Kopernikus-Gruppe

Mitteilung über die Sitzung der „Kopernikus-Gruppe“ am 14.-17. Oktober 2010 in Kaliningrad

Vom 14. bis 17 Oktober 2010 traf sich auf Einladung des Deutschen Polen-Instituts und des Osteuropa-Studiums der Universität Warschau sowie des Europainstituts Klaus Mehnert der Kaliningrader Staatlichen Technischen Universität die aus deutschen und polnischen Expertinnen und Experten bestehende Kopernikus-Gruppe zu ihrer zweiundzwanzigsten Sitzung in dem russländischen Gebiet Königsberg (Oblast Kaliningrad). Ziel war es, sich in Begegnungen, Gespräche und Beratungen mit russischen, polnischen und deutschen Gesprächspartnern vor Ort ein möglichst differenziertes Bild von der Situation in der Region zu machen.
Das vorliegende Arbeitspapier fasst die gemeinsamen Überlegungen der Mitglieder der Kopernikus-Gruppe zusammen.

Prof. Dr. Dieter Bingen, Darmstadt                                    Mai 2011
Dr. Kazimierz Wóycicki, Warschau


Arbeitspapier XIX
Das russländische Gebiet Königsberg (Oblast Kaliningrad):
Chancen für einen europäischen Dialog



Eingangsbemerkungen
Die Europäische Union und Russland suchen nach neuen Wegen, um ihre bislang oft kraftlose und störungsanfällige Kooperation zu intensivieren. Hinter diesen Bemühungen steht zum einen die Einsicht beider Seiten, dass die teils ambitionierten Ziele europäisch-russischer Zusammenarbeit wohl nur langfristig erreicht werden können. Die Umsetzung des seit 1997 in Kraft befindlichen bilateralen Partnerschafts- und Kooperationsabkommens, die schwierigen Verhandlungen über ein Nachfolgedokument oder die schleppende Konkretisierung der vier gemeinsamen „Kooperationsräume“ (Wirtschaft und Umwelt; Freiheit, Sicherheit und Recht; äußere Sicherheit; Forschung und Bildung) hat in der EU und Russland die Überzeugung reifen lassen, dass die bisherigen Formen und Mechanismen der Zusammenarbeit fokussiert und stärker mit Inhalten gefüllt werden müssen. Zum anderen haben Entwicklungen auf globaler Ebene und im regionalen Umfeld auf beiden Seiten den Wunsch nach einem Mehr an Kontakten und Kooperation erzeugt.

Infolge des gestiegenen Engagements der Europäischen Union im postsowjetischen Raum im Rahmen der Nachbarschaftspolitik bzw. der Östlichen Partnerschaft sowie des damit einhergehenden russischen Unmuts über EU-Präsenz in einer aus Moskauer Sicht besonders sensitiven Zone reifte in der Union wie auch in Russland das Bewusstsein dafür, dass reale oder wahrgenommene Konkurrenz um die „gemeinsame Nachbarschaft“ durch offene Kooperationsmuster aufgelöst werden muss.

So wurden sowohl seitens der EU als auch von Russland neue Initiativen oder zumindest neue Gedanken ins Spiel gebracht. An die rege innerrussische Diskussion über die Modernisierung des Landes anknüpfend, vereinbarten die EU und Russland im Frühsommer 2010 eine „Modernisierungspartnerschaft“, die das Innovationspotential und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit Russlands durch konkrete Projekte verbessern soll. Nach langwierigen Verhandlungen signalisierte die EU Ende 2010 ihre Bereitschaft, Russlands Streben in die Welthandelsorganisation (WTO) zu unterstützen. Sowohl aus Russland selbst als auch aus einigen Mitgliedstaaten der EU (etwa Deutschland) kommen von hochrangigen Stellen angestoßene Überlegungen zur Schaffung gemeinsamer Wirtschafts- oder Handelsräume.

Bei dieser Konkretisierung von Kooperationsvorhaben und der Artikulierung neuer Perspektiven der EU-Russland-Zusammenarbeit sind Deutschland und Polen zentrale Akteure. Beide Länder haben ein Interesse daran, in Russland einen intern stabilen, rechtsstaatlich verfassten, an Menschenrechten und Demokratie orientierten, wirtschaftlich vitalen und außenpolitisch kooperativen Partner zu finden. Deutsche und polnische Politik im Rahmen der EU zielt daher darauf ab, die EU-Russland-Beziehungen umfassend und ganzheitlich zu entwickeln, also interessenbasierte und werteorientierte Zusammenarbeit mit Russland zu praktizieren. Dass Deutschland und Polen mit ihrem je spezifischen Verhältnis zu Russland, und insbesondere zum Königsberger Gebiet (als einem ehemals deutschen Land, das an Polen grenzte und grenzt), nicht nur besondere Problemlagen gegenüber Russland aufweisen, sondern teils abweichende Kooperationsphilosophien verfolgten, ist bei einem Grundverständnis über die strategischen Ziele einer europäischen Russlandpolitik und bei einem expliziten Gestaltungswillen hinsichtlich der europäischen Beziehungen zu Russland kein Hindernis, sondern ein besonderer Vorteil: Eine deutsch-polnische Verständigung hinsichtlich Russland beinhaltet ein Großteil des EU-internen Spektrums an russlandpolitischen Vorstellungen und hat somit beachtliches Gewicht. Insbesondere in Zeiten eines neuen, an Aussöhnung und Zusammenwirken ausgerichteten polnisch-russischen Verhältnisses und einer nach wie vor „pragmatischen“, jedoch kritisch-realistischen deutschen Russlandpolitik ergeben sich neue Chancen für deutsche und polnische Kooperationsvorhaben mit Blick auf den großen Nachbarn im Osten.  

