Kopernikus-Gruppe

Mitteilung der Kopernikus-Gruppe

Auf Einladung des Deutschen Polen-Instituts und des Osteuropa-Studiums der Universität Warschau traf sich die aus deutschen und polnischen Experten bestehende Kopernikus-Gruppe zu ihrer vierundzwanzigsten Sitzung in Berlin. Thema der Beratungen war „Die Zukunft der deutsch-polnischen Gestaltungsgemeinschaft in Europa”. Das vorliegende Arbeitspapier fasst die gemeinsamen Überlegungen der Mitglieder der Kopernikus-Gruppe zusammen.

Prof. Dr. Dieter Bingen, Darmstadt                       Dezember 2011
Dr. Kazimierz Wóycicki, Warschau

Das Projekt Kopernikus-Gruppe wird von der Robert Bosch Stiftung gefördert.


Arbeitspapier XXI
Die Zukunft der deutsch-polnischen Gestaltungsgemeinschaft in Europa – Eine Herausforderung

Die sich vertiefende Schuldenkrise in den Staaten der Eurozone stellt eine ernsthafte Herausforderung für die Zukunft der deutsch-polnischen Beziehungen dar. Die europäische Politik betritt unbekanntes Terrain. Denn die bisherigen Prinzipien der Zusammenarbeit im Rahmen der gegenwärtigen EU-Verträge werden in den nächsten Monaten und Jahren grundsätzlichen Veränderungen unterworfen sein. Was bedeutet das für die Zukunft der bisher so stabilen deutsch-polnischen Beziehungen? Inwieweit werden sie durch die gegenwärtige, sich zuspitzende Krise belastet werden?

Die größte Gefahr wäre eine Schwächung der mit der europäischen Idee verbundenen Hoffnungen in beiden Ländern und die Überzeugung von der Unausweichlichkeit pessimistischer Szenarien. In Deutschland könnte dies Tendenzen zu allzu eigenständigem Vorgehen bestärken. In Polen wiederum könnten Ängste gegenüber der Europäischen Union geweckt werden. Es drohen nicht miteinander verbundene Debatten über Europa in unseren beiden Ländern.

Die Aufrechterhaltung der sich in den letzten Jahren so gut entwickelnden deutsch-polnischen Beziehungen wird von der Lösung der mit der gegenwärtigen Krise verbundenen Probleme abhängen. Davon, wie diese Krise gelöst werden wird, wird es abhängen, ob Polen und Deutschland sich einander noch stärker annähern oder ob sie sich auseinander entwickeln.

Deutschland spielt eine zentrale Rolle in der Eurozone, wie auch Berlin eine zentrale Rolle bei der Rettung der europäischen Währung zukommt. Insbesondere in Zusammenarbeit mit Frankreich hat Deutschland darauf gedrängt, dass in der Eurozone strengere Kontrollmechanismen und vertiefte Formen der wirtschafts- und finanzpolitischen Koordinierung etabliert wurden. Dieser Prozess führte bereits jetzt zu einer stärkeren Institutionalisierung und Politisierung der Eurozone. Gleichzeitig macht sich Deutschland dafür stark, Hilfs- und Stützungsmaßnahmen für Not leidende Länder an klare Bedingungen zu knüpfen. Um die Stabilisierungsmaßnahmen effizienter zu machen, sollen harte, automatische Sanktionsmöglichkeiten und Durchgriffsrechte verankert werden. Eine solche Weiterentwicklung der EU bzw. der Eurozone zu einer „Stabilitätsunion“ beinhaltet die Einschränkung nationaler Kompetenzen, etwa im Bereich des Haushaltsrechts. Derlei Neuerungen sollen durch Änderungen der europäischen Grundlagenverträge abgesichert werden.

