Ein Wort über die Seele

Eine Seele hat man.
Keiner hat sie unentwegt
und für immer.

Tag für Tag,
Jahr für Jahr
kann ohne sie vergehen.

Manchmal nur nistet sie sich
in den Entzückungen und Ängsten der Kindheit
für länger ein.
Manchmal nur im Staunen darüber,
daß wir alt sind.

Sie assistiert uns selten
bei mühsamen Tätigkeiten,
wie Möbelrücken,
Kofferschleppen
oder beim Fußmarsch in engen Schuhen.

Beim Ausfüllen von Fragebogen
und beim Fleischhacken
hat sie in der Regel frei.

Von unseren tausend Gesprächen
beteiligt sie sich an einem,
und auch das nicht unbedingt,
lieber schweigt sie.

Wenn unser Körper zu schmerzen beginnt,
macht sie sich heimlich davon.

Sie ist wählerisch:
Ungern sieht sie uns in der Masse,
unser Kampf um Überlegenheit und der Lärm der Interessen
widern sie an.

Freude und Trauer
sind ihr nicht verschiedene Gefühle.
Nur in ihrer Verbindung
ist sie zugegen.

Wir können auf sie zählen,
wenn wir ganz unsicher sind,
und neugierig auf alles.

Unter den materiellen Dingen
mag sie Pendeluhren
und Spiegel, die emsig arbeiten,
selbst wenn niemand zusieht.

Sie sagt nicht, woher sie kommt
und wann sie uns wieder entschwindet,
doch ausdrücklich erwartet sie solche Fragen.

Es sieht so aus,
daß so, wie wir sie,
auch sie uns zu irgend etwas braucht.

 

Wisława Szymborska, "Ein Wort über die Seele", in: Der Augeblick/Chwila - Gedichte.
Herausgegeben und übertragen von Karl Dedecius. Frankfurt am MAin: Suhrkamp, 2005, S. 41

Unsere Signatur.:  U pd Szy/Au