Das Echo Russlands auf die offene Politik der EU und insbesondere Polens und Deutschlands sollte als Lackmustest für die von Moskau deklarierte Modernisierungspolitik genommen werden. Schon oft war die Rede vom Königsberger Gebiet als Pilotregion oder Experiment für die Beziehungen zwischen Russland und der EU. Die geographische Nähe und Nachbarschaft sowie die intensiven Kontakte der Einwohner des Königsberger Gebiets mit EU-Europa haben zur Folge, dass die Menschen hier eine andere Einstellung zu Europa haben als die Menschen im russischen Mutterland. Auch in diesem Sinne ist die Oblast Kaliningrad ein Experimentierfeld. Deshalb muss auch ganz deutlich unterstrichen werden, dass es heute nicht um Deklarationen, sondern um konkrete Entscheidungen geht, sei es auch nur eine Politik der kleinen Schritte – Hauptsache sie wird systematisch verfolgt. Das gilt umgekehrt auch für die EU, die bisher eine sichtbare Politik gegenüber dem Gebiet vermissen ließ.

Ausgangspunkt sollte die Situation des Kaliningrader Gebiets als EU-Enklave und als "Pilotregion" sein. Dabei sollte sowohl auf das Potential der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit (deutsch-polnisch-litauisch-russisch) als auch auf die vorhandenen rechtlichen Probleme hingewiesen werden. Dabei ist sicherlich die "Vertikale der Macht" in Russland, die wenig lokale Selbständigkeit zulässt, das Haupthindernis. Auf dieses Problem muss hingewiesen werden, wenn es um die Überwindung von Barrieren geht, die rechtlicher wie mentaler Natur sind. Abgesehen davon ist festzustellen, dass es für die ostmitteleuropäischen Staaten seit Anfang der 1990er Jahre zahlreiche Euroreg-Programme gab, während das Interesse der EU am Königsberger Gebiet bis heute deutlich geringer zu sein scheint, obwohl es so exponiert liegt und damit zu Pilotprojekten geradezu aufruft.

Empfehlungen

Fragen des Grenzregimes
Die unabdingbare Voraussetzung für eine Verbesserung der Lage ist eine Änderung der Visaregelung. Die Oblast Kaliningrad bringt als Enklave für die Bevölkerung dieser Region besondere Einschränkungen der Bewegungsfreiheit mit sich. Die Verbesserung der Situation erfordert entsprechende Schritte von Seiten der Europäischen Union wie auch der Russländischen Föderation.

Die Vorschläge und Initiativen, die auf dem Tisch liegen, gehen in die richtige Richtung. Die gesamte Oblast Kaliningrad sollte als Grenzregion behandelt werden, verknüpft mit einer entsprechenden Milderung des Grenzregimes. Damit müsste eine entsprechende Reaktion von russischer Seite verbunden sein. Vor allem geht es um die Milderung oder vollständige Abschaffung der verschärften Kontrollregimes im Grenzstreifen (das Gebiet wird als militärisches Sperrgebiet behandelt), ein Erbe aus Sowjetzeiten. Ohne diese Maßnahme hätte eine „Liberalisierung” der Visapolitik der EU keinerlei praktische Wirkung für die Bewohner des Gebiets.

Von besonderer Wichtigkeit ist die Schaffung neuer Grenzübergänge, nur so können die endlosen Warteschlangen an der Grenze der Vergangenheit angehören. Unerlässlich ist die Öffnung kleiner Grenzübergänge für Fußgänger. Schließlich sollte zu denken geben, dass die schikanöse Grenzabfertigung den Nährboden für unterschiedliche Formen der Korruption bereitet hat.

Eine ähnliche Herausforderung stellt die Seegrenze dar. Das Frische Haff sollte für die Schifffahrt geöffnet werden. Das würde die Häfen und die Seewirtschaft vitalisieren und zur Belebung des Sportboottourismus beitragen.

Vertretung der EU im Gebiet
In Kaliningrad sollte eine Vertretung der Europäischen Union errichtet werden. Die EU-Politik gegenüber dem Kaliningrader Gebiet sollte zu einem wesentlichen Bestandteil der Nachbarschaftspolitik werden; das erfordert durchdachtes Handeln und neue, originelle Regelungen, die mit der russischen Seite auszuhandeln wären. Die Umwandlung der Peripherie der EU und der Peripherie Russlands in eine Region reger EU-Russland-Kooperation ist für beide Seiten von Vorteil im Sinne von sozioökonomischer Stabilität und gesellschaftlicher Entwicklung.

