Kopernikus-Gruppe

Mitteilung über die 11.
Sitzung der „Kopernikus-Gruppe“ am 15./16.4.2005

Am 15. und 16. April 2005 traf sich auf Einladung des Deutschen Polen-Instituts Darmstadt und des Deutschland- und Nordeuropainstituts Stettin die aus deutschen und polnischen Experten bestehende „Kopernikus-Gruppe“ in Berlin zu ihrer elften Sitzung. Thema der Beratungen war „Die Ostpolitik der EU. Deutsche und polnische Beiträge zur Strategie gegenüber der Ukraine und Belarus“.
Das vorliegende Arbeitspapier X der „Kopernikus-Gruppe“ fasst die Bestandsaufnahme und daran anschließende gemeinsame Überlegungen zusammen.

Prof. Dr. Dieter Bingen, Darmstadt,                                Juni 2005 
Dr. Kazimierz Wóycicki, Stettin

Arbeitspapier X der Kopernikus-Gruppe
Die Ostpolitik der EU. Deutsche und polnische Beiträge zur Strategie gegenüber der Ukraine

Die Ukraine hat Europa aufgerüttelt. Ein Land, das in den zurückliegenden Jahren als „Demokratur“ angesehen wurde, als Herd des Unfriedens und der Korruption, als Exporteur illegaler Arbeitnehmer in die EU, demonstrierte in den letzten Monaten des Jahres 2004 seinen entschiedenen Willen zur „Rückkehr nach Europa”.

Die Entwicklung in der Ukraine hat für die EU mehrere Aspekte. Zum einen besitzt sie eine normative Dimension, insofern als hier der Demokratie zum Durchbruch verholfen werden kann, was einen Wert für sich darstellt. Durch die Subjektwerdung der ukrainischen Gesellschaft wird ihre Unabhängigkeit gestärkt. Zugleich strahlt die Entwicklung in der Ukraine auf Belarus aus und kann dort die demokratischen Kräfte stärken. Damit würden die beiden - abgesehen vom Gebiet Kaliningrad - am wenigsten berechenbaren Anrainer der EU stabilisiert, was im ureigenen Interesse der EU liegt.

Die orangene Revolution war vor allem ein Erfolg der Ukrainer. Als hilfreich erwies sich im November und Dezember 2004 die Solidarität Polens, Deutschlands und der Europäischen Union. Die polnischen Aktivitäten vor Ort während der "orangenen Revolution" in der Ukraine waren keine bilaterale polnisch-ukrainische Angelegenheit, sondern mit Brüssel abgestimmt. Polen hat auf diese Weise im eigenen Interesse gehandelt, die Rolle des Sachwalters der östlichen EU-Anrainer wahrgenommen und zugleich als EU-Mitglied die Position der EU vertreten und damit seiner Stimme mehr Gewicht verliehen. Es war zudem ein erster größerer außenpolitischer Beitrag des jungen EU-Mitglieds für das Staatenbündnis.

An der Ostgrenze der Union entsteht die Chance für eine Erweiterung des Raums der Demokratie und Stabilität. Die EU-Staaten sind in unterschiedlichem Grade an dem Erfolg der Entwicklung in der Ukraine interessiert. Für Polen und für Deutschland war die orangene Revolution eines der Felder, auf denen es eine weitgehende Interessengleichheit gibt. Beide Länder sind an der Vertiefung der demokratischen Wandlungen in der Ukraine interessiert. Beide Länder stimmen darin überein, dass die Perspektive der Parlamentswahlen Anfang 2006 zügiges Handeln erfordert. Die Wahlentscheidung der Ukrainer für oder gegen den europäischen Weg wird zweifellos davon abhängen, welche Perspektive die Europäische Union ihnen bis dahin bieten wird.

Die deutsche und die polnische Politik gegenüber der Ukraine ist das Ergebnis der Unterstützung für die Demokratie im größten Staat Europas, aber auch des Verhältnisses zu Russland, zu einem gewissen Grade auch zu Problemen, die auf indirekte Weise mit der Frage nach der Ostgrenze der Europäischen Union verbunden sind: Die Ukraine erscheint in der Diskussion der „alten“ EU-Mitglieder als Argument im Streit über die Türkei, und sie hat auch ihren Platz in den Kontroversen über Erweiterung und Vertiefung der Union.

Diese und andere Verknüpfungen und auch die Unterschiedlichkeit des Engagements in der ukrainischen Sache – nicht zuletzt aus Gründen der geographischen Nähe bzw. Ferne – sollte nicht das grundsätzliche Interesse der EU an der Erweiterung der Zone der Stabilität und  der Demokratie beeinträchtigen. Dieses Interesse erfordert es, der Ukraine Perspektiven zu bieten. Ob die historische Chance genutzt wird, hängt letztlich nicht allein von der EU ab, sondern von den Ukrainern selbst. Selbst bei der günstigsten Konstellation ist dies keine Frage, die in der nächsten Dekade endgültig beantwortet werden kann.

