Kopernikus-Gruppe

Mitteilung über die
Sitzung der Kopernikus-Gruppe am 30.11./1.12.2007

Am 30. November und 1. Dezember 2007 traf sich auf Einladung des Deutschen Polen-Instituts und des Deutschland- und Nordeuropainstituts (Instytut Niemiec i Europy Północnej) die aus deutschen und polnischen Experten bestehende Kopernikus-Gruppe – nach der Auszeichnung mit dem „Viadrina-Preis 2007“ der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) – zur ihrer sechzehnten Sitzung in Berlin. Thema der Beratungen waren die Bestandsaufnahme der deutsch-polnischen Beziehungen nach den Wahlen in Polen und die aktuelle Agenda für die bilateralen Beziehungen.
Das vorliegende Arbeitspapier 14 der Kopernikus-Gruppe fasst die gemeinsamen Überlegungen zusammen, wie eine deutsch-polnische Initiative den langjährigen Streit um die Institutionalisierung der Erinnerung an den Komplex der Vertreibungen beenden könnte.

Prof. Dr. Dieter Bingen, Darmstadt                  Dezember 2007
Dr. Kazimierz Wóycicki, Stettin



Arbeitspapier XIV
Ein Museum der Geschichte des Zweiten Weltkriegs und der Versöhnung  - Der Rahmen für das „sichtbare Zeichen“

2008 kann für die deutsch-polnischen Beziehungen das Jahr des Durchbruchs werden. Die positiven deutschen Reaktionen auf die Bildung der PO-PSL-Regierung, Ministerpräsident Donald Tusks Hervorhebung der Bedeutung der Zusammenarbeit mit Deutschland in der Regierungserklärung sowie die Einigung über den EU-Reformvertrag eröffnen die außerordentliche Chance für den Beginn eines neuen Kapitels in den deutsch-polnischen Beziehungen. Die Tatsache, dass ein von ihm im Wahlkampf vorgestellter konstruktiver Ansatz in Polens Deutschlandpolitik bewusst honoriert wurde, ist eine wichtige positive Weichenstellung. Dabei sind die bilateralen Beziehungen gar nicht schlecht. Dank der Mitgliedschaft beider Länder in der Europäischen Union, soliden Vertragsgrundlagen und der ausgezeichneten Entwicklung der Wirtschaftsbeziehungen, der Zusammenarbeit von zivilgesellschaftlichen Organisationen, wissenschaftlichen Institutionen und auf der regionalen Ebene entwickeln sie sich auf einem stabilen Fundament. Dies wird auch durch die politische Vertrauenskrise der letzten Jahre nicht in Frage gestellt. Als Kopernikus-Gruppe haben wir jedoch immer wieder unterstrichen, dass Deutschland und Polen eine größere Aufgabe haben und als direkte Nachbarn und Partner gemeinsam eine wichtige Rolle in der erweiterten Europäischen Union spielen sollten. Wenn also die Zusammenarbeit der Nachbarn derzeit kaum einen Mehrwert im Prozess der europäischen Integration darstellt, dann ist das Anlass zu Sorge.

Die Schwierigkeiten in den deutsch-polnischen Beziehungen sind kein Ergebnis der letzten zwei Jahre. Sie betreffen Fragen wie die Ostseepipeline und die Ostpolitik der EU, wie auch die Kulturgüterfrage, Eigentumsansprüche und die Erinnerung an die Tragödie der Aussiedlungen und Vertreibungen. Der Mangel an gegenseitigem Verstehen zwischen den Eliten ist nicht allein einer vorübergehenden politischen Konstellation geschuldet. Er reicht tiefer: In Polen dominiert das Gefühl, keine gleichberechtigte Partnerschaft mit Deutschland erreicht zu haben, und in Deutschland ist die Überzeugung weit verbreitet, die polnischen Partner hegten unbegründete Vorbehalte gegen Deutschland. Die politische Wende in Polen im Ergebnis der Parlamentswahlen vom Herbst 2007 führt nicht automatisch zur Lösung dieser Probleme. Deshalb könnte sich die Euphorie, mit der sie in Deutschland begrüßt wurde, als eine Falle erweisen, wenn man nur passiv auf ein deutsch-polnisches Wunder warten würde. Die erstmals seit Jahren wieder positive Grundstimmung auf politischer Ebene zwischen Deutschland und Polen öffnet aber ein Fenster der Gelegenheit, das allerdings nicht ewig offen stehen wird. Ob diese Chance genutzt wird, hängt davon ab, ob auf beiden Seiten der gute Wille und die politische Vorstellungskraft ausreichen, um in den vor uns liegenden Monaten geeignete Schritte zu unternehmen.

