Kopernikus-Gruppe

Mitteilung über die 3. Sitzung der
Kopernikus-Gruppe

Am 12. und 13. Juni 2001 traf in Stettin auf Einladung des Deutschen Polen-Instituts Darmstadt und des Deutschland - und Nordeuropainstituts Stettin die aus deutschen und polnischen Experten bestehende „Kopernikus-Gruppe” zu ihrer dritten Sitzung zusammen. Sie beriet an den zwei Tagen über „Die polnischsprachige Gruppe in Deutschland. Probleme der Identität, Interessen und politischen Instrumentalisierung”.
Auf Einladung der Gruppe gaben im ersten Teil der Sitzung MR Ulrich Treeger beim Beauftragten der Bundesregierung für Angelegenheiten der Kultur und der Medien, LR I Andreas Krüger aus dem Ref. 206 des Auswärtigen Amtes, Hubert Wohlan, Leiter der Polenredaktion der Deutschen Welle, und Generalkonsul Jan Turski von der Botschaft der Republik Polen in Berlin ihre eigenen Einschätzungen der Situation. Im zweiten Teil der Sitzung berieten die Teilnehmer intern über das Thema. Das vorliegende Arbeitspapier III der „Kopernikus-Gruppe” faßt die Anregungen der Diskussion und daran anschließende gemeinsame Überlegungen zusammen.

Die nächste Sitzung der „Kopernikus-Gruppe” findet am 30.11./1.12.2001 in Darmstadt statt.

Dr. Dieter Bingen, Darmstadt                                      September 2001
Dr. Kazimierz Wóycicki, Stettin

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Arbeitspapier III der Kopernikus-Gruppe
Zur Frage der Förderung der polnischsprachigen Gruppe in Deutschland

Vorbemerkung
Die Politik der europäischen Einigung, die für das deutsch-polnische Verhältnis mit dem baldigen Beitritt Polens zur EU epochale Bedeutung gewinnt, zwingt zum Umdenken in wesentlichen Bereichen der Beziehungen zwischen Deutschland und Polen. So wie Anfang der 90er Jahre die Quelle gewisser Spannungen und Mißverständnisse in den deutsch-polnischen Beziehungen die Frage der deutschen Minderheit in Polen war, die von einem Teil der polnischen Öffentlichkeit als bevorzugte ethnische Gruppe und als Gefahr für die Zusammengehörigkeit der Gesellschaft im Oppelner Schlesien wahrgenommen wurde, so griffen in der letzten Zeit die nationalen Kreise in Polen immer öfter das Thema der angeblich immer noch nicht abgeschlossenen Frage der „polnischen Minderheit” in Deutschland auf. Nicht nur, daß man den deutschen Behörden vorwarf, sie verweigerten unter verschiedenen Vorwänden den in Deutschland lebenden Polen die ihnen nach dem deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag von 1991 zustehenden Rechte, man forderte sogar - in radikaler Weise - erneute Verhandlungen zu diesem Vertrag, der angeblich die Gleichstellung bei der Behandlung der Polen in Deutschland und der Deutschen in Polen nicht garantierte.

Den Streit um die „polnische Minderheit” in Deutschland könnte man als nebensächlich betrachten, da er sich auf ziemlich enge nationale Kreise in Polen beschränkt und das kritische Maß, das ein Engagement von Politikern erfordern würde, nicht überschreitet. Dennoch beinhaltet er immer noch ein destruktives Potential, nicht nur deshalb, weil er eine emotional stark belastete Frage betrifft, sondern auch, weil die Angelegenheiten der Nation, der Identifikation und der Rechte der Einwanderer in Deutschland sehr aktuell sind - wenn man sich nur an die Diskussionen zum Thema der Einwanderungspolitik, der doppelten Staatsbürgerschaft, der deutschen Leitkultur oder der Integration der Ausländer wie auch der multikulturellen Gesellschaft erinnert. 

In Anbetracht des baldigen Beitritts Polens in die EU sowie der Perspektive einer noch lebhafteren deutsch-polnischen Symbiose sind wir der Meinung, daß man der Frage der polnischsprachigen Gruppe in Deutschland und der deutschen Minderheit in Polen mehr Aufmerksamkeit schenken sollte. Aber gleichzeitig sollte man sie von anachronistischen Belastungen und der ideologischen Wahrnehmung ihrer Existenz befreien; müssen sich Deutsche und Polen doch auf eine Situation vorbereiten, in der es sicher keine große, in beiden Ländern als bedrohlich empfundene „Völkerwanderung” zwischen Deutschland und Polen geben wird, aber natürlich Polen, die sich in Deutschland ansiedeln werden, und Deutsche, die sich in Polen ansiedeln werden.