Die deutsche und die polnische Diplomatie stehen vor einer außergewöhnlichen Chance. Ihre Kompetenz und ihre Wirksamkeit haben sie schon bewiesen. Die Tätigkeitsfelder sowohl in der Ukraine selbst als auch im Kreis der EU-Partner sind vielfältig. Es geht dabei um Vorstellungskraft, die Kunst, die Nachbarn und Partner zu gewinnen, die Festlegung einer Hierarchie der Ziele und die Bündelung der Mittel.

Vor einer Harmonisierung der deutschen und polnischen Ukraine-Politik scheint aber eine ehrliche Bestandsaufnahme von bestehenden Differenzen zwischen Deutschland und Polen unabdingbar zu sein, will man sich nicht mit Formelkompromissen zufrieden geben, die weder die ukrainischen Demokraten noch Berlin und Warschau über den Tag retten würden.

Wie bekannt, hat Präsident Wiktor Juschtschenko sein strategisches Ziel klar formuliert: Er plant die Beantragung der EU-Mitgliedschaft für 2006 und erhofft sich den Beginn von Beitrittsverhandlungen für 2007.

Strategische Differenzen
Nicht erst in der Folge der ukrainischen Revolution zeigte sich, dass die Motive einer EU-Ostpolitik in Deutschland und Polen erheblich divergieren. Aus polnischer Perspektive spielen nach wie vor geopolitisch-strategische Überlegungen eine beachtliche Rolle: Die Existenz einer unabhängigen und westorientierten Ukraine wird als Gewähr gegenüber neoimperialen Tendenzen in der russischen Politik betrachtet. Zum anderen will Polen vermeiden, auf unabsehbare Zeit das östliche Grenzland der EU zu bleiben. Polen möchte die europäische Zone der Stabilität und des Wohlstands weiter nach Osten verschieben. Um diesen Zielen näherzukommen, fordert Warschau eine eindeutige EU-Mitgliedschaftsperspektive für die Ukraine. Aus polnischer Perspektive darf die europäische Idee die ukrainische Herausforderung nicht negieren.

In Deutschland spielt die Ukraine keine vergleichbare Rolle. Obwohl Bonn und Berlin sich bereits in den 90er Jahren mit zahlreichen Projekten in der Ukraine engagierten (so ist Deutschland das drittgrößte Geberland bilateraler Hilfen), gab es lange Zeit keinen außenpolitischen Diskurs über die Ukraine und ihre Stellung in Europa. Aus deutscher Sicht waren Überlegungen eines ukrainischen EU-Beitritts daher lange ein Tabu. Während Polen traditionell einen „Ukraine first“-Kurs fährt,  ist die deutsche Außenpolitik stärker Russland-orientiert. Zudem macht sich in der deutschen Europapolitik eine zunehmende Erweiterungsmüdigkeit breit. Eingedenk der nahenden Aufnahme Rumäniens und Bulgariens, der Beitrittsversprechen an weitere südosteuropäische Staaten sowie des kontroversen Türkei-Themas will man der EU zumindest eine „Verschnaufpause“ gönnen, bevor neue  Beitrittsoptionen ausgesprochen werden. Verstärkt wird diese Zurückhaltung durch das ungewisse Schicksal des Verfassungsvertrags nach dem negativen Ausgang des Verfassungsreferendums in dem EU-Gründungs- und Kernstaat Frankreich und in weiteren Alt-EU-Staaten. Folglich wird auch die sog. Europäische Nachbarschaftspolitik, also die Konzeption, mit der die EU die Beziehungen zu ihren Partnern im unmittelbaren Umfeld gestalten will, in Deutschland und Polen unterschiedlich verstanden: Für Polen soll die Nachbarschaftspolitik (zumindest die Ukraine) auf eine spätere Mitgliedschaft vorbereiten. Für Deutschland stellte sie bisher eine Alternative zur EU-Mitgliedschaft dar.

Handlungsperspektiven
Trotz solcher Differenzen besitzen Deutschland und Polen auch gemeinsame Interessen gegenüber der Ukraine. Beide Länder sind daran interessiert, in der Ukraine ein demokratisches und stabiles Nachbarland der EU zu haben. Eine sich erfolgreich reformierende und westlichen Werten verpflichtete Ukraine könnte als Vorbild der Transformation und Demokratisierung für andere Länder Osteuropas bzw. der GUS wirken. Daher sind Polen und Deutschland unter den neuen Bedingungen einer sich demokratisierenden Ukraine, mehr noch als zuvor, aufgefordert, zu gemeinsamen strategischen Handlungsperspektiven zu gelangen und das „window of opportunity“ nicht zu verspielen:

  1. Kurzfristig muss eine gemeinsame Priorität darin bestehen, die weitere Demokratisierung der Ukraine mit Blick auf eine erfolgreiche Durchführung der ukrainischen Parlamentswahl 2006 zu unterstützen.