Die vergangenen Jahre haben sehr deutlich gemacht, dass der Aufbau einer zukunftsorientierten deutsch-polnischen Partnerschaft nicht möglich ist, ohne dass eine Sprache des wechselseitigen Respekts gefunden wird, mit dem die Vergangenheit beschrieben werden kann. Einer der wichtigsten Gegenstände deutsch-polnischer Kontroversen im letzten Jahrzehnt war die Frage der Erinnerung an das Vertriebenenschicksal in Berlin und der Plan für ein Zentrum gegen Vertreibungen. Die deutsche Diskussion hierzu ist in den letzten Wochen in eine entscheidende Phase getreten. Die Regierungsparteien CDU/CSU und SPD waren schon in ihrer Koalitionsvereinbarung von 2005 übereingekommen, eine entsprechende Institution zu errichten (ein „sichtbares Zeichen“), deren Struktur, Konzeption und Standort derzeit diskutiert werden. Auch wenn dieses Projekt nicht bedeutet, dass der in Polen kritisierte Plan des Bundes der Vertriebenen für den Bau eines Zentrums verwirklicht wird, so weckt es in Polen doch weiterhin Befürchtungen. Wer die Frage der „Vertreibung“ als die elementare Erfahrung des 20. Jahrhunderts darstellt, verdreht das Bild von der Geschichte Europas. Außerdem werden die tatsächlichen Ursachen der Vertreibungen, die Kriege, insbesondere der vom nationalsozialistischen Deutschland verursachte Zweite Weltkrieg, und der Totalitarismus ausgeblendet. Wir sind der Ansicht, dass diese Fragen – nicht nur die Erinnerung an die Vertreibungen, sondern weiter verstanden: die Erinnerung an die Geschichte des 20. Jahrhunderts überhaupt – im Geist der deutsch-polnischen Verständigung gelöst werden kann. Dies ist umso notwendiger, als das Jahr 2009 mit den wichtigen Jahrestagen des Beginns des Zweiten Weltkriegs, des demokratischen Umbruchs in Polen und des Falls der Berliner Mauer näher rückt. Es sollte das Ziel Polens und Deutschlands sein, darauf hinzuwirken, dass diese Jahrestage nicht zu einem weiteren Anlass für historische Forderungen, Erinnerungskonkurrenz und gegenseitige Vorwürfe werden.

Aufgrund einer günstigen politischen Konjunktur besteht heute die Chance, dass dies gelingt. Wir sind der Meinung, dass die Regierungen Polens und Deutschlands schnellstmöglich mit Gesprächen über das Thema beginnen und eine Lösung suchen sollen, die es ermöglicht, den langjährigen Streit um die Institutionalisierung von Erinnerung und um Geschichtspolitik beizulegen. Die Kopernikus-Gruppe legt hierzu einen eigenen Vorschlag vor. Er hat nicht nur das Ziel, einen Kompromiss zwischen Polen und Deutschland herbeizuführen. Er nimmt die Bedenken der Nachbarn Deutschlands angesichts der deutschen Vertreibungsdebatte des vergangenen Jahrzehnts ernst und sucht nach einer adäquaten Beschreibung von Ursachen und Wirkungen im Zusammenhang mit der Vertreibung der Deutschen aus Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa und deren Platz im kollektiven Gedächtnis der Deutschen und ihrer Nachbarn.

Vorschlag
Die Kopernikus-Gruppe schlägt vor, die Idee des „sichtbaren Zeichens“ um eine Dokumentation und Erinnerung an die Vertreibung unter dem Dach eines Museums der Geschichte des Zweiten Weltkriegs und der Versöhnung zu erweitern. Der Zweite Weltkrieg nahm seinen Anfang mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen. Deshalb sollte das Projekt aus einer deutsch-polnischen Initiative entstehen, der sich die europäischen Nachbarn anschließen können. Damit wird nicht vorgeschlagen, den politischen Entschluss, an die Vertreibung der Deutschen in Berlin öffentlich zu erinnern, zu revidieren. Vielmehr soll für das „sichtbare Zeichen“ ein würdiger europäischer Rahmen geschaffen werden. In einem solchen Museum würde selbstverständlich die Erinnerung an die Geschichte der Vertreibung den ihr gebührenden Platz einnehmen.

Der Zweite Weltkrieg ist bisher überall weitgehend in seinen diversen Teilaspekten musealisiert worden, als Warschauer Aufstand, als Okkupation eines bestimmten Landes, als Selbstbehauptung einer Gesellschaft usw. Für die einzelnen betroffenen Länder bzw. Gesellschaften war und ist dies legitim. Ein Museum der Geschichte des Zweiten Weltkriegs und der Versöhnung würde es möglich machen, die einzelnen, meist national geprägten Teilaspekte miteinander in Verbindung zu setzen und in einer europäischen Perspektive zu vermitteln. Dementsprechend würden hier auch Flucht und Vertreibung in den historisch-politischen Kontext gestellt werden.