Bestandsaufnahme

In Deutschland wohnen ca. 1,5 Mio. polnischsprachige Menschen - in dem deutsch-polnischen Partnerschaftsvertrag vom 17. Juni 1991 bezeichnet als „Personen deutscher Staatsangehörigkeit in der Bundesrepublik Deutschland, die polnischer Abstammung sind oder sich zur polnischen Sprache, Kultur und Tradition bekennen” (Art. 20). Diese Menschen könnten und sollten eine wichtige Mittler- und Brückenrolle in dem deutsch-polnischen Dialog spielen. Leider ist es nicht so, und dies ist eine der im letzten Jahrzehnt ungenutzten Chancen. Dieser Zustand, der keine Seite zufrieden stellen kann, wird von mehren Faktoren bestimmt. 

Sowohl die polnische als auch die deutsche Seite hat ein falsches Bild von der polnischsprachigen Gruppe und pflegt allzu oft eine falsche, von Stereotypen aus der Vergangenheit beherrschte, Vorstellung von deren Geschichte. Es stimmt, daß die polnische Migration in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts begann und bedeutende polnische Zentren im Ausland entstanden. Bringen wir die grundlegenden Tatsachen in Erinnerung. Anfang des 20. Jahrhunderts stabilisierte sich die Situation der polnischen Gemeinschaft im Ruhrgebiet, die zum großen Teil aus Untertanen aus dem preußischen Teilungsgebiet Polens bestand. Sie erlebte einen gesellschaftlichen Aufstieg, und allmählich entwickelte sich ein Mittelstand. Nach dem Ersten Weltkrieg gewannen die Polen in Deutschland den Status einer nationalen Minderheit, wenn auch viele Menschen nach dem Wiedererlangen der Unabhängigkeit nach Polen zurückkehrten oder nach Belgien und Frankreich emigrierten. Ende der 30er Jahre begann die systematische Verfolgung der Polen in Deutschland. Die Mehrzahl der Polen, die sich nach 1945 in Deutschland befand (KZ-Häftlinge, Zwangsarbeiter, Soldaten der Exil-Armee), verließ das Land. Die Geschichte der alten „Polonia” endete, von kleineren Gruppen abgesehen, mit dem Zweiten Weltkrieg. Dazu trug auch die Verschiebung der deutsch-polnischen Grenze nach Westen bei, da traditionelle deutsch-polnische Grenzregionen sich nunmehr ganz im polnischen Staatsgebiet befanden. 

Nach 1956, dem Beginn einer gewissen Liberalisierung in Polen, kam es zu einer ganz neuen Entwicklung. Die in Polen verbliebene deutsche Minderheit, Schlesier, polnische Juden, polnische politische Flüchtlinge (Asylanten) etc. emigrierten aus Polen in die Bundesrepublik Deutschland. Eben diese Ankömmlinge bilden den Kern der Polnischsprachigen in Deutschland. Die heutige Gruppe der polnischsprachigen Personen in Deutschland ist im wesentlichen keine Fortsetzung der „alten Polonia”, sondern vor allem eine heterogene Gruppe von Zuwanderern, die seit 1956, insbesondere von den 70er Jahren bis zur großen Wende 1989/90 vor allem in die damalige Bundesrepublik Deutschland kamen. 

Auf der polnischen Seite herrscht dagegen die Tendenz, über die Polen und „Polonia” im Sinne einer ethnischen Volksgruppe zu sprechen und sich auf die Tradition der polnischen Migration ins Ruhrgebiet zur Jahrhundertwende zu berufen. Diese Einstellung ist offenbar falsch. Die reiche Tradition, auch wenn man ihre symbolische Bedeutung zu schätzen weiß, findet keine ins Gewicht fallende Fortsetzung. Die Zahl der in Deutschland ständig lebenden Polen mit polnischer Staatsangehörigkeit ist relativ niedrig (höchstens 200-300 Tsd.). Würde das Problem nur sie betreffen, wäre es unvergleichlich begrenzter, als wenn man an die viel breitere polnischsprachige Gruppe denkt. 