  2. Deutschland und Polen sollten ihre Anstrengungen darauf richten, dass der zwischen der EU und der Ukraine ausgehandelte Aktionsplan zügig in die Tat umgesetzt wird.

  3. Sinnvoll ist der gemeinsame Einsatz für die Perspektive eines Assoziierungsvertrages nach Auslaufen des derzeitigen Partnerschafts- und Kooperationsabkommens 2008. Über Formen und Inhalte eines solchen Abkommens muss frühzeitig nachgedacht werden.

  4. Die Frage, ob der Ukraine eine Mitgliedschaftsperspektive eingeräumt werden soll, kann gegenwärtig nicht abschließend geklärt werden. Zwar ist ein klares Ja in der EU momentan nicht konsensfähig, gleichzeitig sollte aber vermieden werden, der Ukraine ein definitives Nein zu signalisieren, da dies die Reformkräfte in Kiew schwächen würde. Über die Beitrittsperspektiven der Ukraine kann erst dann ernsthaft diskutiert werden, wenn die EU hierfür „reif“ ist und wenn die Ukraine ihren Reformverpflichtungen nachkommt.

  5. Deutschland und Polen sollten innerhalb der EU andere Mitgliedsländer für die „östliche Dimension“ der EU sensibilisieren und für eine enge Heranführung der Ukraine an die EU mobilisieren.

  6. Grundsätzlich sollte die europäische Ukrainepolitik aus deutsch-polnischer Perspektive nicht in Abhängigkeit einer EU-Russlandpolitik verhandelt werden. Gleichzeitig sollte die Einbeziehung Russlands in die Europäische Nachbarschaftspolitik im Sinne der Herausbildung einer regionalen Agenda an der östlichen Peripherie verfolgt werden.

  7. Deutschland und Polen sollten sich um eine möglichst enge Heranführung der Ukraine an die NATO bemühen. Ein Schritt wäre eine Intensivierung der Bemühungen einer weiteren Umsetzung des NATO-Ukraine-Aktionsplans.

  8. Neben dem Engagement der EU im Rahmen der Nachbarschaftspolitik werden auch zukünftig bilaterale Hilfestellungen zur Stützung des Transformationsprozesses der Ukraine Bedeutung haben. Daher wäre eine Bündelung deutscher und polnischer Initiativen sinnvoll.

  9. Neben Hilfen für Demokratisierung und Zivilgesellschaft sollten sich deutsche und polnische Aktivitäten insbesondere auf den Bereich der Wirtschaftsreform und die Innere Sicherheit konzentrieren. Der Marktwirtschaftsstatus und ein baldiger Beitritt zur WTO wären sowohl wichtige Voraussetzungen als auch erste Erfolge der Ukraine auf ihrem Weg nach Europa.

  10. Deutschland und Polen sollten konkrete Überlegungen anstellen, wie die Zusammenarbeit mit der Ukraine auf dem Gebiet Inneres und Justiz vertieft werden kann. Langfristig wird es darum gehen, eine Balance zwischen den legitimen Sicherheitsinteressen der EU-Mitgliedstaaten, den Erfordernissen des Schengen-Acquis und dem Gebot der freundlichen und kontrollierten Durchlässigkeit der EU-Außengrenzen zu finden.

  11. Die NGO-Zusammenarbeit und die Förderprogramme für Wissenschaftsaustausch und Stipendien, die früher schon im Verhältnis zu den heutigen ostmitteleuropäischen EU-Mitgliedern indirekt und erfolgreich die Integration mit der EU vorbereitet haben und die Polen seit 1990 gegenüber der Ukraine in beachtlichem Umfang entwickelt hat, sollten fortgesetzt und intensiviert werden.

Die gemeinsame Aufgabe weiterer Bemühungen für die demokratische Stabilisierung der Ukraine und ihre Annäherung an die EU kann nicht zuletzt einen weithin gewünschten positiven Impuls in den deutsch-polnischen Beziehungen darstellen und beweisen, dass Deutschland und Polen in der Lage sind, gemeinsam und erfolgreich die Ostpolitik der EU zu gestalten.

Das Projekt „Kopernikus-Gruppe“ wird von der Robert Bosch Stiftung gefördert.