Dieser Weg ist es eben, der in Polen viele Fragezeichen hervorruft. Einerseits liegt die Rettung der Eurozone und damit auch die Sicherung der Kontinuität des europäischen Projektes im strategischen Interesse Warschaus. Andererseits wachsen jedoch die Befürchtungen. So wird befürchtet, dass Polen, das mit der Eurozone eng verflochten ist, in wachsendem Maße von wirtschaftlichen Entscheidungen betroffen sein wird, die innerhalb der 17er Gruppe der Eurostaaten getroffen werden. Vor allem aber besteht die Sorge, dass ein höherer Grad der Zusammenarbeit innerhalb der Eurozone Polen, das nicht zu dieser Gruppe von Ländern gehört, in die „zweite Liga“ – wie Publizisten es gern ausdrücken – abdrängt. Polens Sorgen werden auch dadurch genährt, dass die Idee eines echten „Kerneuropas”, die lange Jahre als wenig wahrscheinliche Drohkulisse oder als Gegenstand „visionärer“ bzw. akademischer Diskussionen existierte, nun eine reale Option zu werden scheint. Aus der Position eines Mitgliedstaates, der den Euro bislang nicht eingeführt hat, aber dazu verpflichtet und willens ist, dies zu tun, verlangt Polen daher, bereits jetzt in die Diskussionen und möglichst auch die Weichenstellungen bezüglich der Reform der Eurozone eingebunden zu werden. Noch ist nicht absehbar, wie sich angesichts der turbulenten Situation auf den Finanzmärkten, der wirtschaftlichen und innenpolitischen Trends in einzelnen Eurozonenstaaten sowie der Positionierung der europäischen Regierungen die Intensivierung der Zusammenarbeit in der Eurozone konkret entwickeln wird. Eines lässt sich jedoch feststellen: Der sich anbahnende Prozess kann Dynamiken einleiten, die nur schwer abschätzbar und möglicherweise schwer zu kontrollieren sind.
 
Forderung I: Deutschland und Polen nur gemeinsam im Zentrum Europas

Deutschland und Polen haben als Mitglieder der Union und als europäische Partner ein essentielles Interesse daran, bei der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte und dem Abbau der Verschuldung voranzugehen, die Eurozone zu stabilisieren, das ökonomische und finanzielle Fundament der europäischen Integration zu sichern und den politischen Zusammenhalt der EU zu bewahren. Deshalb ist eine weitere Intensivierung der europapolitischen Abstimmung zwischen beiden Ländern  erforderlich – nicht zuletzt deswegen, weil die fortschreitende Koordinierung im Euroraum das Risiko neuer Trennlinien in der EU birgt, die sich auch zwischen Deutschland und Polen legen können. Sollten sich derartige Trennlinien verfestigen, ohne dass Deutschland und Polen im Verbund gleicher Integrationstiefe sind, würde dies die große deutsch-polnische Errungenschaft der gemeinsamen EU-Mitgliedschaft relativieren: Wenn Deutschland und Polen nicht beide Bestandteil eines wie auch immer gearteten politischen Gravitationszentrums der EU sind, wird deutsch-polnische Prägekraft in Europa begrenzt. Die sich (erstmals seit Polens EU-Beitritt im Mai 2004) gegenwärtig bietende Chance auf eine deutsch-polnische Gestaltungspartnerschaft in der EU würde nicht genutzt werden können. Die Frage, in welcher Form und wie weit Polen in die laufenden und kommenden Abstimmungsprozesse um die Zukunft der Eurozone involviert wird, ist daher eine fundamentale Herausforderung für beide Länder und ein Kernthema für den deutsch-polnischen Dialog in seinen europäischen und bilateralen Bezügen.

Vor diesem Hintergrund ist zu bedenken, dass nicht nur Polen ein Interesse daran hat, an die Entwicklungen in der Eurozone angedockt zu bleiben. Für Deutschland ist Polen aufgrund einer ähnlichen Stabilitätskultur ein natürlicher Verbündeter in den Auseinandersetzungen um eine europäische „Wirtschaftsregierung“. Durch ihr Handeln hat die polnische Ratspräsidentschaft sich bemüht, Anstrengungen der EU bzw. in der Eurozone zu unterstützen. Eine akzentuierte Einbindung Polens hieße auch, dass in der Gruppe der zehn „Außenstehenden“ ein Land aufgewertet würde, das sich in der Tendenz positiv auf den Euro bezieht und das mehr und nicht weniger Europa möchte. Durch eine Involvierung Polens – sowie eventuell anderer Euro-Vorbeitrittsländer – würde Großbritanniens Einfluss unter den Zehn eingedämmt und insgesamt das Risiko gemindert, dass sich die Nicht-Euroländer als Gegengruppe zu den 17 Eurostaaten profilieren.

In seiner Berliner Rede hat Außenminister Sikorski Deutschland aufgefordert, seine führende, nicht dominierende, Rolle in diesem Reformprozess wahrzunehmen und, vorausgesetzt, dass Polen in die Entscheidungsprozesse einbezogen wird, Unterstützung zugesichert.

Der Beitrag Sikorskis ist auch eine Ermunterung, gemeinsam eine ernsthafte Debatte über das politische Projekt der Europäischen Union, ihre Werte und ihre Begründung, aufzunehmen. Daran sollten Politiker, Intellektuelle und die politisch interessierte Öffentlichkeit beider Länder in diesem besonders günstigen Moment der deutsch-polnischen Beziehungen teilnehmen, der zugleich in eine besonders kritische Phase für die Europäische Einigung fällt.


