdankt das Buch der Epoche, in der die Handlung um 1918-1919 spielt. Gleichzeitig steht ein Mann im Mittelpunkt, der sich seiner Stellung, seines Erfolges nicht sicher ist und lieber kleinere Brötchen backen möchte, sich duckt, sich auch willentlich erniedrigen lässt. Zwischen Pflicht und Traum zerrissen, von den Eigenen verschmäht, von Fremden missachtet, flieht er vor der Wirklichkeit: bürgerlichem Traum, Anstellung, Eheglück, auch vor der Politik.

Dr. Matthias Kneip, wissenschaftlicher Mitarbeiter

Alexandra Tobor, Sitzen vier Polen im Auto. Teutonische Abenteuer, Ullstein 2012.

Zugegeben, ich bin spät dran. Zu meinem eigenen Nachteil. Ich habe tatsächlich zehn Jahre gebraucht, bis ich das Buch, das schon 2012 erschienen ist, zur Hand genommen habe. Aber auch ein spätes Glück ist Glück. Es war einfach nur ergreifend zu lesen, wie die kleinen Alltagsdinge des Westens im Kommunismus als kleine Wunder wahrgenommen wurden und wie die Hauptfigur ihre Erlebnisse im neuen Wunderland, in das sie ausgesiedelt ist, erlebt hat. Ich werde nie wieder in einen Aldi gehen können, ohne beim automatischen Öffnen der Glastür an ein Schloss denken zu müssen, das seine Pforten für mich auftut. Das Buch hat mich gelehrt, das Staunen über die Dinge des Alltags nicht aufzugeben mit dem Alter.

Anna Jankowska, Projektmitarbeiterin

Anna Bikont, Helena Łuczywo, Jacek, Agora 2018.

Ein fesselndes Porträt einer der wichtigsten Persönlichkeiten der polnischen antikommunistischen Opposition. Anna Bikont und Helena Łuczywo erzählen nicht nur die faszinierende Lebensgeschichte von Jacek Kuroń, aber auch die Geschichte der linken Unabhängigkeitstradition in Polen und der politischen Ereignisse von der Kriegszeit bis zum Jahr 2004. Diese sorgfältig recherchierte historische Reportage erinnert an das Erbe von Kuroń und hilft dabei, die heutige polnische Politik ein Stück weit besser zu verstehen.

Emilie Mansfeld, wissenschaftliche Mitarbeiterin

Jakub Małecki, Saturnin, Secession 2022.

Packend und mit trockenem Humor spinnt Małecki als einer der jüngsten Shootingstars der polnischen Literatur eine Familienerzählung aus mehreren Perspektiven, die im Erleben des Zweiten Weltkriegs in Polen ihren Ursprung hat. Überaus feinfühlig verdeutlicht er, wie unterschiedlich die Nachkriegsgenerationen in Polen – bewusst oder unbewusst – noch bis heute vom Krieg geprägt sind. Dabei entsteht ein fantastischer und vielschichtiger Roman, der durch die realitätsnahen Erlebnisse der Opfer, der Widerstandskämpfer:innen und derjenigen, die sich irgendwo dazwischen bewegt haben, an Tiefe gewinnt.

Karolina Walczyk-Rosar, Bibliotheksleitung

Dominika Słowik, Tal der Wunder. Der Esoteriker, die Genossin und der Arsch im Heiligenschein. Katapult Verlag, 2022.

Im auf den ersten Blick sehr gewöhnlichen kleinen Dorf Cukrówka in Kleinpolen passieren unglaubliche Dinge. Mit einer großen Dosis Fantasie und Groteske zeigt Słowik in ihrem sehr vielschichtigen und kontrastreichen Roman unterschiedliche Facetten der polnischen Seele, geprägt von der schwierigen Geschichte, Aberglauben und starker Religiosität. Eine klare Leseempfehlung für lange Winterabende. Ein Buch, das für gute Laune sorgt und gleichzeitig zum Nachdenken anregt. 

Christof Schimsheimer, wissenschaftlicher Mitarbeiter

Alexander Solschenizyn, Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch, Knaur 1974.

Die Erzählung Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch ist Solschenizyns Erstlingswerk, das 1962 in der Sowjetunion erschien. Dem späteren Nobelpreisträger gelingt es mit dem Text, verfasst auf Grundlage persönlicher Erfahrungen, den Alltag eines Gulag-Häftlings nachzuzeichnen, ohne dabei explizit die brutalen Misshandlungen von Häftlingen zu beschreiben. Wir erfahren von einem gewöhnlichen Tag im Leben des Protagonisten, einer von tausenden, an den man sich als Leser doch nie gewöhnen kann. In diesem einen Tag wird das unmenschliche Lagersystem, das schreiende Unrecht jener Welt deutlich, in dieser realistischen Erzählung tut sich die ganze Tragik der geschilderten Existenzen bodenlos auf. Der Text bleibt dabei über seine Zeit hinaus aktuell, denn er lässt erkennen, wie bis heute die Unterdrückung in den Lagern und Gefängnissen von Unrechtsstaaten funktioniert, aber auch wie bis heute der Mensch Widerstand leistet und sich, wider allen Erwartungen, nicht brechen lässt.

Bastian Sendhardt, wissenschaftlicher Mitarbeiter

Serhij Zhadan, Himmel über Charkiw, Nachrichten vom Überleben im Krieg, Suhrkamp 2022.

„Morgen früh sind wir unserem Sieg wieder einen Tag näher.“ Mit diesen Worten enden viele der Facebook-Einträge, die Zhadan zwischen dem 24. Februar und dem 24. Juni dieses Jahres verfasst hat und die nun gesammelt und ins Deutsche übersetzt erschienen sind. Das Buch zeigt den Autor als Musiker und freiwilligen Helfer in Charkiw, aber auch als aufmerksamen Beobachter des Kriegs. Die Einträge gehen einem nah, machen traurig, aber auch Mut, weil man hier die Entstehung einer neuen, besseren Ukraine aus nächster Nähe mitbeobachten darf.