Für die nationale deutsche Erinnerungskultur wird ein solches Museum wichtige Impulse im Sinne der „historischen Selbstaufklärung“ geben, wie sie der Berliner Historiker Heinrich-August Winkler einfordert. Das Museum wird die Kenntnis in Deutschland darüber vertiefen, dass der Zweite Weltkrieg bis heute für die polnische Erinnerungskultur einen ganz wesentlichen Bezugspunkt  darstellt; es wird somit ein wichtiger Faktor für die weitere Verbesserung und Vertiefung zukunftsgerichteter deutsch-polnischer Beziehungen sein.

Das Museum der Geschichte des Zweiten Weltkriegs und der Versöhnung verstehen wir freilich nicht als deutsch-polnische Nabelschau. Die Einladung, sich an der Entwicklung seiner Konzeption zu beteiligen, geht grundsätzlich an alle Betroffenen in Europa. Dabei kann die Schaffung einer den Zweiten Weltkrieg betreffenden europäischen Erinnerungskultur nur in der behutsamen Suche nach Gemeinsamkeiten, also nach gemeinsamen Schnittmengen der Erinnerung bestehen.

Der Unvergleichbarkeit des Holocausts gebührt eine gesonderte Erinnerung, die nahezu alle – auch die nicht direkt am Zweiten Weltkrieg beteiligten – europäischen Staaten betrifft. Sie hat daher inzwischen eine sich zunehmend internationalisierende Erinnerungskultur hervorgebracht.

Die Kopernikus-Gruppe schlägt ein europäisch ausgerichtetes Museum der Geschichte des Zweiten Weltkriegs und der Versöhnung vor, schließlich hat der Krieg den gesamten Kontinent in Mitleidenschaft gezogen. Da der Zweite Weltkrieg in Berlin geplant wurde und mit dem Fall von Berlin sein Ende fand, halten wir es für sinnvoll, dass ein solches Museum in Berlin seinen Platz hat. Ein wesentlicher ergänzender Ort für ein solches Museums sollte Warschau sein – ein Symbol der Zerstörung und des Widerstandes gegen die Vernichtungspolitik des Dritten Reichs. Die gemeinsame Initiative von Deutschen und Polen könnte zu einem beispiellosen und herausragenden Symbol der Versöhnung der beiden Nationen werden.

Wir knüpfen an unser Arbeitspapier VI („Europäisches Zentrum gegen Vertreibungen“. Handlungsempfehlungen für eine Konzeption) vom Dezember 2003 an und plädieren auch hier für einen „Rat der Weisen“ und international besetzte Expertengremien, deren Aufgabe es wäre, das Museum in europäischem Geist und unter respektvoller Berücksichtigung der unterschiedlichen Erinnerungen entstehen zu lassen. Hier kann gezeigt werden, dass Erinnerungspolitik nicht zur Abgrenzung der europäischen Gesellschaften voneinander missbraucht wird, sondern dass geschichtspolitisch offen agiert werden kann. Alle Europäer wären gleichermaßen mit einbezogen. Denn die Unterschiede zwischen dem Krieg im Westen und dem im Osten, dem Krieg in Südeuropa und in Nordeuropa werden ein wichtiges Thema dieses Museums sein müssen.

Hier kann auch an alle Opfer erinnert werden, ohne Aufrechnung und ohne Mythisierung, ohne dass irgendwelche Opfer privilegiert und andere verschwiegen werden. Der Komplex der Vertreibung der Deutschen fände seinen Platz und würde als das Drama anerkannt, das er war – ebenso das Vertreibungsschicksal der Polen während des Zweiten Weltkriegs und danach. Die Vertreibung gehört zu den viel gedeuteten, aber noch immer zu wenig detailliert erforschten Themenbereichen der Zeitgeschichte. Die entsprechenden Forschungsdesiderate könnten während der Vorarbeiten für das zu errichtende Museum in einem europäischen Forschungsverbund, der sich nicht nur auf die mitteleuropäischen Länder beschränken sollte, aufgearbeitet werden.

Wer heute das 20. Jahrhundert als „Jahrhundert der Vertreibungen“ bezeichnet, bringt eine spezifisch deutsche Deutung der Geschichte der letzten hundert Jahre zum Ausdruck. Deshalb kann es kaum verwundern, dass die bisherige Reaktion der europäischen Nachbarn, auch der Nachbarn, die selbst von großen Vertreibungstragödien betroffen waren, hauptsächlich zwischen Empörung, höflichem Abwinken und Desinteresse schwankte. Das für die Startphase als deutsch-polnisches Projekt gedachte Museum der Geschichte des Zweiten Weltkriegs und der Versöhnung würde potenziell alle europäischen Nationen unmittelbar ansprechen und könnte daher auf ein viel größeres Interesse stoßen. Denn es ist nicht nur nach Osten, sondern auch nach Westen, Süden und Norden gleichermaßen gerichtet. Es ist europäisch, es wird Gelegenheit geben, die Erinnerungen der einzelnen nationalen Gesellschaften Europas zu zeigen und zu respektieren, es geht ehrlich mit der Vergangenheit um und ist damit gleichzeitig zukunftsorientiert.