Forderung II: Europapolitische Brücken bauen

Polens frühzeitige politische Beteiligung an Reformdiskussionen bezüglich wirtschafts- und finanzpolitischer Koordinierung oder institutioneller Reformen könnte auch Widerstände bei Vertragsänderungsverfahren reduzieren. Denn solange über Reformschritte im Rahmen der 27 nachgedacht wird, hat Polen wie auch alle anderen Nicht-Eurostaaten die Möglichkeit, während des Prozesses (also im Konvent, während einer Regierungskonferenz oder im Verlauf der Ratifizierung) zu intervenieren oder gar zu blockieren. Solange Deutschland Lösungen im Verbund der 27 gegenüber Maßnahmen außerhalb des gemeinschaftlichen Rahmens vorzieht (und dies ist aus gutem Grund gegenwärtig noch der Fall), hat es ein Interesse daran, Brücken zu Nicht-Euroländern, insbesondere Polen, einem dezidiert europafreundlichen Mitgliedstaat und dem größten unter den Vorbeitrittsländern zu bauen.

Polen hat seit Beginn der Finanz- und Verschuldungskrise seinen Wunsch bekundet, sich nicht von der Eurozone zu entfernen. Die Beteiligung am Euro-Plus-Pakt oder der Versuch, in der Präsidentschaftsrolle als Bindeglied zwischen den EU-Finanzministern und der Eurogruppe zu wirken, stehen exemplarisch für dieses Ansinnen. Gleichzeitig haben polnische Vertreter die Eurostaaten mehrfach dazu ermutigt, entschlossene Reformen umzusetzen. Obwohl auch Polens wiederbestätigter Ministerpräsident ein ambitioniertes Reformprogramm angekündigt hat, das  die Konsolidierung der Staatsfinanzen beinhaltet, blieben gegenwärtig konkrete Pläne zur Einführung des Euro aus. Zweifelsohne gibt es gute Gründe, angesichts der gegenwärtigen Unwägbarkeiten keinen Zeitplan zur Übernahme der gemeinsamen Währung vorzulegen. Allerdings wäre es für ein Land, das eine Einbindung in Koordinierungsmechanismen der 17 anmahnt, angebracht, ein klares Zeichen hinsichtlich der polnischen Zugehörigkeit zur Eurozone zu setzen. Ein solches Zeichen würde es Deutschland erleichtern, Brücken und Andockstellen anzubieten.

Wir empfehlen

  1. den deutsch-polnischen Dialog zu stärken, um so die Koordination und den Austausch in Fragen der Europapolitik, insbesondere mit Blick auf Vertragsänderungen und Maßnahmen zum wirtschaftlichen und finanzpolitischen Krisenmanagement, auszubauen. Ein solcher Dialog würde insbesondere darauf abzielen, das Risiko einer zunehmenden Trennung beider Länder in einer institutionell und politisch gespaltenen Europäischen Union zu reduzieren;

  2. die Einbeziehung Polens und anderer Nicht-Eurozonenmitglieder in die Diskussion über die Zukunft der EU und  über neue Maßnahmen zur Verbesserung der wirtschafts- und finanzpolitischen Koordinierung abgesehen von einer politischen Einbindung auch institutionell zu unterstützen;

  3. das Weimarer Dreieck bzw. den Austausch zwischen den drei Ländern zu finanz- und wirtschaftspolitischen Themen zu stärken. Ein Treffen der Finanzminister des Weimarer Dreiecks könnte hierbei gute Dienste leisten;

  4. die deutsch-polnische Zusammenarbeit auf die Stärkung von Mechanismen des gemeinsamen Marktes sowie die Überwindung weiterhin bestehender Beschränkungen auszurichten;

  5. den deutsch-polnischen Dialog zur Wachstumsagenda in der EU in Zeiten der Verschuldungskrise und sich verknappender öffentlicher Mittel zu verstärken;

  6. die Mittel für den Jugendaustausch, für Kontakte zwischen den Bürgern sowie die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zu verstärken, um die Fundamente zu festigen, auf denen die deutsch-polnische Verständigung basiert. Dies ist besonders wichtig hinsichtlich der Gefahr populistischer und nationalistischer Stimmungen, die in der Regel mit Wirtschafts- und Finanzkrisen einhergehen.



Das Projekt „Kopernikus-Gruppe“ wird von der Robert Bosch Stiftung gefördert.