Die deutsch-polnische Zusammenarbeit gegenüber dem Gebiet sollte die Vorstellungen der litauischen Seite in ihre Überlegungen mit einbeziehen. Für Litauen ist das Königsberger Gebiet ein Bereich seines unmittelbaren Interesses und die Politik der EU gegenüber dem Gebiet muss die Interessen des EU-Mitglieds Litauen berücksichtigen.

Erziehung und Jugend
Bildung und Erziehung, wissenschaftliche Zusammenarbeit, Stipendienprogramme für die Studierenden und der Schüleraustausch sollten ganz oben auf der Liste der Aktivitäten stehen.
Die bereits bestehende Zusammenarbeit zwischen der Nikolaus Kopernikus-Universität Thorn, der Viadrina Europa-Universität Frankfurt (Oder) und der Immanuel Kant-Universität Kaliningrad sollte weiter intensiviert werden. Andere wissenschaftliche Zentren sollten sich der Kooperation anschließen.

Königsberg kann und sollte ein wichtiger Konferenzort und Ort der Begegnung von Wissenschaftlern und Journalisten werden. Dabei könnte die Errichtung eines eigenen Instituts für Höhere Studien (Institute for Advanced Studies) den Standort als Diskussionsplattform für Experten aus den Ländern der EU und aus Russland stärken. Wir möchten darauf hinweisen, wie hilfreich die Erfahrungen im deutsch-polnischen Dialog sein können, wenn es um die Diskussion über die sich allmählich entwickelnde Identität der Oblast Kaliningrad geht.

Energiefragen
Die Pläne für den Bau eines Atomkraftwerks im Königsberger Gebiet müssen beunruhigen. Sie können als Fortsetzung einer Politik verstanden werden, die das Gebiet als Vorposten eines Imperiums betrachtet, wobei heute die Energiepolitik ein wichtiges, wenn nicht das wichtigste Instrument der strategischen Interessensicherung darstellt .

Die vorgesehene Leistung des AKW von ca. 2300 MW übersteigt bei weitem den Bedarf des Gebiets. Das ist ein Signal, dass das Kraftwerk den Strom hauptsächlich für den Export produzieren soll. Das soll offensichtlich die Chance für die Errichtung des AKWs Visaginas (Litauen) verringern und konfligiert auch mit den polnischen Plänen zum Bau eines AKW. Alle Nachbarn in der Region sind hier aufgefordert, die atompolitische Option zugunsten anderer Energieformen zu überprüfen, bei denen auch grenzüberschreitend kooperiert werden könnte.

Modernisierungspartnerschaft konkret
Ein Beitrag zur Modernisierung der Kaliningrader Oblast könnte beispielsweise durch die Hilfe bei der energiesparenden Sanierung der Plattenbauten und des in einem maroden Zustand befindlichen Altbestandes an Wohnungen geleistet werden. Experten dafür gibt es in Deutschland und in Polen genügend.

Energiegewinnung aus regenerierbaren Ressourcen könnte im Königsberger Gebiet eine besonders naheliegende Investition darstellen.

Über eine Initiative zur Wiederbelebung der danieder liegenden Landwirtschaft und Selbstversorgung der Region mit Nahrungsmitteln, die derzeit zum überwiegenden Teil importiert werden müssen, über die Ausbildung von Fachkräften für die Landwirtschaft wäre nachzudenken, incl. Joint Ventures mit Polen und Deutschland.

Wirtschaft und Tourismus
Die Liberalisierung des Visaregimes wird die Chancen für die wirtschaftliche Entwicklung in den grenznahen Kreisen der Region bedeutend vergrößern. Das auf natürliche Weise entstehende Netz von grenznahen Basaren gälte es zu fördern und entsprechend zu organisieren.

Eine nicht unbedeutende Rolle kann der Tourismus spielen. Das wachsende Bewusstsein in der Region für historische Spuren gilt es zu nutzen für den Ausbau der touristischen Infrastruktur. Die Errichtung und die Pflege der Gedenkstätten der tragischen Geschichte der Region insbesondere im 20. Jahrhundert gehört zur Entstehung und Weiterentwicklung einer Kultur der Empathie. Sie eröffnet den Weg zur Verständigung und einen freien Umgang miteinander und für die touristische Entdeckung des historisch kontaminierten Raums. Dabei könnte in Zukunft nach einer Revitalisierung der nur im polnischen Teil befahrbare Masurische Kanal eine besondere Attraktion darstellen, der sowohl den polnischen wie den russischen Teil der historischen Region durchzieht. Entsprechende europäische Fördermittel könnten aus einem touristischen Pilotprojekt einen Lackmustest für weitergehende grenzüberschreitende Projekte machen.


Das Projekt „Kopernikus-Gruppe“ wird von der Robert Bosch Stiftung gefördert.