Leider operieren manche, oft recht nationalistisch orientierte, Aktivisten polnischer Organisationen mit der Zahl von 1,5 Mio. und versuchen, indem sie sich auf die Tradition berufen, eine Konfrontation mit der deutschen Seite zu provozieren. Die Vorstellungen aus diesen Kreisen, die nach einer Revision des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrags vom 17. Juni 1991 und der Anerkennung als nationale Minderheit verlangen, führen in die Irre. Einen Teil der Aktivisten der nicht so zahlreichen und schwächelnden typischen „Polonia” - Organisationen muß man leider als Nationalisten charakterisieren, die weder den Geist des gegenwärtigen deutsch-polnischen Dialogs verstehen noch im Geist der Versöhnung und der Integration des polnischsprachigen Milieus zu handeln im Stande sind. Besonders beschämend ist der Antisemitismus mancher Aktivisten. Diese Situation läßt sich mit der Tatsache erklären, daß in Polen Politiker und politische Formationen mit nationalistischem Einschlag quasi das Monopol in Fragen der „Polonia” besitzen. 

In den 90er Jahren wurden von deutscher Seite Versuche unterstützt, der Gruppe der Polnischsprachigen eine Vertretung und eine Struktur zu geben, die schließlich wegen der inneren Zerstrittenheit der unterschiedlichen Gruppierungen scheiterten, die jeweils für sich in Anspruch nahmen, die „Polonia” in Deutschland zu repräsentieren. Ausschlaggebend für neuerliche Spaltung und Marginalisierung war letztlich ein antiquierter Nationsbegriff der Vertreter dieses „Polentums”. Die Konsequenzen sind für die öffentliche Wahrnehmung der mit der polnischen Kultur und Sprache verbundenen Gruppe in der deutschen Öffentlichkeit verheerend: Keiner der Sprecher ist in der Lage, im deutschen Diskurs über Zuwanderung, Identität und Leitkultur, doppelte Staatsbürgerschaft, deutsche Minderheit, Spätaussiedler etc. Präsenz zu zeigen - Debatten, die für die Situation der polnischsprachigen Gruppe in Deutschland von grundlegender Bedeutung sind. 

Im wesentlichen besteht die Gruppe der 1,5 Mio. Polnischsprachigen aus den über 1 Mio. Personen, die in den 70er und 80er Jahren als Spätaussiedler zugewandert sind, also aus Personen, die sich unabhängig von einem komplizierten Zugehörigkeitsgefühl als Deutsche erklärt haben. Einen sehr wichtigen Teil dieser Gruppe bilden die Oberschlesier. Das sind zwar in ihrer großen Mehrheit nach ihrem Selbstverständnis keine Polen, aber mit Sicherheit Menschen, die mit der polnischen Sprache und Kultur verbunden sind, teilweise sogar Nachkommen der einstigen polnischen Minderheit im Deutschen Reich, die nach dem Zweiten Weltkrieg als Folge polnischer Politik der Zwangsassimilierung zur deutschen Minderheit mutierten. 

Eine Fehleinschätzung der deutschen Seite scheint darin zu bestehen, daß sie in den Spätausiedlern aus Polen ausschließlich Deutsche sieht, ohne ihre sprachliche Kompetenz und Beziehungen zur polnischen Kultur wahrzunehmen. In einem sich integrierenden Europa sollte man die Identität eines Menschen nicht lediglich nach den traditionellen nationalen Trennungslinien kennzeichnen. Die ungemein komplizierte Identität der Oberschlesier ist ein Paradebeispiel dafür. Der Polnischunterricht stößt meistens auf kein entsprechendes Verständnis seitens der Schulbehörden. Als zwecklos haben sich die Versuche erwiesen, Dachorganisationen zu gründen, die eine Verteilung des Fonds für polnischsprachige Kulturtätigkeit erleichtern sollten. Fügen wir hinzu: Dieser Fonds ist unerhört knapp, so daß eine Durchführung von anspruchsvolleren Projekten erst gar nicht möglich wäre. 

Vorschläge

Ziel einer deutsch-polnischen Partnerschaft in Bezug auf die polnischsprachige Gruppe in Deutschland sollte es sein, die komplexe kulturelle Identität dieser Menschen zu bewahren. Natürlich bleibt die Frage der Identitätsfindung eine primär private Angelegenheit. Andererseits ist der Schlüssel zur Wahrung multikultureller Identität die Pflege der Mehrsprachigkeit. Dieses ist ein zentrales Problem des Schulwesens, der Bildungspolitik und somit des Staates. Zwei offene im Integrationsprozeß befindliche Gesellschaften sollten daran interessiert sein, dieses bikulturelle Potential der in Deutschland lebenden polnischsprachigen Menschen zu sichern. 

Personen, die mit der polnischen Kultur verbunden sind, sollte die Möglichkeit gegeben werden, ihre Sprach- und Kulturkompetenz nutzbar zu machen. Diese Gemeinschaft sollte als natürliche Nachbarschaft, als Deutsche betrachtet werden, die etwas Besonderes über die polnischen, bis jetzt so wenig bekannten Nachbarn, zu sagen haben. Dies würde gewiß zum Überwinden von vielen der immer noch spukenden Stereotypen beitragen. 

Ein wichtiger Hintergrund jeder Politik gegenüber der polnischsprachigen Gruppe müßte ein systematisches Erinnern daran sein, daß ein großer Teil der Gesellschaft in manchen Regionen Deutschlands polnischer Abstammung ist. Diese Abstammung sollte Interesse wecken und als ein integraler Teil der Geschichte zweier benachbarten Völker erinnert werden. Es gilt Initiativen zu unterstützen, die sichtbar machen, wie kompliziert das Problem der Abstammung im heutigen Europa ist. Ein durchaus interessantes Beispiel stellt die Idee dar, in Essen ein Museum der Geschichte der mit Polen verbundenen Gruppen in Deutschland einzurichten - eine Idee, die gerade nach dem Erfolg der Ausstellung „Kaczmarek und andere” in mehreren deutschen Städten entstanden ist. Die Ausstellung stieß übrigens auch in Polen auf große Resonanz. 

Den Schlüssel zur Vermittlung der polnischen Kultur könnte ein Programm zum Erlernen der polnischen Sprache darstellen, und zwar für Polnisch als Muttersprache und als Fremdsprache. Bisher gibt es zwei isolierte und begrenzte Experimente in Bremen und Nordrhein-Westfalen. Polnisch sollte aber im deutschen Schulsystem breit und systematisch angeboten werden. Eine größere Zahl von Polnischlehrern würde ein natürliches, die polnische Kultur und die Kontakte mit Polen förderndes Milieu bilden. Die Schule könnte dann ausgebildete Polonisten aufnehmen, die heutzutage oft umsonst Ausschau nach einer Einstellung in Deutschland halten. Der Bedarf an ausgebildeten Polnischlehrern könnte auch ein Impuls zur Belebung der Polonistik-Studien an deutschen Hochschulen sein. Es wird angeregt, daß der polnische Staat mit Unterstützung polnischer und deutscher privater Träger an deutschen Universitäten Lehrstühle für „Polish Studies” stiftet. 

Als notwendig erscheint eine Erhöhung der Mittel zur Finanzierung von Projekten im Bereich der Kulturarbeit der Polnischsprachigen in Deutschland. Dabei muß für eine effektive Verwendung der zur Verfügung gestellten Mittel gesorgt werden. Die Unterstützung gälte für die Vielzahl polnischsprachiger Gruppen, einzelne Wirkungskreise und Regionen. 

Es gilt, der großen polnischsprachigen Gruppe zu helfen, eine aktivere Rolle im deutsch-polnischen Dialog zu spielen. Es zeigt sich, daß sie in ihrem jetzigen Zustand, durch die Fehler der letzten Jahre atomisiert, nicht im Stande ist, sich dahin zu entwickeln. 

Zuletzt sei noch eine Anregung an die Parteien formuliert, Zeichen zu setzen, daß sie die Belange der großen Gruppe der Polnischsprachigen in Deutschland stärker berücksichtigen. So wie in mehreren deutschen Parteien deutsche Türken nicht zuletzt auch als Sprecher der türkischen Mitbürger mit und ohne deutschen Paß ausdrücklich anerkannt werden, so könnte man sich auch vorstellen, daß in den deutschen Parteien polnischsprachige oder „polnischstämmige” Abgeordnete die Präsenz der mit der polnischen Kultur und Sprache verbundenen deutschen Staatsbürger demonstrieren. 

Es sollte ein Anliegen der Politiker sein, die sich um gute deutsch-polnische Beziehungen bemühen, die gegenwärtige Situation richtig einzuschätzen und geeignete Impulse zu geben, damit sich die ca. 1,5 Mio. Personen, die ihre Wurzeln in der deutschen und in der polnischen Kultur haben, für ein besseres Verständnis zwischen den beiden Gesellschaften einsetzen können. Versuchen wir, in den polnischsprachigen Bürgern Deutschlands eines der interessanten Beispiele für Europäer der Zukunft zu sehen, die mehrere Kulturen und Sprachen ihr eigen nennen.

Das Projekt „Kopernikus-Gruppe” wird von der Robert Bosch Stiftung finanziert.